Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Es geht um eine politische Lösung"

Reiner Bernstein: Militär dominiert Israel

Der Münchner Historiker und Politikwissenschaftler Reiner Bernstein (Jahrgang 1939) hatte sich als deutscher Verbindungsmann der Genfer Friedensinitiative von Israelis und Palästinensern zur Verfügung gestellt. Die im Jahr 2003 gegründete Initiative spricht sich für eine Zwei-Staaten-Regelung zur Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts aus.
Bernstein gab dem "Neuen Deutschland" ein Interview (Fragen: Stefan Wirner), das wir im Folgenden dokumentieren.



ND: Es war wie so oft im Nahen Osten: Es gibt hoffnungsvolle Zeichen, wie diesmal die Initiative palästinensischer Gefangener, die sich für eine Zwei-Staaten-Regelung aussprachen und auch Israel anerkennen wollten. Dann kommt es zu einer Eskalation. Warum?

Bernstein: Es gibt innerhalb der israelischen und der palästinensischen Gesellschaft keinen Konsens darüber, was eine Zwei-Staaten-Lösung angesichts der Realitäten ausmachen würde. Die Palästinenser haben sich nur mit Mühe darauf verständigt, dieses Gefangenendokument zu akzeptieren, es hat lange politische Kämpfe gegeben, und die israelische Politik hat sich von Anfang an von diesem Dokument distanziert. So besteht nach wie vor zwischen beiden Völkern ein Patt, das zu Lasten der Palästinenser wegen ihrer staatspolitischen Unebenbürtigkeit geht.

Wie hätte die israelische Regierung auf die Entführung von Soldaten und den andauernden Raketenbeschuss reagieren sollen?

Die früheren Ministerpräsidenten Rabin und Barak standen nach der Entführung israelischer Soldaten vor einem ähnlichen Problem. Sie haben den Versuch unternommen, diplomatisch zu reagieren und auf militärische Optionen zu verzichten. Insofern ist das, was Olmert und das israelische Militär heute tun, eine neue Dimension. Sie versuchen, die Hisbollah mit militärischen Mitteln abzuwehren, was nach Lage der Dinge nicht funktionieren wird. Je mehr das israelische Militär bombt, desto größer wird die Solidarisierung der libanesischen Bevölkerung mit der Hisbollah ausfallen. Die libanesische Regierung ist schwach, sie ist abhängig von Syrien und Iran. Von ihr kann man nichts erwarten.

Was halten Sie von der Absicht der israelischen Regierung, militärisch die Freilassung der Soldaten und die Entwaffnung der Hisbollah zu erreichen?

Ich halte davon wenig, und zwar deswegen, weil ich glaube, dass das Militär das Sagen hat. Die Regierung läuft dem Militär mehr oder minder hinterher. Die wichtigen Entscheidungen werden von den Kommandeuren getroffen. Politisch stellt sich generell die Frage, wie es weitergehen soll, wenn es zu einem Waffenstillstand gekommen ist. Die israelische Regierung hat betont, dass mindestens zehn bis vierzehn Tage vergehen werden, bis sie ihre militärischen Ziele erreicht hat. Das bedeutet, dass in dieser Zeit die Zivilbevölkerung auf beiden Seiten weitere Verluste wird hinnehmen müssen.

Israel hat den Gazastreifen verlassen und musste im Anschluss den Beschuss aus diesem Gebiet erdulden. Ähnliches geschah nach dem Abzug aus Südlibanon, wo die Hisbollah in das Vakuum vorstieß. Haben diese Abzüge die Hamas und die Hisbollah gestärkt?

Der grundlegende Fehler von Ariel Scharon war, mit der Autonomiebehörde keine Vereinbarung über den Abzug aus dem Gazastreifen zu treffen. Wenn Scharon dies getan hätte, hätte er implizit anerkannt, dass es auf der anderen Seite einen Partner gibt – einen Partner, der auch für die anderen strittigen Fragen Zuständigkeit reklamiert: bei den Problemen Westjordanland und Ost-Jerusalem sowie beim Thema der palästinensischen Flüchtlinge. In der Logik von Scharon war der einseitige Abzug richtig. Aber er führte dazu, dass der Gazastreifen ohne eine handlungsfähige und von der palästinensischen Bevölkerung anerkannte Autorität zurückblieb. In diese Lücke stießen die Radikalen vor.

Welche Schritte sind in der jetzigen Situation nötig?

Wir alle hoffen, dass es bald einen Waffenstillstand gibt. Die so genannte internationale Gemeinschaft muss den Druck auf alle Parteien erhöhen. Der gegenwärtige Krieg zeigt, dass die Probleme im Nahen Osten endlich politisch angepackt werden müssen: der israelisch-palästinensische Konflikt, das Verhältnis zwischen Libanon und Syrien, die Frage der Golan-Höhen und das Problem, welche Rolle Iran künftig in der Region spielt. Es geht darum, koordiniert alle politischen und diplomatischen Mittel einzusetzen, damit dieser unselige Konflikt endlich bereinigt werden kann. Ich spreche schon lange nicht mehr von Frieden. Es geht um Regelungen. Den Gegnern einer umfassenden Regelung auf beiden Seiten müssen die Mittel und Wege genommen werden, den Konflikt immer wieder in die Eskalation zu treiben.

Der iranische Parlamentspräsident wurde mit den Worten zitiert, der Krieg gegen Israel habe erst begonnen. Ist diese Drohung ernst zu nehmen?

Teheran ist natürlich gleichsam fein raus, weil es sich momentan nicht mehr darum kümmern muss, wie der Westen auf sein Atomprogramm reagiert. Ich halte die Drohung für nicht abwegig, ich schätze sie hoch ein. Aber ich glaube, dass auch in diesem Fall nur die politische Diplomatie weiterhilft. Es wird in dieser Region keine militärischen Lösungen geben.

Aus: Neues Deutschland, 24. Juli 2006


Zurück zur Seite "Naher Osten"

Zur Israel-Seite

Zur unserem Dossier "Genfer Initiative"

Zurück zur Homepage