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Washingtoner Friedensschalmeien für Palästinenser und Israelis?

Ein Kommentar zur "Vision" des US-Präsidenten. Von Reiner Bernstein, München

Es ist gerade einen Monat her, dass Ariel Sharon auf die Frage nach dem Friedensplan des "Quartetts" geringschätzig antwortete: "Ach, das Quartett ist nichts. Nehmen Sie es nicht ernst." Diese Handbewegung, abgesegnet durch die neue Koalition ohne Perspektiven für politische Fortschritte, hat George W. Bush nicht daran gehindert, nach dem Sturz von Saddam Hussein dem gesamten Nahen Osten Freiheit und Demokratie sowie dem palästinensischen Volk einen eigenen Staat zu versprechen. Als Podium hatte er sich am 27. Februar die Tagung des hochkonservativen "American Enterprise Institute" im Washingtoner Hilton Hotel ausgesucht.

Es ist nicht das erste Mal, dass sich der amerikanische Präsident so optimistisch äußerte. In seiner lang erwarteten Rede vom Juni 2002 hatte er schon einmal den Palästinensern einen Nationalstaat verheißen, "mit Israel Seite an Seite in Frieden und Sicherheit". Dass die Regierung in Jerusalem damals mit Freude reagierte, konnte kaum überraschen. Denn Bush hatte von den Israelis nicht mehr verlangt, als sich auf die Linien vor dem 28. September 2000 zurückzuziehen, jenem Donnerstag, an dem der damalige Oppositionsführer Sharon unter schwerem Begleitschutz den Tempelberg betreten und die zweite Intifada mit gleich vier palästinensischen Toten ausgelöst hatte. Außerdem hatte Bush verlangt, dass die künftigen Verhandlungen auf der Grundlage der UN-Resolutionen 242 von 1967 und 338 von 1973 stattfinden müssten - Entschließungen, die in den vergangenen Jahrzehnten den Frieden keinen Schritt nähergebracht haben.

Alle anderen Forderungen richtete der Präsident damals an die palästinensische Adresse: eine neue politische Führung, Kampf gegen die Terroristen und deren Infrastruktur, eine neue Verfassung auf der Grundlage der Gewaltenteilung, institutionelle Umbauten, eine effektive Rechtsordnung und marktwirtschaftliche Reformen. Wenn diese Bedingungen eingelöst seien, so kündigte Bush an, würden die Vereinigten Staaten die Gründung eines palästinensischen Staates unterstützen, "dessen Grenzen und gewisse Aspekte seiner Souveränität so lange provisorisch sind, bis sie als Teil einer endgültigen Lösung im Nahen Osten geklärt werden". An dieser zweifelhaften Orientierung knüpfte im Dezember 2002 das "Quartett" aus EU, Russland und dem UN-Generalsekretär in Absprache mit den Amerikanern an, als es die Elemente einer politisch-operativen Wegekarte ("road map") vorlegte, in vier Schritten bis 2005 alle strittigen Probleme - Staatsgrenzen, Jerusalem, Flüchtlinge und Siedlungen - zu klären und darüber hinaus die Voraussetzungen für die endgültige Regelung des Verhältnisses zwischen Israel, Syrien und Libanon zu schaffen.

Die israelische Antwort ließ nicht lange auf sich warten: Sharon präsentierte "hundert Einwände". Vor wenigen Tagen verband er die Bereitschaft zu "schmerzhaften Kompromissen" - eine Formel, die ursprünglich im linken Lager geprägt wurde - mit dem Hinweis, dass jede politische Lösung die historischen und die strategisch-sicherheitspolitischen Interessen Israels gewährleisten müsse. Seine Regierung wolle alle politischen Konzessionen an den Vorbehalt der Kabinettsdisziplin binden. Was dies bedeutet, hatte Sharon schon früher ausgeführt: die Segmentierung eines künftigen Staates Palästina in einer Größe von rund vierzig Prozent der besetzten Gebiete bei gleichzeitiger Bestandsgarantie für alle Siedlungen einschließlich ihres "natürlichen Wachstums", der Kontrolle des Luftraums und der Außengrenzen sowie der Verfügung über die Wasserquellen. Nach den Worten eines israelischen Kommentators, der linken Neigungen unverdächtig ist, schickt sich Sharon an, an der Spitze einer extremistischen Regierung das sich andeutende internationale Einvernehmen zur Lösung des Konflikts frühzeitig ad absurdum zu führen.

Der von der Autonomiebehörde offiziell für den 8. März angekündigten Wahl eines Ministerpräsidenten, der nach den Vorstellungen des "Quartetts" die politische Geschäfte von Arafat übernehmen soll, kommt deshalb nur eine geringe Bedeutung zu, schon dessen schwache Hausmacht wäre der Garant seines Scheiterns. Ob dabei Arafats künftige Rolle auf die eines "Zeremonienmeisters" reduziert wird, auch dies ist völlig unerheblich. Denn davon abgesehen, dass Sharon "technisch" darüber entscheidet, ob das PLO-Zentralkomitee und das palästinensische Parlament überhaupt zusammentreten können oder erneut auf eine Videoschaltung angewiesen sind, um den neuen Amtsträger zu bestätigen, steht nicht zu erwarten, dass die Machtübergabe politischen Erfolgen den Weg ebnet, solange die israelische Regierung auf ihren Trümpfen beharrt: dem Souveränitätsmonopol, das auf fast alle Lebensbereiche der palästinensischen Bevölkerung ausstrahlt, wie der jüngste "Palestinian Human Development Report 2002" unterstreicht, der von einem Team an der Birzeit University veröffentlicht worden ist, und dabei auch die Defizite der palästinensischen Innenpolitik nicht ausspart.

Dass Sharon die Autorität Arafats so weit untergraben hat, so dass er jetzt behaupten kann, seine politische Kompetenz reiche nicht mehr aus, gegen Terrorakte mit der notwendigen Härte vorzugehen, hat jedoch einen brisanten Bumerang-Effekt ausgelöst: Indem sich die Herrschaft des Autokraten ihrem Ende nähert, wird immer deutlicher, dass das gesamte Gefüge der Autonomiebehörde in sich zusammenfällt. Das jüngste Indiz dafür hat die gescheiterte "Versöhnungskonferenz" zwischen der PLO und der "Islamischen Widerstandsbewegung (Hamas)" in Kairo geliefert, der eine Annäherung des militärischen Arms von "Fatah", der "Al-Aqza-Brigaden", an die Islamisten in Wort und Tat vorausging. "Hamas" verlangt eine grundlegende Reform der palästinensischen Institutionen mit dem Ziel, den eigenen Einfluss auf den politischen Entscheidungsprozess so zu stärken, dass niemand an ihrem politischen Willen vorbeikommt.

Zwar wollte Arafat "Hamas" durch die Proklamation des Islam als Religion eines künftigen Staates Palästina und der "Sharia als Quelle der Gesetzgebung den Wind aus den Segeln nehmen, doch das Original ist allemal attraktiver als die Kopie, der es nicht gelungen ist, die Unterschrift unter die Osloer Vereinbarungen in der palästinensischen Bevölkerung vergessen zu machen. Noch beschränkt sich, abgesehen von Städten wie Hebron, der Aktionsradius von "Hamas" im wesentlichen auf den Gazastreifen, doch die ungebremste Fortsetzung der israelischen Politik in der Westbank wird dafür sorgen, dass der militante Islamismus auch auf diesen Teil der besetzten Gebiete übergreift.

Nach seinem Sieg über Saddam Hussein wird Bush sich also im Namen des Feldzuges gegen die Achse des Bösen vor der nächsten "Aufgabe" stehen: Seine bisher vagen Pläne für die Neuordnung im Nahen Osten hätten nunmehr ein konkretes Projekt im Auge: im Verein mit Sharon die Liquidierung der "palästinensischen Frage" - nicht im Zuge eines erzwungenen Massenexodus, sondern durch die Definition des Charakters eines "wahrhaft demokratischen Staates Palästina". Damit träfen sich Bushs Vorstellungen eines Regimewechsels in Bagdad mit Sharons zäher Absicht, in den "befreiten Gebieten" den Siedlungen die Weihe jener Legalität zu verleihen, die von dem missionarischen Gestus seines transatlantischen Verbündeten respektiert wird, weil Israel sich als einzige Konstante in einer von ethnischen, religiösen und sozialen Widersprüchen geprägten Region erweist. Mit dieser Drohkulisse würde sich endgültig bestätigen, was manche Beobachter vermutet haben: dass Arafats notorische Strategieschwäche, die sich in Camp David und in Taba zwischen Juli 2000 und Januar 2001 in einer brüsken Verweigerungshaltung niederschlug, ein kapitaler Fehler war.


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