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Der neue Geist aus der Flasche

Arabisches Erwachen - nicht Bush verdankt sich das Verlangen nach Demokratie

Von Heinz-Dieter Winter*

Ein Beobachter des Geschehens in der arabischen Welt sprach kürzlich in Anlehnung an den Titel des 1938 erschienen Werkes des britischen Historikers George Antonius über den Unabhängigkeitskampf der Araber von einem neuen »Arabischen Erwachen«. Von Politikern und Kommentatoren wird in den letzten Wochen der Eindruck verbreitet, dass im Nahen und Mittleren Osten eine neue Ära beginne. Die libanesische »Daily Mail« meinte, dass nach »Dekaden der Dürre nun Demokratie zu regnen scheint«. Dabei wird auf die Wahlen in Palästina und Irak sowie die Kommunalwahlen in Saudi-Arabien verwiesen.

Auch die Demonstrationen gegen Syriens Präsenz in Libanon werden genannt. Ein ägyptischer Beobachter urteilte nach Ankündigung einer Verfassungsänderung durch Präsident Moubarak, um bei den nächsten Präsidentschaftswahlen mehrere Kandidaten zuzulassen, dass der »Geist der Demokratie aus der Flasche« sei. Diese Urteile mögen allzu optimistisch erscheinen. Wunsch und Hoffnung, eine außerordentlich schwierige Gesamtlage in der arabischen Welt, die durch den USA-Krieg gegen Irak noch verschärft wurde, schnell zu überwinden, sind in vieler Hinsicht Vater der Gedanken. Wohl aber könnte die arabische Welt in eine sich mit zunehmender Dynamik entwickelnde Phase des Umbruchs eingetreten sein. Die Situation von mehr als 230 Millionen Menschen, von denen zwei Drittel jünger als 30 Jahre sind, schreit nach Veränderungen. Die in den letzten Jahren von arabischen Wissenschaftlern im Auftrag des UNO-Entwicklungsprogramms UNDP verfassten Berichte (Arab Human Development Report, AHDR) zeigen einen deplorablen ökonomischen und sozialen Zustand der arabischen Welt. Das Bruttoinlandprodukt aller 22 arabischen Staaten betrug 1999 weniger als das eines einzigen europäischen Staates, nämlich Spaniens. Im Jahre 1981 produzierte China halb so viel wie die gesamte arabische Welt, 1987 genau so viel, im Jahre 2004 doppelt so viel. Das zeugt natürlich vom dynamischen Wirtschaftswachstum Chinas, macht aber auch die Entwicklungsblockade der arabischen Welt sichtbar. Für die zunehmende Rückständigkeit machen die Autoren der Berichte in hohem Maße den miserablen Zustand im Bildungs- und Erziehungswesen verantwortlich. Die Ausgaben dafür sind geringer als in anderen Regionen der Welt und seit den 70er Jahren ständig zurückgegangen. Für das Bildungswesen werden im Durchschnitt nur 0,2 Prozent des Staatshaushaltes ausgegeben, sechs Prozent aber für Rüstungen und Militär.

Es gibt ca. 70 Millionen Analphabeten in der arabischen Welt. 46,5 Prozent der arabischen Frauen können nicht lesen und schreiben. Etwa ein Viertel der Universitätsabsolventen emigriert jedes Jahr. Die Ursachen für diese Situation sehen die Autoren der Berichte in der gesellschaftlichen Situation in den arabischen Ländern und in den für die Entwicklungsländer negativen Auswirkungen der Globalisierung. Ihre Schlussfolgerung: »Es ist nicht länger möglich, die Errichtung des pluralistischen, demokratischen Staates in unserer arabischen Welt zu verschieben.« Davon ausgehend formulierte der am 5. April in Amman für das Jahr 2004 veröffentlichte AHDR (vgl. ND v. 6. April, S. 2) eine Reihe zentraler Reformforderungen, die die völlige Respektierung der wichtigsten Freiheiten, wie Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit sowie die Abschaffung der in einigen arabischen Ländern seit Jahrzehnte währenden Ausnahmezustände beinhaltet. Ende März hatte ein Kommentator der »International Herald Tribune« geschrieben, dass zu der traditionellen sozialen Spannung zwischen den »haves« und »have nots« nun die Spannung zwischen den »cans« und »cannots«, den sehr wenigen, die die Macht in autoritärer Weise ausüben und der Masse der Menschen, die keinen Anteil daran haben, hinzugekommen sei. So ist es also in erster Linie die Unzufriedenheit mit den Zuständen in arabischen Ländern, die dort die Menschen mit Forderungen nach mehr Demokratie, fairen Wahlen, Pressefreiheit und Einhaltung der Menschenrechte auf die Straßen treibt – und nicht die »Greater Middle East Initiative« des amerikanischen Präsidenten, die (wie in Irak) den Präventivkrieg als Mittel von »Demokratieausbreitung« beinhaltet. Die Demonstrationen auf arabischen Straßen wenden sich auch gegen die Politik der Vereinigten Staaten von Amerika, die in der arabischen Welt so verhasst wie noch nie sind. Eine von den USA aufgezwungene »Demokratisierung« wird entschieden abgelehnt. Dennoch lässt sich nicht leugnen, dass die USA-Forderungen nach »Demokratisierung« bei den herrschenden Regimes Wirkungen hinterlässt. Nun dürfte den Strategen der Washingtoner Mittelostpolitik bewusst sein, dass freie Wahlen in den arabischen Staaten vor allem gesellschaftliche Kräfte an die Macht bringen würde, die ihre politischen Vorstellungen und ihr Demokratieverständnis auf der Grundlage des Islam realisieren wollen. Eine solche Entwicklung ist im besten Falle auch im Irak zu erwarten. Das würde den Wünschen großer Teile der muslimischen Araber entsprechen, wäre aber wohl nicht im Sinne der USA, sind doch Islamisten erklärte Gegner der USA-Politik. Der ägyptische Präsident, das saudische Königshaus, der jordanische König und die Herrscher in den Golfstaaten sind die besten Verbündeten der USA. Doch jene Kräfte, die sich gegen die autoritären Regime wenden, werden wohl nicht den regionalen Interessen der USA dienstbar sein. Den USA liegt bei allem Gerede von »change« sehr wohl »stability« der mit ihnen kooperierenden Regimes am Herzen, um ihre Hegemonie im Nahen und Mittleren Osten zu sichern. Dabei geht es vor allem darum, den ungestörten Zufluss von Erdöl für die Zukunft zu gewährleisten.

Der Anteil importierten Erdöls am Verbrauch der USA wird von 55,7 Prozent im Jahre 2001 bis zum Jahr 2025 auf 71 Prozent anwachsen. Wegen dieser Interessen wird die »Demokratisierung« als ein Art Drohung angewandt, um arabische Regime für die Nahost-Pläne der USA gefügig zu machen, was sich gegenwärtig sehr deutlich in der Ausübung von Druck auf Syrien zeigt. Liberalisierungsmaßnahmen »von oben«, wie die Kommunalwahlen in Saudi-Arabien oder die angekündigte Verfassungsänderung in Ägypten sind genau die Art von »Demokratisierung«, die die USA anstreben. Sie wollen mit solchen Maßnahmen von ihnen nicht mehr zu kontrollierenden Entwicklungen von unten zuvorkommen. So werden die Kommunalwahlen in Saudi-Arabien, an denen Frauen nicht teilnehmen dürfen und die nur 50 Prozent der Abgeordneten betreffen (die anderen werden ernannt), als ein »sich bewegender Berg« bezeichnet. Die vom ägyptischen Präsidenten angekündigte Verfassungsänderung wird als epochales Ereignis gewürdigt. Man erinnere sich jedoch, dass auch der tunesische Präsident Ben Ali mehrmals mit weit über 90 Prozent wiedergewählt wurde. Auch er hatte mehrere Kandidaten zugelassen. Menschenrechtsverletzungen in Tunesien sind kaum ein Thema westlicher Regierungspolitik. Sicher können solche »Demokratisierungen von oben« mitunter mehr sein als nur kosmetische Veränderungen und sind nicht gering zu schätzen. Sie können durchaus Freiräume für wirtschaftlichen Fortschritt und politischen Pluralismus schaffen und eine eigene Dynamik erzeugen. Doch haben die herrschenden Regime der arabischen Welt, denen es in erster Linie um die eigene Stabilität geht, Sicherungen eingebaut, die es ihnen jederzeit ermöglichen – wie schon mehrmals geschehen – zu weit gehende Entwicklungen zu beenden. So ist nicht zu erwarten, dass der von den USA und auch der EU geförderte Reformeifer die Lebenserwartungen jener mehr als 150 Millionen junger Araberinnen und Araber, von denen viele über Internet und Medien die eigene Situation mit der modernen Weltentwicklung vergleichen können, erfüllt. Wenn sie heute mit der Losung »Kefaya!« (Genug) auf den Straßen demonstrieren, so erwarten sie mehr. Sie haben genug von überlebten autoritären Regimes und erwarten einen echten demokratischen Wandel und wirkliche politische Mitbestimmung. Sie haben auch genug von Einmischungen und Kriegen der USA auf arabischen Territorien. Und sie haben genug von der Besetzung palästinensischer Territorien und der einseitigen Unterstützung der USA für Israel. Die aufdringlichen Bemühungen der USA um »Demokratisierung« in der arabischen Welt könnten durchaus zu Veränderungen beitragen, jedoch nicht in deren Sinne. Der Nahe und Mittlere Osten verändert sich, Erschütterungen und Gewalt sind nicht ausgeschlossen.

* Der Beitrag erschien in: Neues Deutschland, 9./10. april 2005

Quelle: Homepage des Verbands für Internationale Politik und Völkerrecht e.V.: www.vip-ev.de



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