Die Zerstörung Bethlehems - Terrorbekämpfung?
Ein Augenzeugenbericht von Viola Raheb
Von Ulrike Bechmann (Universität Bamberg) haben wir einen Augenzeugenbericht über die Lage in Bethlehem erhalten, den wir im Folgenden dokumentieren.
Der Krieg gegen Terror nimmt viele Gesichter an. Die politischen
Koalitionen werden immer neu gemischt. Vor ca. einem Monat begann die
israelische Militaeroffensive in den palaestinensischen Gebieten. Fuer
die Regierung Scharons eine klare Aktion gegen die sogenannten
"Terrornetze" Palaestinas. Die am Anfang noch unter internationale
Kritik geratene Politik ist inzwischen eine geduldete Politik, sowohl
seitens der Europaer als auch seitens der Amerikaner. Die Welt, die vor
dieser Militaeroffensive um zukuenftige politische Loesungen des
Konfliktes bemueht war, ist heute vor allem damit beschaeftigt, einen
sogenannten ‚Waffenstillstand' zu erreichen und - dringender noch - die
Belagerung der Geburtskirche und des Sitzes Arafats zu beenden.
Reflektiert man ueber die Geschehnisse der letzten Wochen in Palaestina
insgesamt und in Bethlehem speziell, so wird einem klar: Alles, was hier
geschieht, hat kaum mit Terrorbekaempfung zu tun, sondern vielmehr mit
der systematischen Zerstoerung Palaestinas als Gesellschaft. Die
Regierung Scharons nimmt die internationale "Mode" der Bekaempfung des
Terrors als Vorwand, um sicherzustellen, dass Palaestina fuer Jahrzehnte
nicht in der Lage sein wird, ein funktionierenden Staat zu werden.
1. Die Infrastruktur wird zerstoert: Waehrend der letzten Jahre haben
sich viele Initiativen zusammengefunden, um die Stadt Bethlehem zu
restaurieren und fuer das Jahr 2000 vorzubereiten. Strassen wurden neu
gemacht, der Bereich der Altstadt gepflastert und zu einer
Fussgaengerzone entwickelt. Wasser, Strom und Telefonleitungen wurden
neu verlegt. Millionen von Entwicklungshilfegeldern wurden in diese
Restaurierung investiert. Mehrere europaeische Laender haben sich daran
beteiligt, die Geburtsstadt Jesu fuer das Jubilaeumsjahr vorzubereiten.
Schaut man sich die Strassen Bethlehems jetzt nach nur drei Wochen der
israelische Militaeroffensive an, so kommt es einem vor, als waere diese
Stadt eine Ruinenstadt. Die Strassen existieren kaum noch, Gehwege sind
kaum zu erkennen, Verkehrszeichen liegen zertruemmert auf dem Boden,
Wasser-, Strom- und Telefonleitungen liegen gekappt auf den Strassen,
und die Liste kann noch verlaengert werden. Doch was hat die
Infrastruktur einer Stadt wie Bethlehem mit Terror zu tun?! Was haben
Ampeln, Sanitaetsanlagen, Baeume, Denkmaeler mit der Sicherheit des
Staates Israels zu tun?! Diese Frage muesste man der Regierung Scharons
wohl stellen, ebenso aber muessste man diese Frage den vielen Laendern
stellen, die sich an dieser Restaurierung beteiligt haben. Waehrend der
letzten Jahre haben wir desoeftern Einwaende der Geldgeberstaaten
bezueglich eines unangemessenen Umgangs der PA (Palaestinensischen
Autonomiebehoerde) mit den Entwicklungshilfegeldern gehoert, was
verstaendlich ist. Denn letztendlich muessen ja die Regierungen
Verantwortung gegenueber den Steuerzahlern tragen. Diese pragmatische
Haltung haette dazu fuehren mueesen, dass wohl dieselben Staaten jetzt
auch kritisch ihre Stimmen erheben, wenn das Militaer binnen weniger
Tage alles zertruemmert, was an Hilfe geleistet wurde. Doch
ueberraschenderweise wurde erst vor ein paar Tagen in Norwegen ein
Treffen der Geldgeberstaaten organisiert, bei dem beschlossen wurde,
dass die Europaer wohl zusaetzliche 300 Millionen US Dollar an die PA
geben, um die Schaeden zu beheben, die bei dieser Militaeraktion
zugefuegt wurden. Dies geschieht in einer Zeit, in der die Regierung
Scharons schon offenlegt, dass der Einmarsch in die sogenannten
"Autonomen" Zonen auch in der Zukunft eine Option bleibt. In diesem
Sinne kommen die Entwicklungshilfegelder gerade recht, um die Staedte
fuer die naechste Zerstoerungsaktion vorzubereiten!
2. Fundamente einer zivilen Gesellschaft: Jahrzehnte unter Besatzung
ohne eigene politische Fuehrung vor Ort fuehrte dazu, dass sich in
Palaestina im Gegensatz zu anderen arabischen Laendern die zivile
Gesellschaft staerker entwickelt hatte. In allen Staedten sind
Nichtregierungsorganisationen entstanden, die sich Fragen der
Gesellschaft gewidmet haben. Bethlehem ist hierbei keine Ausnahme. Die
Stadt hat während der letzten 35 Jahre israelischer Besatzung viele
verschiedene Organisationen beheimatet, die in den verschiedensten
Bereichen gesellschaftlicher Arbeit taetig sind, so beispielsweise im
medizinischen Bereich, bei Bildungs- oder Menschenrechtsfragen usw. Es
waren Institutionen, die sich darum bemueht haben, Menschen in diesem
Land Hoffung inmitten all der Hoffnungslosigkeit, die sich breit machte,
zu geben. Doch was haben diese Organisationen mit Terror zu tun? Die
Frage muesste man ebenso der Regierung Scharons stellen. Denn in den
vergangenen Wochen hat das Militaer wohl kaum eine Institution
ausgelassen, ohne sie mit Panzergranaten und Maschinengewehren
anzugreifen. Das neue Gebaeude der Universitaet Bethlehems wurde
bombardiert, das Internationale Begegnungszentrum Bethlehems ist ebenso
beschossen und bombardiert worden, die Krankenhaeuser sind auch nicht
verschont worden, Schulen teilen den gleichen Schicksal. Damit wird
dafuer gesorgt, dass Palaestina fuer die naechsten Jahre zu einem
Entwicklungsland wird, das weiterhin auf die Hilfe der Internationalen
Gemeinschaft angewiesen ist, um wieder auf die Beine zu kommen. Zugleich
hat die Regierung Scharon dafuer gesorgt, dass alle PA-Institutionen dem
Boden gleich gemacht wurden. Das Bildungsministerium, das
Innenministerium, das Wirtschaftsministerium und vieles mehr. Jetzt
heisst es nur noch: Chaos! Will ein Schueler eine Kopie seiner
Abiturpruefung, so liegen keine Dokumente vor; will jemand eine
Geburtsurkunde, so gibt es keine Unterlagen mehr. Damit wird dafuer
gesorgt, dass die PA, auch wenn sie das Ganze hier ueberstehen sollte,
über Jahre damit beschaeftigt sein wird, ihre Teile wieder
zusammenzufuehren. Gleichzeitig wird verkuendet, dass die Israelische
Zivile Administration, die vor Oslo das gesamte Leben in Palaestina in
der Hand hatte, wieder belebt wird. Viele sehen darin eine grosse
Gefahr. Aber blickt man hinter die Fassade, so wird einem klar, dass die
Situation sich nur vordergruendig veraendert, aber nicht im Kern. Das
Gesicht der Besatzung wird in dem Moment wieder sichtbar, in dem die
Schminke verschwindet. Ja, in den vergangenen Jahren hatte Israel alle
Entscheidungen ueber Palaestina in der Hand, allerdings hinter den
Kulissen. Jetzt heisst es: Maske ab! Daher gilt meine Sorge nicht der
Zukunft der PA, sondern vielmehr der Zukunft der zivilen Gesellschaft.
Die Geschichte hat uns gelehrt, dass wir ohne die PA unser Leben
organisieren koennen, doch nicht ohne die vielen engagierten
"Grass-Roots"-Organisationen.
3. Die Wuerde des Menschen: In den vergangenen Wochen hat die Regierung
Scharons alles unternommen, um den Menschen hier vor Ort alles
wegzunehmen inklusive ihrer menschlichen Wuerde. Menschen sind seit
jetzt bald mehr als einen Monat ohne Arbeit, ohne jene Moeglichkeit,
ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie sind zu Gefangenen ihrer eignen
vier Waende geworden, oft ohne Strom, Wasser und Telefonleitungen. Immer
mehr Menschen kaempfen nun um das einfache Ueberleben. Immer mehr
Menschen werden soweit gebracht, Schlange zu stehen, um sich die
notwendigen Lebensmitteln zu besorgen, und dabei begeben sie sich jedes
Mal in eine lebensgefaehrliche Situation. Menschen werden taeglich an
den Punkt gebracht, sich selbst und ihr Leben aufzugeben. Was haben Brot
und Wuerde mit der Sicherheit des Staates Israel zu tun? Diese Frage
muesste der Regierung Scharons gestellt werden ebenso wie den vielen
Internationalen Organisationen und Laendern, die sich auch daran
beteiligen. Wenn ich manchmal aus dem Fenster blicke und sehe, wie
Menschen Schlange stehen, um sich ein wenig Mehl, Zucker und Reis zu
besorgen, dann blutet mir das Herz und ich sehe Afghanistan vor mir. Ja,
Afghanistan, wo die Amerikaner den Fluechtlingen im gleichen Zug Bomben
und Essen gaben. Bomben, weil sie sich in dieser Fremde fuerchten, und
Essen, weil sie sich damit ein gutes Gewissen kaufen wollen. Wirft man
nur Bomben, dann werden viele nicht gut schlafen koennen und von
Albtraeumen verfolgt werden. Das Essen sorgt fuer einen ruhigen
albtraumfreien Schlaf! Die Internationale Gemeinschaft unterstuetzt
einen Staat Palaestina. Das ist keine grosse Leistung, wenn sogar
Scharon dies unterstuetzt, wenngleich nur auf 50 Prozent der geographischen
Flaeche der Westbank und des Gazastreifens. Doch sie wollen einen Staat
haben, in dem Menschen sich daran gewoehnt haben, ihre Hand nach dem
taeglichen Brot auszustrecken. Menschen, die sich mit der Rolle des
Untertans zufrieden geben und somit gute Kandidaten fuer politische
Manipulationen sind.
Wer durch die Strassen Bethlehems geht spuert eine starke Ambivalenz der
Lage. Zum einen blutet einem das Herz bei der Betrachtung der
Zerstoerung, zum anderen spuert man die Widerstandskraft der Menschen,
die trotz allem und allem zum Trotz sich noch auf die Strassen wagen.
Scharon hat vielleicht alles Materielle zerstoert. Das ist eigentlich
auch keine grosse Leistung fuer den bestbewaffneten Staat in der Region.
Doch er kann und wird nie den Willen der Menschen fuer Freiheit und
Gerechtigkeit zerstoeren koennen. Das lehrt uns die Geschichte.
Uebrigens auch die juedische Geschichte!
Viola Raheb
Zurück zur Seite "Naher Osten"
Zur Palaestina-Seite
Zurück zur Homepage