Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Nahost-Konflikt: Die Aufsehen erregende Erklärung von US-Präsident Bush im Wortlaut ...

... und erste Reaktionen darauf

Am 4. April 2002 reagierte US-Präsident Bush auf die Eskalation des israelisch-palästinenischen Kriegs mit einer öffentlichen Erklärung. Darin wird - deutlicher als je zuvor - die israelische Regierung zum Rückzug aus den besetzten Gebieten aufgefordert. Wir dokumentieren im Folgenden die Erklärung im vollen Wortlaut (in der von der US-Botschaft in Berlin autorisierten deutschen Übersetzung) und fügen erste Kommentare hierzu an. Unter den Kommentaren verdient der von Hans Lebrecht besonders hervorgehoben zu werden, da er die Reaktionen der Bush-Botschaft im israelischen und arabischen Friedenslager beschreibt. Hans Lebrecht (Israel) ist unseren Hompage-Besuchern als regelmäßiger Kommentator der Ereignisse im Nahen Osten bereits bekannt.


Erklärung von Präsident George W. Bush im Weißen Haus vom 4. April 2002.

Guten Morgen. Im Verlauf von einer Woche hat sich die Situation im Nahen Osten dramatisch verschlechtert. Am Mittwoch berichtete mir mein Sondergesandter Anthony Zinni, dass wir unmittelbar vor einem Waffenstillstandsabkommen stehen, das palästinensische und israelische Menschenleben gerettet hätte.

Diese Hoffnung wurde zunichte gemacht, als Terroristen eine Gruppe unschuldiger Menschen in einem Hotel in Netanya angriffen und viele Männer und Frauen töteten. Der Terror fordert einen immer höheren Tribut.

In den inzwischen vergangenen Tagen hat die Welt mit wachsender Besorgnis den Horror der Bombenanschläge und Beerdigungen sowie das erschreckende Bild von Panzern auf den Straßen beobachtet. Auf der ganzen Welt trauern die Menschen um die Israelis und Palästinenser, die ihr Leben verloren haben.

Wenn ein 18-jähriges palästinensisches Mädchen überredet wird, sich selbst in die Luft zu sprengen und dabei ein 17-jähriges israelisches Mädchen tötet, stirbt selbst die Zukunft - die Zukunft des palästinensischen Volks und die Zukunft des israelischen Volks. Wir beklagen die Toten, und wir beklagen den Schaden, den die Hoffnung auf Frieden erlitten hat, die Hoffnung Israels und der Israelis auf einen jüdischen Staat im Frieden mit seinen Nachbarn, die Hoffnung des palästinensischen Volks, seinen eigenen unabhängigen Staat aufzubauen.

Der Terror muss beendet werden. Keine Nation kann mit Terroristen verhandeln. Denn es gibt keinem Weg zu Frieden mit denjenigen, deren einziges Ziel der Tod ist.

Dies könnte ein hoffnungsvoller Moment im Nahen Osten sein. Der von der Arabischen Liga unterstützte Vorschlag von Kronprinz Abdullah von Saudi-Arabien hat eine Reihe von Ländern in der arabischen Welt der Anerkennung des israelischen Existenzrechts näher als je zuvor gebracht. Die Vereinigten Staaten haben ihre Unterstützung des legitimen Strebens der Palästinenser nach einem palästinensischen Staat erklärt.

Israel hat das Ziel eines palästinensischen Staates anerkannt. Die Bedingungen für eine gerechte Lösung sind klar: zwei Staaten, Israel und Palästina, die Seite an Seite in Frieden und Sicherheit leben.

Dies kann eine Zeit für Hoffnung sein. Aber sie braucht Führungsstärke, nicht Terror. Folgende Botschaft habe ich seit dem 11. September übermittelt: Jeder muss eine Entscheidung treffen; entweder ist er auf der Seite der zivilisierten Welt, oder er ist auf der Seite der Terroristen. Alle im Nahen Osten müssen sich entscheiden und entschlossen mit Worten und Taten gegen Terrorakte vorgehen.

Der Vorsitzende der Palästinensischen Autonomiebehörde hat sich nicht konsequent gegen die Terroristen gestellt oder sich mit ihnen auseinander gesetzt. In Oslo und andernorts hat Palästinenserführer Arafat dem Terror als einem Instrument für seine Sache abgeschworen und zugestimmt, ihn zu kontrollieren. Das hat er nicht getan.

Die Lage, in der er sich heute befindet, hat er im wesentlichen sich selbst zuzuschreiben. Er hat seine Chancen verpasst und dadurch die Hoffnungen der Völker enttäuscht, die er führen soll. Angesichts seines Scheiterns hat die israelische Regierung das Gefühl, dass sie die Terrornetze angreifen muss, die ihre Bürger töten.

Dennoch muss Israel verstehen, dass seine Reaktion auf diese jüngsten Anschläge nur eine temporäre Maßnahme sind. Alle Parteien haben Verantwortung. Und alle Parteien schulden es ihrem Volk zu handeln.

Wir alle wissen, dass die heutige Situation die Gefahr birgt, langfristige Bitterkeit zu verschlimmern und die Beziehungen zu unterminieren, die für jede Hoffnung auf Frieden entscheidend sind. Ich fordere das palästinensische Volk, die Palästinensische Autonomiebehörde und unsere Freunde in der arabischen Welt auf, den Terroristen gemeinsam mit uns eine klare Botschaft zu übermitteln: Euch selbst in die Luft zu sprengen, hilft der palästinensischen Sache nicht. Im Gegenteil, Selbstmordattentate könnten sehr wohl die beste und einzige Hoffnung auf einen palästinensischen Staat zunichte machen.

Alle Staaten müssen ihr bei einer Abstimmung in den Vereinten Nationen gegebenes Versprechen halten, Terrorismus in allen seinen Formen aktiv entgegenzutreten. Keine Nation kann seine terroristischen Freunde aussuchen und wählen. Ich fordere die Palästinensische Autonomiebehörde und alle Regierungen in der Region auf, alles in ihrer Macht Stehende zur Beendigung der terroristischen Aktivitäten zu tun, die Finanzquellen der Terroristen auszutrocknen und die Anstachelung zu Gewalt durch die Glorifizierung von Gewalt in staatlich kontrollierten Medien oder indem Selbstmordattentäter zu Märtyrern gemacht werden, einzustellen. Sie sind keine Märtyrer. Sie sind Mörder. Und sie unterminieren die Sache des palästinensischen Volks.

Die Regierungen, die wie der Irak die Eltern für die Opfer ihrer Kinder belohnen, sind der Anstiftung zu Mord der schlimmsten Art schuldig. Alle, denen das palästinensische Volk am Herzen liegt, sollten mit uns zusammen Gruppen wie die Al Aksa, Hisbollah, Hamas, der islamische Dschihad und alle Gruppen, die sich dem Friedensprozess entgegenstellen und die Zerstörung von Israel anstreben, verurteilen und gegen sie vorgehen.

Die jüngste Unterstützung der Friedensinitiative von Kronprinz Abdullah durch die Arabische Liga ist vielversprechend und berechtigt zu Hoffnungen, weil sie Israels Existenzrecht anerkennt. Und sie nährt Hoffnungen auf ein andauerndes, konstruktives arabisches Engagement beim Streben nach Frieden. Dies baut auf einer Tradition visionärer Führung auf, angefangen mit Präsident Sadat und König Hussein und fortgesetzt durch Präsident Mubarak und König Abdullah.

Jetzt müssen andere arabische Staaten diese Gelegenheit nutzen und Israel als Nation und als Nachbar akzeptieren. Frieden mit Israel ist der einzige Weg zu Wohlstand und Erfolg für einen neuen palästinensischen Staat. Das palästinensische Volk verdient Frieden und eine Chance auf ein besseres Leben. Sein engster Nachbar, Israel, muss sein Wirtschaftspartner sein, nicht sein tödlicher Feind. Es verdient eine Regierung, die Menschenrechte respektiert und eine Regierung, die sich auf seine Bedürfnisse konzentriert - Bildung und Gesundheitsfürsorge - statt seine Ressentiments zu schüren.

Es ist nicht genug, dass die arabischen Nationen die palästinensische Sache verteidigen. Sie müssen dem palästinensischen Volk wirklich helfen, indem sie Frieden anstreben, den Terror bekämpfen und Entwicklung fördern.

Israel muss selbst harte Entscheidungen treffen. Die Regierung des Landes unterstützt die Schaffung eines palästinensischen Staats, der kein Zufluchtsort für Terroristen ist. Dennoch muss Israel auch anerkennen, dass ein solcher Staat politisch und wirtschaftlich überlebensfähig sein muss.

Im Einklang mit dem Mitchellplan muss der israelische Siedlungsbau in den besetzten Gebieten eingestellt werden. Und die Besetzung muss durch den Rückzug der Truppen in gesicherte und anerkannte Grenzen im Einklang mit den Resolutionen 242 und 338 der Vereinten Nationen beendet werden. Letztlich sollte dieser Ansatz die Grundlage für Abkommen zwischen Israel und Syrien und Israel und Libanon bilden.

Israel sollte auch Respekt zeigen - Respekt und Sorge für die Würde des palästinensischen Volks, das sein Nachbar ist und sein wird. Es ist von entscheidender Bedeutung, zwischen den Terroristen und den normalen Palästinensern zu unterscheiden, die versuchen, für ihre Familien zu sorgen.

Die israelische Regierung sollte an Kontrollpunkten und Grenzübergängen Mitgefühl zeigen und unschuldigen Palästinensern die tägliche Demütigung ersparen. Israel sollte unverzüglich Maßnahmen ergreifen, um die Absperrungen zu lockern und friedlichen Menschen den Weg zu Arbeit zu ermöglichen.

Israel sieht sich mit einer schrecklichen und ernsthaften Herausforderung konfrontiert. Seit sieben Tagen werden Terrornester ausgehoben. Die Vereinigten Staaten erkennen Israels Recht auf Selbstverteidigung gegen den Terror an. Um die Grundlagen für einen zukünftigen Frieden zu schaffen, fordere ich Israel jedoch auf, die Übergriffe auf die palästinensisch kontrollierten Gebiete einzustellen und mit dem Rückzug aus den Städten zu beginnen, die es vor kurzem besetzt hat.

Ich spreche als engagierter Freund Israels. Ich spreche aus der Sorge um seine langfristige Sicherheit, eine mit einem echten Frieden einhergehende Sicherheit. Wenn Israel sich zurückzieht, müssen verantwortungsbewusste palästinensische Politiker und Israels arabische Nachbarn vortreten und der Welt zeigen, dass sie wirklich auf der Seite des Friedens stehen. Die Entscheidung und die Last liegt bei ihnen.

Die Welt erwartet einen unverzüglichen Waffenstillstand und die unverzügliche Wiederaufnahme der Sicherheitszusammenarbeit mit Israel zur Bekämpfung des Terrorismus. Einen unverzüglichen Befehl, Terrornetze zu zerschlagen. Ich erwarte bessere Führung, und ich erwarte Ergebnisse.

Das sind die Elemente des Friedens im Nahen Osten. Und jetzt müssen wir den Weg zu diesen Zielen bauen. Jahrzehnte bitterer Erfahrungen lehren eine deutliche Lektion: Fortschritte sind unmöglich, wenn Nationen ihre Beschwerden in den Vordergrund stellen und ihre Chancen ignorieren. Die Stürme der Gewalt dürfen nicht andauern. Genug ist genug.

Und an diejenigen gewandt, die versuchen, die aktuelle Krise als Chance zur Ausdehnung des Konflikts zu nutzen, sage ich, haltet euch heraus. Die Waffenlieferungen des Iran und seine Unterstützung des Terrors schüren den Konflikt im Nahen Osten. Und das muss aufhören. Syrien hat sich gegen die Al Qaida gestellt. Wir erwarten, dass Syrien auch Schritte gegen die Hamas und die Hisbollah unternehmen wird. Es ist an der Zeit für den Iran, sich auf die Erfüllung des Strebens seines Volkes nach Freiheit zu konzentrieren und für Syrien zu entscheiden, auf welcher Seite es beim Krieg gegen den Terror steht.

Dies ist ein entscheidender Moment für die Welt. Dieser Konflikt kann sich ausweiten oder eine Chance darstellten, die wir ergreifen können. Und deswegen habe ich entschieden, Außenminister Powell nächste Woche in die Region zu entsenden, um breite internationale Unterstützung für die heute von mir umrissene Vision zu gewinnen. Als einen Schritt in diesem Prozesse wird er auf die Umsetzung von Resolution 1402 der Vereinten Nationen hinarbeiten - einen unverzüglichen und bedeutsamen Waffenstillstand, ein Ende von Terror und Gewalt und Anstachelung; den Rückzug der israelischen Truppen aus den palästinensischen Städten, einschließlich Ramallahs; die Umsetzung der bereits vereinbarten Tenet- und Mitchellpläne, die zu einer politischen Lösung führen werden.

Ich habe keine Illusionen. Ich habe keine Illusionen über die Schwierigkeit der vor uns liegenden Probleme. Dennoch ist unser Land fest entschlossen. Die Vereinigten Staaten haben sich zur Beendigung dieses Konflikts und zur Einläutung eines Zeitalters des Friedens verpflichtet.

Wir wissen, dass das möglich ist, weil wir im Laufe unseres Lebens die Beendigung von Konflikten erlebt haben, deren Ende niemand je angenommen hätte. Wir haben gesehen, wie erbitterte Gegner eine lange Geschichte von Konflikt und Wut hinter sich ließen. Selbst Amerika zählt ehemalige Gegner zu vertrauten Freunden: Deutschland und Japan und jetzt Russland.

Konflikte sind nicht unvermeidlich. Misstrauen muss nicht andauern. Frieden ist möglich, wenn wir uns von den alten Mustern und Gewohnheiten des Hasses freimachen. Die Gewalt und das Leid, die das Heilige Land heimgesucht haben, gehören zu den großen Tragödien unserer Zeit. Der Nahe Osten wird bei den politischen und wirtschaftlichen Fortschritten der Welt häufig zurückgelassen. Das ist die Geschichte der Region. Aber es muss und darf nicht ihr Schicksal sein.

Der Nahe Osten könnte eine neue Geschichte von Handel, Entwicklung und Demokratie schreiben. Und wir sind bereit zu helfen. Dieser Prozess kann jedoch nur in einer Atmosphäre des Friedens entstehen. Und die Vereinigten Staaten werden darauf hinarbeiten, dass alle Kinder Abrahams die Vorteile des Friedens kennen lernen.

Vielen Dank.

Originaltext: Bush Sends Powell to Middle East on Peace Mission


ERSTE ISRAELISCHE UND PALÄSTINENEISCHE REAKTIONEN AUF BUSH's REDE
Von Hans Lebrecht


Israels Regierungschef Ariel Scharon hat sich bis zur Stunde des Schreiben dieser Zeilen, 18 Stunden nach der Rede von USA Präsident Bush zur Lage im israelisch-palästinensischen Konflikt noch nicht darüber geäußert. Dagegen hat der Sprecher seines Ministerpräsidentenamtes Genugtuung darüber geäußert, dass Bush den Palästinenserchef Arafat die Schuld an der Misere seines Volkes verantwortlich gemacht hat und Israel das Recht auf Verteidigung gegenüber dem, was er sagte, palästinensischen Terror zugesprochen habe. Insbesondere drückte er darüber Genugtuung aus, dass Busch nicht ausdrücklich einen sofortigen und unbedingten Abzug der israelischen Truppen aus den seit voriger Woche besetzten palästinensischen Städten gefordert habe. Der israelische Generalstabschef Mofas nutzte dies dazu aus, zu erklären, dass die Armee noch mindestens vier Wochen brauche, bis die Ziele der erneuten Besetzung dieser Städte erreicht sein werden.

Während der in Isolierhaft befindliche Arafat sich noch nicht direkt zu der Bushrede geäußert hat, bezeugten Sprecher der PNA Behörde, darunter einige Minister ihre Skeptik gegenüber einer Änderung der Haltung der israelischen Regierung und Besatzerarmee im Anschluss and die Busch Rede und eines Besuchs des USA Außenministers Powell. "Sollte die Scharon Regierung nicht sofort, noch heute, ihre Gewaltoffensive einstellen und sich aus den palästinensischen Städten zurückziehen, wird weder das Palästinenservolk, noch die arabische Welt die Buschrede als einen positiven Schritt betrachten", erklärte der Informationsminister Yasser Abed Rabbo. Ein anderer PNA Minister, Hassan Asfour, fügte dem einen Protest gegen Bushs Angriff gegen Präsident Arafat hinzu. Was Busch über Arafat sagte, indem er die Verantwortung für die israelische Aggression Arafat in die Schuhe schieben wollte, sei eine nicht übersehbare Aufforderung an die Adresse von Israel, den gewählten Palästinenserpräsidenten Arafat umzubringen, oder ihn des Landes zu verweisen, betonte Asfour.

Einstweilen fielen allein bei unter äußerst ungleichen und für die Palästinenser weit unterlegener Bewaffnung geführten Gefechten in dem Flüchtlingslager bei Dschenin am Mittwoch und Donnerstag etwa 70 Palästinenser und vier israelische Armeeangehörige, in Bethlehem 7 Palästinenser und 3 Israelis. ...

Kibbutz Beit-Oren, 5. April 2002


Aus dem Leitartikel der Süddeutschen Zeitung vom 6. April 2002:

Bürgerkrieg Nahost
VON WOLF LEPENIES


Genug ist genug. George Bush hat gesprochen. Amerika meldet sich in Nahost zurück. Der Präsident schickt seinen Außenminister Colin Powell in die Region, um Israel und die Palästinenser zu einem Waffenstillstand zu bringen. Nun muss sich alles, nun wird sich alles wenden. Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac hofft, dass nach Beendigung der Kriegshandlungen bald wieder die Stunde der Diplomatie schlägt. Genau dies steht zu befürchten: die Rückkehr zu einer Politik, die mitverantwortlich ist für das militärische und moralische Desaster, in das der Nahe Osten geraten ist. Wenn jetzt nicht eine Umkehr des politischen Denkens und Handelns einsetzt, wird der Waffenstillstand, auf den alle hoffen, eine Episode bleiben und keinen Frieden bringen.

Natürlich gibt es im Augenblick zum Eingreifen der Amerikaner keine Alternative. In diesem Krieg zwischen einem seit mehr als einem halben Jahrhundert gedemütigten und einem seit Urzeiten von Vernichtung bedrohten Volk kann jetzt nur eine starke Hand die Waffen zum Schweigen bringen. Was aber folgt danach? Die Diplomatie hat ihre Chancen gehabt. In der nächsten Woche reiht Powell sich ein in die große Schar der frequent traveller , die in den letzten Jahrzehnten die Länder des Nahen Ostens zur Hochburg des Polittourismus haben werden lassen. Und so, wie alle Schnappschüsse aus dem Urlaub sich ähneln, ähneln sich auch die Fotos, auf denen sich die Reisenden guten Willens mit den Konfliktpartnern beider Seiten gerne zeigen. Die Unterhändler sammeln Meilen – mehr nicht.

Das Reisen in den Nahen Osten wird zum Ritual. Ein Zweck ist dabei nicht mehr zu erkennen. Amerikaner und Europäer haben sich auf ein beschämendes Spiel eingelassen, das den Namen trägt: „Scharon, wie weit darf ich reisen?“ General Anthony Zinni hat sich durchgesetzt; ihm wurde wenigstens erlaubt, den belagerten Arafat in Ramallah zu besuchen. Javier Solana dagegen half es gar nichts, dass er sich mit dem Titel eines „Hohen Beauftragten für Außen- und Sicherheitspolitik“ schmücken kann. Der Titel war nicht hoch genug, um auch ihm den Weg vorbei an den israelischen Panzern in den Bunker des Palästinenserpräsidenten zu ebnen. Selten wurde die Zweitrangigkeit Europas in der Weltpolitik deutlicher sichtbar als auf dem Bild aus Israel, das Solana und seine Begleiter wie verbitterte Touristen zeigt, die ihre Anschlussmaschine verpasst haben.

...
Die Diplomatie ist eine Errungenschaft der Zivilisation. Sie wirkt in ihrem Kernbereich. An den Rändern verliert sie an Wirkung, und ohne den zivilisatorischen Konsens ist sie hilflos. Das zeigen die Reaktionen auf den 11. September: Selbst der amerikanische Präsident kann nur schwer erklären, was man sich unter dem Krieg gegen den Terror genau vorstellen soll. Angriffe auf Schurkenstaaten anzukündigen ist ein Ausweg. Staaten sind schließlich das bevorzugte Ziel militärischer Auseinandersetzungen und die klassischen Objekte der Diplomatie. Aber gerade der Nahost-Konflikt ist kein Krieg zwischen Staaten oder Nationen. Der Hass ist hier so stark, weil er sich nicht gegen Fremde, sondern gegen Nachbarn richtet. Es ist ein Krieg zwischen den Bewohnern einer Region – ein Bürgerkrieg.

Freilich ist es auch ein Bürgerkrieg, der die Nachbarn unmittelbar berührt. Die amerikanische Politik des Abwartens ist gescheitert. Präsident Bush hat sich jetzt zum Eingreifen entschlossen, weil im Falle des Todes von Jassir Arafat die Wahrscheinlichkeit eines arabischen Angriffs auf Israel nicht mehr auszuschließen wäre.

Was die Region jetzt dringend braucht, ist der erste Schritt auf dem Wege zu einer Politik auf lange Sicht. Ohne einen Verzicht auf die meisten Siedlungen wird ein dauerhafter Friede nicht zu erzielen sein. Gerade weil dies ein Bürgerkrieg ist, haben sich Bürger beider Seiten, Palästinenser wie Israelis, seit Jahren bemüht, auf vernünftige Weise miteinander zu kooperieren. Sie sind weit weniger unterstützt worden, als es nötig gewesen wäre. In das Blickfeld der Diplomaten geraten solche Gruppen kaum. Ohne ihre Initiativen aber wird es keine gesicherte und friedliche Zukunft für Palästinenser und Israelis geben. Der Frieden im Nahen Osten hängt vom Fortbestehen und Wachsen dieser Gruppen mehr ab als von den in der Vergangenheit so oft folgenlosen Versöhnungsgesten der großen Politik.
(Süddeutsche Zeitung, 6. April 2002)


In der Frankfurter Rundschau kommentiert Jochen Siemens:

Spät, aber deutlich


Die USA haben sich im Nahostkonflikt zurückgemeldet. Präsident George Bush hat mit für seine Administration ungewöhnlicher Deutlichkeit Stellung bezogen und die israelische Regierung bei allem Verständnis für Sicherheit vor Selbstmordattentätern zur Mäßigung aufgerufen. Bushs Worte waren dringend notwendig; denn die Eskalation der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Palästinensern drohen die ganze Region ins Chaos zu stürzen. Bushs Appelle kamen spät, und die ersten israelischen Reaktionen lassen nicht erkennen, dass Premier Scharon die Militäraktionen gegen palästinensische Städte beenden oder auch nur einschränken will.

Welche Motive können dahinter stehen? Scharon weiß, dass er dem US-Druck letztlich nicht widerstehen kann. Aber bis Außenminister Powell in der kommenden Woche im Nahen Osten eintrifft, glaubt Scharon offenbar der Infrastruktur des Terrors in den palästinensischen Autonomiegebieten weitere Schläge versetzen zu können. Immerhin haben seine Truppen in Arafats Hauptquartier Belege beschlagnahmt, die beweisen sollen, dass Arafat selbst in die Belohnung von Attentätern verwickelt ist. Stellt sich dies als wahr heraus, ist Arafats Glaubwürdigkeit endgültig dahin. Die USA scheinen sich darauf einzustellen. Deshalb ist es fraglich, ob Powell Arafat noch wird treffen wollen.

Bushs Worte aber machen auch deutlich, dass die USA Scharon ebenfalls nicht mehr als Partner eines Friedensprozesses ansehen. Warum nur, so fragt man sich, hat Bush so lange gebraucht, um deutlich zu werden?
(Frankfurter Rundschau, 6. April 2002


"Arafats letzte Chance" - so ist der Kommentar von Gudrun Harrer im österreichischen "Standard" überschrieben:

Genug ist genug: Wie Recht er hat, der amerikanische Präsident. Alle Welt - außer Sharon und seinen Anhängern - wartete darauf, dass George Bush das endlich sagen würde. Und nachdem er sich in den Tagen nach Beginn der israelischen Wiederbesetzung der Palästinensergebiete eigentlich nur auf Journalistenfragen geäußert hatte, legte er am Donnerstag so etwas wie seine große Vision für den Nahen Osten vor. "Viele Köche" hätten dabei "ihren Löffel in der Suppe" gehabt, analysiert die New York Times. Chefkoch war wohl Colin Powell insofern, als er sich mit seiner unlängst artikulierten Ansicht durchgesetzt hat, dass militärische Aktionen gegen die Palästinenser ohne jegliche politische Perspektive keinen Sinn machen.

Nun darf Powell selbst versuchen, das Steuer herumzureißen - eine Mission mit ungewissem Ausgang. ...

In Israel strapaziert man das Bush-Machtwort, das früher kam als erwartet ..., inhaltlich bis zum Letzten. Als Zeitgeschenk Bushs an Sharon wird betrachtet, dass Powell nicht stante pede nach Israel kommt. Auch das Wort "sofortiger Rückzug" ist nicht gefallen, die Forderung, "die Einfälle in palästinensisch kontrollierte Gebiete anzuhalten und mit dem Rückzug (. . .) zu beginnen", wird mit dem höflichen "I ask" eingeleitet, während der US-Präsident von den Palästinensern "erwartet", dass sie seinen Wünschen nachkommen. Auch die Reihenfolge der Statements wird, wie immer, genau registriert: Gleich am Beginn der Rede wird der palästinensische Terrorismus, dann Arafat namentlich als verantwortlich für die Situation benannt, die Forderungen an Israel kommen spät im Text, und Sharon wird persönlich nicht kritisiert. Die humanitären Ermahnungen indes verwundern so manchen in Israels Rechter, namentlich Sicherheitsminister Uzi Landau, der sofort anmerkte, dass man doch nichts anderes tue, als die Bush-Doktrin im Umgang mit Terrorismus zu befolgen. Die Unterschiede werden einem wie ihm nie dämmern.

Arafats Zukunft indes ließ Bush seltsam in der Luft hängen, das hat seine Umgebung - offenbar im Gegensatz zu ihm, der die Rede "bedingungslos akzeptierte" - sofort mit Unbehagen bemerkt. Einer sah darin sogar Israels Lizenz zum Töten Arafats. Allerdings hat Bush gleichzeitig durchgesetzt, dass Vermittler Zinni zum Eingeschlossenen nach Ramallah vorgelassen wurde, er hat ihn also als Ansprechpartner bestätigt. Bis jetzt war das das einzige Einlenken Sharons: Was geschieht, wenn Powell nach dem Geschmack des Premiers "zu früh" kommt, ist offen. Die Variante, dass Israel den Amerikanern einfach Nein sagt, kommt in den internationalen Betrachtungen zum Thema nicht vor. So behandelt man nur die Europäer.
DER STANDARD, 6./7. April 2002)


Zurück zur Seite "Naher Osten"

Zurück zur Homepage