Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Vor dem Offenbarungseid

Europäische Interessenpolitik wäre gut beraten gewesen, die Beschädigung von Abbas zu verhindern

Von Reiner Bernstein, München*

Anders denn das Geständnis des Scheiterns der westlichen Diplomatie im Nahen und Mittleren Osten wird man Joschka Fischers Gastbeitrag in der „Süddeutschen Zeitung“[1] nicht bezeichnen können. Es hat wohl seines Amtsverzichts bedurft, um jenen Pessimismus zu bekennen, der durch Fischers Zeilen durchscheint. Nachdem der deutsche Außenminister außer Diensten, der im Nahen Osten allseits geschätzt war, den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern gleichsam zu seinem privaten politischen Domäne erklärt hatte, in den er sich nicht hineinreden lassen wollte, scheinen nunmehr sämtliche Vorschläge und Ideen, die dem Ziel der sozialen, ökonomischen und kulturellen Modernisierung aller Staaten in der Region mit der Folge der friedlichen Koexistenz dienen sollten, von der auch Europa profitieren kann, mit einem Mal zerstoben zu sein. Mit einem Mal? Waren die Dramen und Verheerungen nicht seit langem erkennbar, schon während der Regierungszeit von Rot-Grün in Berlin?

Vermutlich gehört es zur Misere hoher politischer Verantwortungsträger, dass sie erst nach der Befreiung von ihren schweren Pflichten ungeniert jene Probleme thematisieren können, die seit langem die Öffentlichkeit und die Medien beschäftigen, ohne dass es diesen zumindest in der Außenpolitik vergönnt ist, nachhaltigen Eindruck auf den Entscheidungsebenen zu hinterlassen. Wie anders wäre zu erklären, dass Fischer unverblümt die „einseitig geschaffenen Realitäten“ kritisiert, die Israel in den palästinensischen Gebieten geschaffen hat, dass er die „Road Map“, auf die er so große Stücke gesetzt hatte, nach dem Sieg von „Hamas“ für „erledigt“ hält und dass er die schweren Ausfälle des iranischen Präsidenten gegen Israel unverhüllt als das geißelt, was sie sind: „schäumende(r) Antisemitismus“?

Fischers Ausführungen entsprechen dem Ernst der Lage in der Region, daran besteht kein Zweifel. Seit langem ist die Skepsis verbreitet, ob freie Wahlen in den „durch und durch islamisch geprägten Gesellschaften“ des Nahen und Mittleren Ostens historisch geradezu zwangsläufig Modernisierung und Demokratie fördern werden. Was die israelische Politik angeht, befürchtet Fischer weitere einseitige Schritte, und „Hamas“ dürfte es schwerfallen, in kurzer Zeit ihren Charakter als „gelistete Terrorgruppe“ zu ändern. Die Frage ist nur, welche definitiven Folgerungen sich daraus ergeben.

Zu den selbstkritischen Bekenntnissen würde es gehören, dass die westliche Diplomatie bislang wenig oder gar nichts getan hat, um die kontinuierliche Schwächung von Machmud Abbas durch Ariel Sharon auf der einen und durch die Islamisten auf der anderen Seite zu verhindern. Wenn Fischer ahnt, dass es nach deren Sieg bei den Wahlen am 25. Januar für „einen möglichen Friedensprozess (…) keinen Partner mehr“ gäbe, so ist scheinbar in Berlin nicht zur Kenntnis genommen worden, dass Israel diese Absage nicht nur Arafat erteilt hatte, sondern auch auf seinen Nachfolger übertrug. Europäische Interessenpolitik, von der israelischen und der palästinensischen ganz zu schweigen, wäre gut beraten gewesen, kraftvoll die Beschädigung von Abbas zu verhindern. Nun steht zu gewärtigen, dass die „internationale Gemeinschaft“ erneut abwartet, nämlich wie sich die palästinensische Politik unter dem Einfluss von „Hamas“ neu sortiert und wie Ehud Olmerts „Kadima“-Partei bei den Wahlen am 28. März abschneidet.

Vor vier Wochen hat Fischer schon einmal eine kritische Bilanz gezogen.[2] Damals bezeichnete er Sharons Entscheidung des Rückzugs aus dem Gazastreifen als einen „unerhörten, ja fast revolutionär“ zu nennenden Vorgang, obwohl der israelische Ministerpräsident nach seinen Erfahrungen „weder als Militär noch gar als Politiker ein Mann des Friedens“ gewesen sei. Doch trotz solch düsterer Untertöne glaubte er an eine, in die Zukunft weisende Perspektive: Mit der Vorlage der "Genfer Initiative" sei das von Sharons Politik ausgelöste politische Vakuum in Israel und international sichtbar gemacht worden. Wenn man achtsamen Formulierungen der Diplomatensprache entschlüsseln will, mag man eine Ermutigung für jene Palästinenser und Israelis herauslesen, die im Dezember 2003 jenen detaillierten Friedensvertragsentwurf vorgelegt haben.

Was wäre aus all dem zu lernen? Zumindest dreierlei: Zum einen, dass die Nahostpolitik nicht im Westen, sondern in der Region selbst gemacht wird; die Völker haben sich auf den Weg zu Subjekten der Geschichte gemacht, auch wenn er von erheblichen innen- und außenpolitischen Verwerfungen begleitet wird. Daraus folgt zweitens, dass sich internationale Friedenspläne regelmäßig dem Ruch einer unerwünschten Intervention aus der Fremde aussetzen – es sei denn, dass die „internationale Gemeinschaft“ mit Nachdruck zu ihren politischen Grundüberzeugungen steht und gewillt ist, ihnen geduldig entsprechende Geltung zu verschaffen. Da derartiger Mut nicht erkennbar ist, zeichnet sich drittens ein ganz anderes Szenario am israelisch-palästinensischen Horizont ab:

Denn wenn die gewalttätig ausgetragenen Grabenkämpfe in der Westbank und im Gazastreifen andauern, werden künftig Kairo und Amman eine größere politische Rolle spielen, als den Palästinensern lieb sein kann. Der Eingriff wäre gleichzeitig eine dringliche Aufforderung an die islamistischen Kräfte in Ägypten und Jordanien, an die Stelle von politischer Destabilisierung einen Kurs evolutionärer Reformen einzuschlagen, die am Ende den systemischen Autokratismus überwinden helfen. Zwischen Mittelmeer und Jordansenke selbst käme eine weitere Variante der von Sharon in den 1970er Jahren favorisierten „jordanischen Option“ ins Spiel, die auf die Verhinderung eines souveränen und lebensfähigen Staates Palästina hinauslaufen würde. Da nicht damit zu rechnen ist, dass sich die palästinensische Bevölkerung diese Entmündigung bieten lässt, würde die Bedrohung eines „asymmetrisch geführten Bodenkrieges“, den Fischer für den Fall einer militärischen Invasion der USA in Iran beschwört und die „alle im Irak gemachten Erfahrungen in den Schatten stellen“, vor Palästinensern und Israelis nicht haltmachen.

Wer diese Glut austreten will, kommt politisch nicht darum herum, sich den Text der „Genfer Initiative“ vorzunehmen und an ihm weiterzuarbeiten. Denn früher oder später wird er die entscheidende Rolle spielen. Da dem so ist, dann lieber heute als morgen, um weiteres Blutvergießen zu verhindern. Die jüngste repräsentative Meinungsumfrage der Universität Tel Aviv unterstreicht, dass mehr als vierzig Prozent der Israelis politische Verhandlungen mit einer „Hamas“-geführten Regierung befürworten. Auf palästinensischer Seite liegt die Zustimmungsrate zu Gesprächen mit Olmert noch höher. Wie lange will es sich die westliche Diplomatie noch leisten, das wachsende Bedürfnis nach einem dauerhaften Frieden in den Wind zu schlagen und Metternichs Prinzipien der Staatsräson zu folgen, die allein den Regierenden das Heft des politischen Handelns zugesteht? Fischer verlangt zwar, die „Kräfte der Modernisierung, der Demokratie und Toleranz zu stärken“, aber dazu wäre schon zwischen 1998 und 2005 Zeit gewesen. Da sie zu wenig genutzt worden ist, muss heute konkrete Politik betrieben werden, um den Nachweis der Handlungsfähigkeit zu erbringen. Die neuerliche Beschwörung von Allgemeinplätzen führt in die Irre.

Fußnoten
  1. Joschka Fischer: Grimmige Alternativen. „Wegschauen und Schönreden“ wird dem Westen nichts nützen: Ein transatlantisches Angebot, in SZ 11./12.2006, S. 8.
  2. Joschka Fischer. Es gibt keinen Weg zurück, in „Die Zeit“ 12.1.2006, S. 3.
* Der Autor hat zuletzt das Buch „Von Gaza nach Genf. Die Genfer Friedensinitiative von Israelis und Palästinensern“, Schwalbach/Ts. 2006, vorgelegt.


Zurück zur Seite "Naher Osten"

Zur unserem Dossier "Genfer Initiative"

Zurück zur Homepage