"Ein faires Bild von der komplexen Realität"
Der Bericht des UN-Generalsekretärs über die Ereignisse in Dschenin und anderen plästinensischen Städten - Wortlaut der Kurzfassung
Im Folgenden dokumentieren wir den Bericht des UN-Generalsekretärs über die Folgen der Gewalt während der zwei Monate dauernden Operation "Verteidigungsschild" in einer von den Vereinten Nationen herausgegebenen Kurzfassung. Den vollständigen Text des Berichtes finden Sie im Internet auf der Web-Site der Vereinten Nationen unter http://www.un.org/peace/jenin/index.html . Der Bericht ist datiert vom 1. August 2002.
UNIC/509, 1. August 2002
NEW YORK, 1. August 2002 - Die Vereinten Nationen haben heute den
Bericht des Generalsekretärs über die
Ereignisse in Dschenin und in anderen palästinensischen Städten
veröffentlicht. Der Bericht wurde im Auftrag der
UNO-Generalversammlung (Resolution ES-10/10 vom 7. Mai 2002)
verfasst, nachdem der Generalsekretär eine
Ermittlungsgruppe, die er als Fact-Finding-Mission vor Ort entsenden
wollte, wieder aufgelöst hatte. Der Sicherheitsrat
hatte der Entsendung dieser Gruppe am 19. April 2002 (Resolution
1405) zugestimmt.
Der Bericht wurde daher ohne Besichtigung in Dschenin oder in
anderen palästinensischen Städten abgefasst. Er gründet
sich, wie von der Generalversammlung gefordert, auf „verfügbare
Quellen und Informationen“, darunter auf Eingaben von
sechs Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen und
Beobachtermissionen, auf öffentlich zugängliche Dokumente und auf
Arbeitspapiere von Nichtregierungsorganisationen, die sich mit
zahlreichen Perspektiven der Ereignisse befassen.
Während die Palästinensische Autonomiebehörde Informationen zur
Verfügung stellte, kamen keine Informationen von der
israelischen Regierung. Um ein möglichst umfassendes Bild von den
Ereignissen zu vermitteln, hat der Bericht auf
öffentlich verfügbare Informationen der israelischen Regierung
zurückgegriffen.
Der Bericht erstreckt sich auf den Zeitraum von Anfang März bis zum
7. Mai 2002. Er umreißt die Zusammenhänge und
den Hintergrund der Lage in Israel und in den besetzten
palästinensischen Gebieten und beschreibt die Zuständigkeiten
beider Parteien für Sicherheits-, humanitäre und
Menschenrechtsfragen. Der Bericht zeichnet in geraffter Form die seit
September 2000 zunehmende Gewalt nach, die bis zum 7. Mai 2002 441
Tote auf israelischer und 1.539 Tote auf
palästinensischer Seite forderte.
Vor diesem Hintergrund fand die Operation „Verteidigungsschild“
statt, das in den letzten 10 Jahren extensivste
militärische Vordringen Israels. Als auslösender Faktor dieses
militärischen Einsatzes wird der Terroranschlag vom 27.
März in Netanya genannt, bei dem 28 Personen getötet und 140
verletzt wurden. Die Operation begann am 29. März mit
dem militärischen Einfall in Ramallah, gefolgt vom Eindringen des
Militärs in Tulkarm und Qalqilya am 1. April, in
Bethlehem am 2. April und in Dschenin und Nablus am 3. April. Ab 3.
April waren sechs der größten Städte im
Westjordanland und deren umliegende Dörfer und Flüchtlingslager
durch das israelische Militär besetzt worden.
Die Israelischen Verteidigungskräfte (IDF) kündigten am 21. April
das offizielle Ende der Operation „Verteidigungsschild“
an, aber die Folgen dieses Einsatzes waren noch länger spürbar. Ein
Großteil der Kämpfe fand in dicht bevölkerten
Zivilgebieten statt, vor allem da die von den IDF-Einheiten
gesuchten bewaffneten palästinensischen Gruppen ihre
Kombattanten und Einrichtungen unter der Zivilbevölkerung
unterbrachten. In vielen Fällen wurde schweres Gerät
eingesetzt. Dadurch wurde besonders die Stadtbevölkerung schwer in
Mitleidenschaft gezogen.
Der Bericht hebt im Einzelnen folgende wesentlichen Elemente der
Ereignisse hervor:
Terroranschläge aus palästinensischen Städten
Der Bericht geht auf Klagen der israelischen Regierung ein, wonach
eine Reihe von Städten als Basis für bewaffnete
Gruppen gedient haben, die Terroranschläge gegen Israel
durchführten. So erhob Israel etwa die Beschuldigung, dass
zwischen Oktober 2000 und April 2002 vom Lager Dschenin aus
insgesamt 28 Selbstmordanschläge geplant und
durchgeführt worden seien. Nach dem Einfall in das Lager haben die
Israelischen Verteidigungskräfte dort gefundene
Dokumente, sowie Einzelheiten über Waffenlager und
Sprengstofflaboratorien veröffentlicht.
Verhalten militanter Palästinenser während der militärischen
Einfälle
Der Bericht weist darauf hin, dass bewaffnete palästinensische
Gruppen zahlreiche Häuser der Zivilbevölkerung mit
Sprengfallen versehen haben sollen, die zwar in erster Linie gegen
das israelische Militär gerichtet gewesen seien, aber
auch die Zivilbevölkerung in Gefahr gebracht hätten. Er zitiert auch
die Palästinensische Autonomiebehörde, die
einräumte, dass sich eine Reihe von palästinensischen Kämpfern dem
militärischen Angriff Israels widersetzt haben.
Verhalten der Israelischen Verteidigungskräfte während der
militärischen Einfälle
Der Bericht nimmt auch Bezug auf Angaben der Palästinensischen
Autonomiebehörde und einiger
Menschenrechtsorganisationen, wonach die IDF im Zuge ihrer
Operationen illegal Menschen getötet, Menschen als
Schutzschilder misshandelt, unverhältnismäßig hohe Gewalt
angewendet, willkürliche Verhaftungen und Folterungen
vorgenommen und die ärztliche Versorgung von Verletzten unterbunden
haben sollen. Dazu führte der Bericht folgende
Beispiele an:
Todesopfer:
Im Zuge der Wiederbesetzung palästinensischer
Gebiete wurden in der Zeit zwischen 1. März und 7.
Mai, sowie in den Tagen unmittelbar danach 497 Palästinenser
getötet und 1.447 verwundet. Nach den meisten
Schätzungen wurden 70 bis 80 Palästinenser, darunter rund 50
Zivilpersonen, in Nablus getötet. Die Israelischen
Verteidigungskräfte verloren dort vier Soldaten. Im Lager
Dschenin gab es zum Zeitpunkt des Abzuges der IDF und
der Aufhebung der Ausgangssperre am 18. April zumindest 52 tote
Palästinenser - darunter rund die Hälfte
Zivilpersonen - und 23 tote israelische Soldaten. Angaben der
Palästinensischen Autonomiebehörde Mitte April,
wonach mehr als 500 Personen im Lager Dschenin getötet worden
sein sollen, ließen sich nachträglich nicht
durch Beweise erhärten.
Willkürliche Verhaftungen und Festnahmen:
Bis 6. Mai sollen
mutmaßlich 7.000 Palästinenser im Verlauf der
Operation „Verteidigungsschild“ verhaftet worden seien.
Zahlreiche Häftlinge seien längere Zeit und mit so gut wie
keinem Kontakt nach außen festgehalten worden. Sehr häufig
sollen die IDF über Lautsprecher alle männlichen
Personen im Alter zwischen 15 und 45 Jahren aufgefordert haben,
sich zu stellen. Nach Angaben von
Menschenrechtsorganisationen wurde eine große Anzahl der
verhafteten Männer mit Augenbinden versehen und
mit Handschellen gefesselt; sie erhielten keine Erlaubnis zur
Benützung einer Toilette und erhielten am ersten Tag
ihrer Haft weder Nahrung noch Decken.
Menschliche Schutzschilder:
In zahlreichen Berichten wird
darauf verwiesen, dass die IDF palästinensische
Zivilpersonen zwangen, sie bei ihren Hausdurchsuchungen und bei
der Kontrolle verdächtiger Personen zu
begleiten, im Schussfeld zu stehen oder Soldaten auf andere
Weise vor Gefahren zu schützen. Zeugen
behaupten, dieses Vorgehen im Lager Dschenin und in anderen
palästinensischen Städten beobachtet zu haben.
Die israelische Regierung hat zwar den Vorwurf zurückgewiesen,
dass Angehörige des Militärs diese Praxis
systematisch verfolgten, aber am 5. Mai einen eindeutigen
Befehl erteilt, der es „Einheiten im Einsatz strikt
untersagt, Zivilpersonen als 'lebende Schilder' zu verwenden“.
Unverhältnismäßige und wahllose Zerstörungen:
Die Operation
„Verteidigungsschild“ hat zur weitreichenden
Zerstörung von privatem und öffentlichem palästinensischen
Eigentum geführt. Nach Berichten sollen die IDF
Bulldozer, Panzer und Granatwerfer sowie einige Male auch
Kampfhubschrauber in Wohngebieten eingesetzt
haben. Dabei sollen mehr als 2.800 Flüchtlingswohnungen schwer
beschädigt und 878 Wohnhäuser gänzlich
zerstört worden sein. Mehr als 17.000 Menschen wurden dadurch
obdachlos oder mussten Nothilfe zur
Wiederherstellung ihrer Unterkünfte in Anspruch nehmen.
Besonders schwere Sachschäden wurden in Nablus
angerichtet, vor allem in der Altstadt, in der viele Gebäude
von hoher kultureller, religiöser oder geschichtlicher
Bedeutung stehen.
Vernichtung von Zivileigentum der Palästinensischen
Autonomiebehörde:
Hilfswerke der Vereinten
Nationen und andere internationale Organisationen haben bei
ihren Besuchen in Ramallah und in anderen
palästinensischen Städten, sobald diese wieder erlaubt waren,
extensive Schäden an Zivileigentum der
Palästinensischen Autonomiebehörde dokumentiert. So wurden
Bürogeräte wie Computer und
Fotokopiermaschinen, die offensichtlich keinen militärischen
Zwecken dienten, zerstört. Die IDF leugneten zwar,
dass solche Schäden systematisch angerichtet wurden, räumten
aber ein, dass es einige Fälle von Vandalismus
gegeben habe. Entsprechende Verfahren seien eingeleitet worden.
Ausgangssperren und Abriegelungen:
Ausgangssperren rund um die
Uhr wurden in Städten, Flüchtlingslagern
und Dörfern verhängt. Davon waren rund eine Million Menschen
betroffen. 220.000 Stadtbewohner mussten
Ausgangssperren von über einer Woche Dauer erdulden, ohne
lebenswichtige Vorräte einkaufen oder ärztliche
Versorgung in Anspruch nehmen zu können. Die von den IDF in
Nablus am 3. April verhängte Ausgangssperre
wurde erst am 22. April zur Gänze wieder aufgehoben.
Verweigerung humanitärer Hilfe:
Während und unmittelbar nach
den militärischen Einfällen hat die
Zivilbevölkerung, so der Bericht, lange Verzögerungen bei der
ärztlichen Versorgung der Verwundeten und Kranken
hinnehmen müssen. Vor allem in Dschenin verhandelten die
Vereinten Nationen und andere humanitäre
Organisationen vom 11. bis 15. April mit den IDF über den
Zugang zum Lager. Wiederholt wurden Versuche
unternommen, Versorgungskonvois in die Lager zu schicken, aber
alle Anstrengungen schlugen fehl. Zahlreiche
Berichte der Menschenrechtsgruppen weisen nach, dass
verwunderte Zivilpersonen oft Tage auf ärztliche Hilfe
warten mussten, während IDF-Soldaten jegliche Behandlung der
Verwundeten und Kranken verweigerten. Eine
Reihe von Menschen starben, da die ärztliche Versorgung zu spät
kam.
Angriffe auf Krankenwagen:
Der Bericht zitiert drei konkrete
Vorfälle, bei denen israelische Soldaten
Krankenwagen beschossen haben. Am 4. März (vor dem Einfall in
Dschenin) wurde der Leiter des Notdienstes der
Palästinensischen Gesellschaft vom Roten Halbmond in Dschenin
von einer Granate getötet, die von einem
israelischen Panzer auf den eindeutig gekennzeichneten
Ambulanzwagen abgefeuert wurde. Am 7. März wurde
ein Mitarbeiter des UNO-Hilfswerks für Palästinaflüchtlinge im
Nahen Osten (UNRWA) durch einen Schuss
getötet, während er mit einem Krankenwagen des Hilfswerks in
der Nähe von Tulkram im Westjordanland
unterwegs war. Und am 8. April wurde neuerlich das Feuer auf
einen Krankenwagen der UNRWA eröffnet, als
dieser versuchte, einem verwundeten Mann in Dschenin zu Hilfe
zu kommen. Die israelische Regierung
behauptete, dass die Ambulanzwagen für den Transport von
Terroristen und Waffen verwendet worden seien.
Israelische Todesopfer vom 1. März - 7. Mai
Nach Angaben des israelischen Außenministeriums haben die IDF
während der Operation „Verteidigungsschild“ 30
Soldaten verloren. Israel erlitt von Anfang März bis 7. Mai 16
terroristische Bombenanschläge, zum größten Teil
Selbstmordattentate. Dabei wurden über 100 Personen getötet und
wesentlich mehr verletzt.
Die Auswirkungen insgesamt
Die Zivilbevölkerung in den besetzten palästinensischen Gebieten
muss weiterhin schwere Härtefälle erdulden, die sich
zum Teil seit den geschilderten Ereignissen noch weiter verschärft
haben. So gut wie die gesamte Produktionstätigkeit
ist in den wichtigsten Fabriken, Baustellen, Handelsbetrieben und
öffentlichen wie privaten Dienstleistungseinrichtungen
im Westjordanland zum Stillstand gekommen. Der drastische
rückläufige Lebensstandard in diesen Gebieten während
der letzten 18 Monate wurde dadurch noch schlechter. Die Vereinten
Nationen haben kein Mandat, um die Verhältnisse
in Israel zu überwachen und darüber Bericht zu erstatten, wie dies
etwas in den besetzen palästinensischen Gebieten
der Fall ist. Daher liegen der Weltorganisation keine eingehenderen
Informationen über weitreichende Auswirkungen der
Ereignisse auf die Gesellschaft und Wirtschaft Israels vor. Aber es
muss davon ausgegangen werden, dass auch die
israelische Bevölkerung in dieser Zeit als Folge des Terrorismus
großes Leid ertragen musste und dass auch die
israelische Wirtschaft großen Schaden genommen hat.
Abschließend betont der Bericht, dass eine vollständige und
umfassende Darstellung der Ereignisse in Dschenin und in
den anderen palästinensischen Städten ohne die volle Zusammenarbeit
beider Parteien und ohne einen Besuch vor Ort
nicht möglich war. Der Generalsekretär zeigte sich jedoch überzeugt,
dass „der Bericht ein faires Bild von der komplexen
Realität gemalt hat“ und dass die geschilderten Ereignisse
verdeutlichten, wie dringend die Parteien zum
Friedensprozess zurückkehren müssen.
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