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Die "Road Map" als Zeichen neuer Friedenschancen?

Von Reiner Bernstein

"Es ist unerträglich für israelische Bürger, dass sie mit dem Terror leben. Es ist unerträglich für Palästinenser, im Elend und unter der Besatzung zu leben. Die gegenwärtige Lage bietet keine Aussicht auf ein besseres Leben." Im Juni 2002 hatte George W. Bush daraus die Konsequenz gezogen, auf die Schaffung eines palästinensischen Staates hinarbeiten zu wollen. Seither nutzt der US-Präsident jede Gelegenheit, auf diese Ansprache hinzuweisen - auch um die Rollenverteilung gegenüber den Europäern, Russland sowie dem UN-Generalsekretär im Nahost-"Quartett" von vornherein zu klären. Bisher waren sich alle Beobachter darin einig, dass die unter dem Namen Oslo firmierenden Vereinbarungen zwischen Israel und den Palästinensern gescheitert sind und schleunigst aus dem Vokabular und den Arbeitspapieren der Diplomaten gestrichen werden sollten. Von einem Frieden sprach niemand mehr.

Nach dem tiefen Pessimismus der letzten Jahre melden sich nun die professionellen Optimisten zu Wort. Sie erwarten, dass sich der israelisch-palästinensische Konflikt bis 2005 überwinden lässt. War ihm mit den Mitteln des diplomatischen "Quid pro quo" bislang nicht beizukommen, sollen sich jetzt mit Hilfe der "Road Map" gleichsam unwiderstehliche Friedenschancen auftun. Die Palästinenser haben mit der Wahl von Mahmud Abbas die amerikanische Vorbedingung einer neuen politischen Führung erfüllt, während Sharons "hundert Einwände" in Washington kein entscheidendes Gehör gefunden haben sollen. Ist es vorstellbar, dass im Blick auf den Nahen Osten die realistische Schule in der US-Administration über die Neokonservativen gesiegt hat, die den Präsidenten in den Irak-Krieg führten? Noch im letzten Sommer hatten sie dafür gesorgt, dass Colin Powells Idee einer amerikanisch geführten Friedenskonferenz spurlos in der politischen Versenkung verschwand.

Lange war vermutet worden, dass Bush den Fehler seines Amtsvorgängers Clinton vermeiden und sein präsidiales Prestige nur dann einsetzen werde, wenn er des politischen Erfolgs sicher sei. Die arabischen Vorwürfe, dass Washington im israelisch-palästinensischen Konflikt mit einer anderen Elle messe als im Irak, zwangen ihn nunmehr zu dem Versuch, das diplomatische Tempo zu erhöhen und die hohen Wogen des Antiamerikanismus zu glätten. Dennoch scheint Sharon zuversichtlich zu sein, dass die Schwäche der arabischen Welt und der Palästinenser seiner Regierung gute Chancen einräumen werde, auf die Umsetzung der "Road Map" starken Einfluss zu nehmen, auch wenn er hinzufügte, dass die "schmerzhaften Kompromisse", in der "Wiege des jüdischen Volkes" der Entstehung eines palästinensischen Staates zusehen zu müssen, ihre Grenzen haben: Er werde darüber entscheiden, was für Israel gefährlich sei oder nicht. Damit setzt Sharon den Preis fest: Ein Rückzug aus allen Teilen der Westbank kommt nicht in Frage, von der Aufgabe Ost-Jerusalems ganz zu schweigen.

Die Bundesregierung ihrerseits beeilte sich, der "Road Map" einzigartige Qualitäten zusprechen - eher jedoch für das transatlantische Verhältnis. Das Dokument sei der erste Friedensplan in der Geschichte des Konflikts, der von den wichtigsten Akteuren außerhalb der Region gemeinsam erstellt und verabschiedet worden sei. Richtig war an dieser Einschätzung, dass die Europäer diesmal von ihrem Verbündeten einbezogen wurden, nachdem sie bislang systematisch daran gehindert worden waren, politische Initiativen in eigener Verantwortung zu entwickeln. Gegenüber dem Nahen Osten lässt der "Wegeplan" gleichwohl erhebliche Schwächen erkennen:
  1. Er geht davon aus, dass Israelis und Palästinenser auf fremde Hilfen zur Regelung ihres Konflikts angewiesen sind. Worauf das "Quartett" nach zahlreichen internationalen Fehlschlägen sein Vertrauen in die eigene Kraft begründet, ist zwar nicht erkennbar, wird aber endgültig über ihre politische Glaubwürdigkeit in der Region entscheiden. Solange beide Völker nicht aus ihrer Mitte die Bereitschaft zur Beendigung des Konflikts entwickeln, werden Interventionen nur begrenzte Wirkungen entfalten können. Jüngste Meinungsumfragen zeigen, dass Israelis und Palästinenser vom Zenit ihrer Schmerzgrenze noch entfernt sind.
  2. Der "Wegeplan" versucht, eine große Fülle von Einzelproblemen zu regeln, und konstituiert zwischen ihnen ein Junktim. Wenn jedoch einzelne Elemente nicht durchsetzbar sind, droht das gesamte Gebäude einzustürzen. Wer definiert zum Beispiel, ob Siedlungen illegal sind?
  3. Zwar betonen die Autoren, dass ihr Ziel die Zweistaatenlösung sei, doch faktisch erwarteten sie von Sicherheitsabsprachen politische Fortschritte - eine Auffassung, die den Mitchell- und Tenet-Plan vom Mai/Juni 2001 scheitern ließen.
  4. Der "Wegeplan" impliziert, dass Israel bereits auf dem Wege zum palästinensischen Staat mit der Hauptstadt Ost-Jerusalem auf Souveränitätsrechte verzichtet, die Israel aus den Osloer Vereinbarungen herleitet: das Recht auf militärische Eingriffe in den palästinensischen Gebieten, den Bau meterhoher "Schutzwälle" auf der östlichen Seite der Grenzen vom 4. Juni 1967 mit der Enteignung von Grundflächen sowie neue jüdische Vororte und Umgehungsstraßen um Jerusalem, die die palästinensische Bevölkerung von der Westbank abschneiden.
  5. Die "Road Map" sieht keine handfesten Sanktionsmechanismen für den Fall vor, dass eine Partei den Vollzug von Teilschritten verzögert oder gar verweigert. Ob das angekündigte System einer Begleitung und Überwachung ("monitoring") Wirkung entfaltet, wird davon abhängen, welches Mandat das "Quartett" für sich gegen erhebliche Widerstände vor Ort durchsetzen kann.
  6. Die Zeitleiste war schon im Entwurfsstadium der "Road Map überholt, in dem noch für dieses Jahr ein Staat Palästina mit vorläufigen Grenzen vorgesehen war. Nunmehr verzichtet das "Quartett" auf einen fest umrissenen Fahrplan und verweist als Behelf auf das Instrument des "Monitoring". Wer jedoch die politische Schnelllebigkeit in der Region kennt, wird befürchten müssen, dass die Dreijahresfrist bis 2005 zu lang angesetzt ist.
  7. Ob sich die arabischen Staaten, die ab 2005 ihre Beziehungen zu Israel vollständig normalisieren sollen, mit den Ergebnissen der israelisch-palästinensischen Vereinbarungen einverstanden erklären, ist durchaus ungewiss. Die Region insgesamt ist aufgrund höchst komplexer und in sich widersprüchlicher Faktoren zu instabil, als dass sich von der Regelung des israelisch-palästinensischen Konflikts umfassende Heilserwartungen ableiten lassen. Wenn israelischen Regierungen in der Vergangenheit vorgehalten worden ist, dass sie die Konfrontation brauchen, um von innenpolitischen Schwierigkeiten abzulenken, so gilt dies auch umgekehrt: Die arabischen Hauptstädte nutzen den Konflikt, um ihre Macht zu behaupten.
Jegliche Vereinbarung zwischen Israel und den Palästinensern wird beide Gesellschaften vor schwere innere Zerreißproben stellen. Sie könnten Teile dazu veranlassen, gegen ihre Regierungen Vabanque zu spielen. Solche Sorgen sind um so begründeter, weil das Gewicht religiöser Überzeugungen wächst und dem Konflikt antagonistische Dimensionen verleiht. "Hamas" und "Islamischer Djihad" lassen sich nicht von Mahmud Abbas' Ankündigung beirren, ihrem Terror Einhalt zu gebieten, die "Al-Aqsa-Brigaden" von "Fatah" profitieren von der notorisch ambivalenten Haltung ihres nominellen Chefs Arafat gegenüber der Gewalt. Gleiches gilt für die Anhänger eines "Ganz Israel" in den Grenzen zwischen Mittelmeer und Jordan, die mit Sharons Sympathien rechnen. Er ist nicht bereit, dem neuen palästinensischen Kabinett eine Schonfrist zur Neutralisierung oder Ausschaltung seiner Gegner einzuräumen, und nimmt statt dessen erhebliche "Kollateralschäden" unter der palästinensischen Zivilbevölkerung in Kauf.

Fazit: Sollten es die Akteure auf allen Seiten an ihrem Willen zu friedlichen Beziehungen fehlen lassen, besteht aller Grund zur Sorge, dass die "Road Map" das Schicksal der Mitchell- und Tenet-Pläne teilt: Statt eine neue Ära einzuleiten, wird sie als "non-starter" enden.

Die Homepage-Adresse von Reiner Bernstein heißt: www.Reiner-Bernstein.de


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