In memoriam Rachel Corey
Von Karl D. Bredthauer
Den folgenden Kommentar haben wir dem Mai-Heft 2003 der "Blätter für deutsche und internationale Politik" entnommen.
Im Rückblick scheint es, den größten
Teil des Krieges hätten die Alliierten
mit und gegen sich selbst ausgetragen.
Obwohl man das auch ganz wörtlich
verstehen kann, weil bekanntlich ein
unverhältnismäßig großer Teil der
britisch-amerikanischen Verluste auf
freundliches Feuer der eigenen Kameraden
zurückging, reicht die Beobachtung
weiter: Das hypertrophe Sicherheitsdenken,
das, sozusagen nach
außen gestülpt, Rumsfelds Megamaschine
den Weg nach Bagdad bahnte,
um dort, einige Tausend Meilen fern
der Heimat, Amerikas „Recht auf
Selbstverteidigung“ zu exekutieren,
verlieh dem ganzen Krieg ausgesprochen
surreale Züge. Es war ja, wie wir
spätestens jetzt wissen, nicht etwa unerwartet
verbissene Gegenwehr der
Iraker, die the blitzkrieg ins Stocken
brachte und sogleich die ersten Katastrophenszenarien
ins Kraut schießen
ließ. Nein, sobald Amerikaner oder Briten
unter Beschuss gerieten, war es aus
mit der Intelligenz, nicht nur der smart
weapons und des vielgerühmten Masterplans
aus dem Pentagon. Da zählten
mit einem Schlag weder Leib und Leben
der zu Befreienden mehr, noch der
Vorsatz, die Infrastruktur des Landes zu
schonen. Da zählte, panic stricken, nur
noch eines, der Schutz der eigenen
Sicherheit vor Gefahren, für deren
Abschätzung, ob eingebildet oder real,
offenbar kaum Maßstäbe zur Verfügung
stehen. Welch makabres Sinnbild
verselbständigter Sicherheitsbedürfnisse,
am Rande der Hysterie, kaum
weniger als die Homeland Security-Exzesse
daheim.
Fasst man die Inszenierung der „Irakkrise“
als Ganze ins Auge, so fällt die
Feststellung schwer, wo der Hauptkriegsschauplatz
lag – am Golf oder am
East River – und wo die Hauptkampflinien
verliefen – zwischen dem Schurkenstaat
und seinen Invasoren oder
zwischen den Partnern der Wertegemeinschaft
beiderseits des Atlantik?
Oder zwischen altem und neuem Europa?
Oder zwischen den Anführern der
Koalition der Willigen und ihren unwilligen
Völkern?
UN-Sternstunde und toter Punkt
Bushs zwischenzeitlicher Ehrgeiz, sich
seinen Krieg vom Weltsicherheitsrat
legitimieren zu lassen, hat die Bedeutung
der UNO jedenfalls für kurze Zeit
enorm gesteigert. Doch für sie endete
das Ringen um Verhinderung oder
Legitimierung des Krieges schmerzlich
ambivalent: Sternstunde und toter
Punkt lagen dicht beieinander.
Die Weltorganisation hat Stärke und
Autorität bewiesen, indem sie sich trotz
beispielloser Pressionen nicht dazu
nötigen ließ, dem Recht des Stärkeren
ihren Segen zu geben. Doch der
Triumph verpuffte. Dass der Stärkere
dennoch angriff und die UNO sich unfähig
zeigte, der Aggression entgegen zu
treten (ja sie nicht einmal als solche zu
brandmarken vermochte), demonstrierte
zweierlei: Die Vereinten Nationen
sind derzeit tatsächlich nicht in der Lage,
den Weltfrieden zu sichern. Jedenfalls
nicht gegen ihr stärkstes Mitglied.
Insofern hat Bush demonstriert quod
erat demonstrandum: Ohne die Vereinigten
Staaten droht der UNO das
Schicksal des Völkerbundes. Aber das
ist nur die halbe Wahrheit. Die erregenden
Wochen, während derer der Sicherheitsrat
(Wo blieb die Generalversammlung?)
überraschend zum zentralen
Austragungsort des Ringens um
Kriegslegitimierung oder -verhütung
avancierte, sollten nicht gleich wieder
Kommentare und Berichte
vergessen, sondern sorgfältigst analysiert
werden.
Zu den allseits unvorhergesehenen
Konsequenzen des Bush-Kriegskurses
gehört das Auftauchen einer „Achse“
Paris-Berlin-Moskau. Vor allem die
französische Diplomatie, Bundesaußenminister
Fischer, aber auch Generalsekretär
Kofi Annan, haben sich im Vorfeld
des Krieges erstaunlich gut „geschlagen“.
Sie waren die Sieger der
Kraftprobe im Sicherheitsrat. Doch warum
mussten die Kriegsgegner – wenn
wir sie so nennen dürfen – gleich anschließend
derart beflissen Bagdad den
Bombern preisgeben?
Mag ja sein, dass der Generalsekretär
arbeitsrechtlich, haftungsrechtlich
verpflichtet ist, UN-Personal unverzüglich
in Sicherheit zu bringen, wenn es
zwischen die Fronten oder unter direkten
Beschuss geraten könnte. Obwohl
das inzwischen bereits zu einem makabren
Ritual geworden ist: Wenn im Irak
UNSCOM (1998) oder im Kosovo die
OSZE-Beobachter (1999) die Koffer
packen, heißt das: Es ist so weit. Für die
Zurückbleibenden, die Einheimischen
lautet die Botschaft: Lasst alle Hoffnung
fahren.
Mag sein, dass Gerhard Schröder und
Joschka Fischer sich von ähnlichen
Dienstherrenpflichten leiten ließen, als
sie – Nein zum Krieg hin oder her – die
deutsche Botschaft in Bagdad vor allen
anderen räumen ließen.
Aber was zwingt die Begünstigten,
was zwingt etwa Botschafter Blix und
seine Mitarbeiter, die sich dem Anliegen
friedlicher Abrüstung verschrieben
haben, so willfährig und widerstandslos
dem Druck des Aggressors zu weichen,
statt – unmögliche Vorstellung?! – ihrem
Engagement durch zivilen Ungehorsam,
„begrenzten Regelverstoß“
gegenüber dem fürsorglichen Dienstherrn
Nachdruck und weltweit Respekt
zu verschaffen? Gleiches gilt für die
Botschaftsmitarbeiter, die Vertreter der
Hilfsorganisationen und manche andere.
Konnten sie nicht alle unterstellen,
durch demonstrativen Verbleib an der
Seite der designierten Opfer ein zunächst
– vor der Gewöhnung an die täglichen
Bomben – ziemlich begrenztes
Risko einzugehen, wenn sie der militärischen
Drohkulisse mit Zivilcourage,
mit einer zivilgesellschaftlichen Machtdemonstration
begegnet wären? Hätten
Bush oder Blair es denn im Vorfeld des
20. März, vor dem Hintergrund der
weltweiten Demonstrationen und ihrer
eigenen, peinlichen Unfähigkeit, eine
Sicherheitsratsmehrheit zu Stande zu
bringen, tatsächlich wagen können,
Herrn Blix und seine UNMOVIC-Inspekteure
oder das Botschaftspersonal
verbündeter Mächte mit Bomben zu belegen?
Nun ja, alle Welt erinnerte sich noch
des Schicksals der chinesischen Botschaft
in Belgrad während der NATOLuftangriffe
1999, mag man einwenden.
– Eben! Alle Welt hätte sich erinnert,
und entsprechend riskant wäre
es für Washington diesmal gewesen,
das Recht auf Irrtum abermals zu strapazieren.
Der Tod der Rachel Corey
Gewiss, die hypothetische Option, der
so offenkundig anachronistischen, weil
viel zu grobschlächtig wirkenden Militärmacht
mit der Macht der Zivilgesellschaft
zu begegnen, lässt viele Fragen
offen. Zum einen scheint die civil society
auf „die Stunde der Exekutive“,
den Ernstfall staatlicher Gewaltanwendung,
bisher nur unzureichend vorbereitet.
Vielleicht kann das auch gar
nicht anders sein, weil die modernen,
sub- und suprastaatlichen Verkehrsformen
der Gesellschaftswelt (Czempiel),
der zivilen Gesellschaft im Maßstab der
Globalisierung, so ganz einfach nicht
funktionieren, sondern ihre Wirkung
längerfristig, eher subkutan entfalten.
„Das weiche Wasser bricht den harten
Stein“, sang die Friedensbewegung der
frühen 80er Jahre.
Dass Bush und Blair es nicht gewagt
hätten loszuschlagen, wenn beispielsweise die deutschen oder französischen
Diplomaten an ihren Plätzen geblieben
wären – nach dem mehrstündigen Beschuss
russischer Boschaftsangehöriger
in der Endphase des Krieges klingt die
Hypothese weniger überzeugend, und
doch scheint sie mir nicht falsifiziert.
Dramatisch ins Bewusstsein getreten ist
wohl primär, welches Ausmaß der Verrohung
und Abstumpfung von einem
Tag auf den anderen zur Normalität
wird, sobald die Schwelle des Krieges
erst einmal überschritten ist.
Sinnfälligster Ausdruck der Verrohung,
die mit der „postheroischen“
(Münkler) Kriegführung der zivilisierten
Welt einhergeht, ist neben diversen
Gewaltakten entnervter Koalitions-Soldaten
gegen irakische Zivilisten und
gegen die eigenen Leute wohl das
Schicksal der amerikanischen Friedensaktivistin
Rachel Corey. Sie gehört
zu den Opfern israelischer Staatskriminalität
im Windschatten des Irakfeldzugs.
Das sind nicht wenige, auch wenn
die Welt wenig Notiz von ihnen nahm.
Nicht einmal von dem der Rachel Corey,
deren Geschichte in alle Schulbücher
gehört: Sie starb, als sie einem
Bulldozer der Besatzungsarmee, dessen
Fahrer sich anschickte, ein palästinensisches
Wohnhaus einzureißen, die
klassische Form gewaltfreien Widerstands
entgegen zu setzen versuchte.
Sie stellte sich der Planierraupe in den
Weg – und der Fahrer überrollte die
junge Frau. Sehenden Auges, wie Beobachter
berichten, was der Täter natürlich
bestreitet. Als Rachel Corey
merkte, dass der Fahrer die Regeln des
„Spiels“ ignorierte und sich anschickte,
sie zu töten, versuchte sie sich zu retten,
wurde jedoch umgeworfen, mit Erde
zugeschüttet, überrollt. Danach setzte
der Fahrer zurück und überrollte sein
Opfer ein zweites Mal.
Welche Schlüsse sind aus den jüngsten
Erfahrungen mit Gewalt und Gegengewalt
zu ziehen? Haben der Fortschritt
der Zivilisation, die Ausbreitung
der Demokratie, der Siegeszug der Globalisierung
alle Maßstäbe des Erlaubten
außer Kraft gesetzt? Maßstäbe, die es
noch unter den Bedingungen des Kolonialzeitalters
einem Mahatma Gandhi
ermöglichten, das Paradigma des gewaltfreien
Widerstandes zu schaffen?
Liegt es am übersteigerten Sicherheitsbedürfnis,
an der Sterbensangst
der postheroischen Armeen, die die
einzige Supermacht in alle Winkel der
Welt entsendet, seit das Ende von
„Blockkonfrontation“ und „Systemkonkurrenz“
offenbar auch die checks und
balances der modernen Weltpolitik
außer Kraft setzte, ohne dass bisher Ersatz
gefunden worden wäre?
Zeigt sich in diesem Spezifikum metropolitaner
Machtprojektion – dass der
Westen Soldaten entsendet, die töten
sollen, aber ihr eigenes Leben weder
einsetzen wollen noch dürfen – nicht
letztlich die gleiche Art der Verwundbarkeit,
die sich die Terroristen des
11. September zu Nutze machten?
Schließt sich hier der Kreis? Dass
nämlich der Westen sich selbst am
meisten schadet, wenn er glaubt, seine
Sicherheit im Zweifel militärisch gewährleisten
zu können? Sind es doch
die Offenheit und Interdependenz
der OECD-Welt, die diese Staaten,
diese Gesellschaften so überlegen und
gleichzeitig so verletzlich machen.
An diesem Punkt springt ins Auge,
dass das alte, tatsächlich revolutionär-neue
EU-Europa in Wirklichkeit die
besseren Karten hat. Es müsste mit
Blindheit geschlagen sein, ließe es sich
durch die vordergründige Erfolgsgeschichte
militärischer Machtentfaltung
am Golf zuletzt doch noch auf den Irrweg
locken, den Amerika eingeschlagen
hat und, wie es scheint, aus eigener
Kraft nicht mehr zu verlassen vermag.
Bush ist nicht Amerika
Die gängige Sicht, es habe sich um eine
Auseinandersetzung zwischen amerikanischem
Unilateralismus und Multilateralismus
gehandelt, verkürzt die
Dinge in irreführender Weise.
Die sicher richtige Feststellung, dass
Großmächte, zumal die dominierende
Macht, ihr politisches Handeln ungern
Mehrheitsentscheidungen unterwerfen,
sollte nicht zur Nivellierung des
gewaltigen Unterschiedes führen, der
zwischen den unilateralistischen Zügen
der herkömmlichen US-Diplomatie und
dem rücksichtslosen Machtwillen der
gegenwärtigen Administration besteht.
Es kommt nicht etwa darauf an,
„Amerika“ zu isolieren und eine Art
antiamerikanischer Weltallianz zu
schmieden. Selbst wenn dergleichen
durchführbar wäre und nicht angesichts
der ungleichen Bettgesellen, die da zusammenkämen,
unweigerlich zum Inbegriff
der Mésalliance geriete: Man würde
sich von der besseren Hälfte Amerikas
isolieren, wo es doch darum geht, die
Selbstheilungskräfte dieser „Mutter aller
Demokratien“ freizusetzen.
Worauf es sehr wohl ankommt, ist die
Isolierung der extremistischen Kräfte,
die mit dieser Administration an die
Schalthebel der Macht gelangt sind,
und die Stärkung aller erdenklichen
Gegenkräfte gegen die Fortsetzung
und Konsolidierung ihres Kriegskurses.
Der Vorwurf des Antiamerikanismus
geht gegenüber einer aufgeklärten
Politik, die auf das bessere Amerika –
und auf Glanzpunkte amerikanischer
Nachkriegsdiplomatie wie UNO und
EU – setzt, gänzlich ins Leere.
Aber wie macht man das? Sicherlich
nicht durch Ergebenheitsadressen ŕ la
Berlusconi, Aznar, Merkel oder, um
noch tiefer in die politische Provinz zu
schauen, Brandenburgs bewährter General
a.D. Schönbohm und andere Neueuropäer
von Rumsfelds Gnaden. Aber
sicher auch nicht mit dem Westentaschen-
Unilateralismus, dem Gerhard
Schröder in allzu regelmäßigen Abständen
frönt. Ein Glück, dass er den „deutschen
Weg“ jetzt wohl für etwas längere
Zeit aus seinem Repertoire gestrichen
haben dürfte.
Zweckbündnisse wie die ad-hoc-Allianz
der zeitweiligen Sicherheitsratspartner
Berlin, Paris und Moskau haben, wie sich zeigte, ihren Wert, besonders
wenn sie als Überraschung
kommen. Aber das macht noch keine
Achse. Gewiss, Schröder war gut beraten
– hatte in seiner selbstverschuldeten
diplomatischen Klemme aber auch
kaum eine andere intelligente Wahl –,
Moskau diesmal nicht so schnöde abfahren
zu lassen wie 1999 im Vorfeld
des Jugoslawien-Krieges, als Bonn/
Berlin den herbeigeeilten russischen
Premier Primakow wie einen lästigen
Bittsteller abfertigte.
Aber kein Flirt mit Moskau kann die
funktionierende EU-Kooperation ersetzen.
Nicht einmal während der Kosovokrise
1998/99 machte die strukturelle
Außenpolitikunfähigkeit dieser Union
sich so bitter bemerkbar wie jetzt, im
peinlichen Gegeneinander von Peripherie
und Kern.
Der Wiederaufbau nach diesem Irakkrieg
erfordert mehr als einen Marshallplan.
Und nicht zuletzt wiederum
ein European Recovery Program – das
diesmal zweifellos nicht von Washington,
sondern von Paris und Berlin ausgehen
muss und 2003 ff. vor allem eine
Sache des politischen Willens sowie diplomatischer
Finesse, nicht so sehr der
Wirtschaftshilfe für andere wäre. Ohne
wirtschaftliche Stärkung der eigenen
Kräfte dürfte allerdings aus einer europapolitischen
Offensive des „Kerns“
nichts werden. Auch auf ökonomischem
Gebiet erfordert die Befreiung
aus einer steril gewordenen Orthodoxie
des Denkens jetzt eine außergewöhnliche
Kraftanstrengung der politischen
Phantasie und, in erster Linie, Willenskraft.
Dass sich in der politischen Klasse
sowohl Frankreichs, hier vor allem, als
auch Deutschlands entsprechende Tendenzen
anbahnen, haben die jüngsten
Emanzipationsversuche im Umgang
mit dem Gesslerhut „Stabilitätspakt“
und den Schulmeistereien der Brüsseler
Gralshüter signalisiert. Aber die bisher
an den Tag gelegte Zaghaftigkeit erlaubt
keine großen Hoffnungen.
Aus: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 5/2003, S. 519-522.
Mit freundlicher Genehmigung der
"Blätter für deutsche und internationale Politik".
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