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Zum Zerwürfnis zwischen Arafat und Abbas

Ein Interview mit Helga Baumgarten, Politologin an der Bir Zeit-Universität in Ramallah

Am 22. April 2003 brachte der Deutschlandfunk ein Interview mit der Politologin und Nahostspezialistin Prof. Dr. Helga Baumgarten, die viele Jahre in Israel/Palästina, u.a. an der Bir Zeit-Universität gearbeitet hat. Das Gespräch führte Hans-Joachim Wiese. Wir dokumentieren das Telefongespräch ohne die An- und Abmoderation.


Wiese: Frau Baumgarten, vordergründig geht es bei dem Streit zwischen Arafat und Abu Masen um Mohammed Dahlan, den ehemaligen palästinensischen Sicherheitschef im Gazastreifen. Abu Masen möchte ihn zu seinem neuen Innenminister machen, wogegen sich Arafat mit aller Macht sträubt. Warum?

Baumgarten: Ich denke, der Kontext ist das, was Sie am Anfang erwähnt haben, nämlich die andauernde israelische Besatzung, die eine ganz massive Gewalt gegenüber den Palästinensern angenommen hat. In diesem Kontext ist der Streit um Mohammed Dahlan entbrannt. Die Frage, worum es dabei geht, ist das Problem des nicht zustandegekommenen Friedens zwischen Palästinensern und Israelis. Palästinensische Gewalt oder ist es die fortgesetzte israelische Besatzung. Mohammed Dahlan nun steht für eine Option, die versucht, sämtliches Widerstandpotential auf der palästinensischen Seite mit Gewalt niederzuschlagen und zwar mit Unterstützung der Amerikaner und des CIA. Das heißt, was wir hier als Konflikt momentan haben, ist das Problem 'dürfen die Palästinenser gegen die israelische Besatzung Widerstand leisten und müssen sie das nicht, um sich behaupten zu können oder aber sollen sie sich voll und ganz den Amerikanern ausliefern?' und das würde nicht nur aus der allgemeinen palästinensischen Perspektive, sondern gerade auch aus Arafats bedeuten, dass man sich der amerikanischen Politik im Nahen Osten voll und ganz ausliefert und das hieße im zweiten, dass man sich auch der Politik von Ariel Sharon voll und ganz ausliefert, also Fortsetzung der Besatzung und fast nichts, was die Palästinenser am Ende der Straße zu erwarten hätten.

Wiese: Mit anderen Worten, Frau Baumgarten, Mohammed Dahlan gilt als Kandidat der Amerikaner und der Israelis gewissermaßen als Marionette?

Baumgarten: Genau.

Wiese: Woran macht man dieses Urteil fest?

Baumgarten: Nun, er ist ja im Laufe des Osloer Prozesses als Sicherheitsprozess im Gazastreifen eingesetzt worden. Die Kontakte in dieser gesamten Zeit zu den Amerikanern waren ausgezeichnet. Das ging so weit, dass der CIA in den palästinensischen Gebieten eine eigene Station eingerichtet hat. Mohammed Dahlan und sein counterpart in der Westbank Jibril Rajoub waren ständig Gäste beim CIA in den Vereinigten Staaten und schließlich kommt noch hinzu, dass Mohammed Dahlan sich nicht nur einmal damit gebrüstet hat, er sei der einzige, der in der Lage sei, jeglichen palästinensischen Widerstand mit Gewalt und effektiv niederzuschlagen.

Aber ist es nicht in der Tat so, eine Erfahrung, zumindest der zweieinhalbjährigen Intifada, dass der gewaltsame Widerstand der Palästinenser gar nichts gebracht hat, im Gegenteil, die Palästinenser sogar geschädigt hat?

Baumgarten: Das ist sicher eine mögliche Interpretation, dass bei dieser absolut überlegenen Gewalt seitens der israelischen Armee jeglicher palästinensischer Widerstand zum Scheitern verurteilt ist. Die Frage die sich nun stellt, ist nicht so sehr eine militärisch, sondern eine politische Frage. Das heißt, die Frage ist: Sind die Palästinenser in dieser Situation gezwungen, haben sie gar keine Alternative, jegliche politische Lösung, die von außen vorgeschlagen, um nicht zu sagen aufoktroyiert, wird, anzunehmen oder nicht. Und da scheiden sich nun die zwei Lager auf der Seite der Palästinenser. Arafat würde das Lager repräsentieren, das sagt: Wir müssen auf unseren legitimen politischen Zielen, wie sie ja andeutungsweise in Oslo niedergelegt sind, festhalten, während Mohammed Dahlan und Abu Masen die Position repräsentieren: Wir sind am Boden zerstört, egal, was man uns anbietet, das sollten wir akzeptieren. Die palästinensische Bevölkerung steht in diesem Streit, wenn man sich die letzten Umfragen anschaut, ganz eindeutig auf der Seite Jassir Arafats und betrachtet Abu Masen als einen irrelevanten Kandidaten. Ob der nun sein Ministerpräsidentenamt annimmt und seine Regierung einsetzen kann, hält die palästinensische Straße für weitgehend unwichtig, denn alles, was hier vorgeht, auf palästinensischem Land, wird bestimmt und determiniert durch die israelische Armee und israelische Politik.

Wiese: Also auch Abu Masen, Frau Baumgarten, ähnlich wie Mohammed Dahlen, gilt in den Augen der palästinensischen Bevölkerung als ein Vertreter derjenigen, die mit den Israelis kollaborieren, von denen wäre also kaum etwas zu erwarten?

Baumgarten: Ganz eindeutig so. Das heißt, wenn man sich aus palästinensischer Perspektive heute die sogenannte road map anschaut, wird sehr deutlich, dass diese den Palästinensern überhaupt gar nichts anzubieten hat. Sie unterstützt voll und ganz die israelischen Ziele und da Abu Masen und die von ihm ausgewählten Politiker mehr als ein mal deutlich gemacht haben, dass diese road map das einzige ist, was derzeit angeboten ist und dass man an ihr festhalten müsse, ist genau das die Einschätzung, dass es alles irrelevant wird und vor Ort absolut überhaupt nichts ändern. Und wie gesagt, die Perspektive auf der palästinensischen Straße, wir haben nur eine Möglichkeit, diese ganze Situation durchzustehen, das Ganze auszuhalten, um am Ende möglicherweise unter einer anderen israelischen Regierung wieder bessere Chancen zu haben. Was nicht bedeutet, ich denke, auch das sollte man betonen, dass Arafat nun als der unbestrittene politische Führer der Palästinenser angesehen wird. Auch seine Führungsqualitäten werden sehr stark in Frage gestellt. Er wird dafür verantwortlich gemacht, dass die Palästinenser in den Osloer Prozess gegangen sind und seine Popularitätszahlen sind auf dem historischen Tiefpunkt angekommen: Etwas über 20 Prozent von einstmals über 60 Prozent. Auf der anderen Seite muss man sagen, dass Abu Masen oder gar Mohammed Dahlen auf dieser Popularitätsskala überhaupt nicht vorhanden sind.

Wiese: Während sich nun Arafat und Abu Masen streiten, gibt es immer wieder blutige Übergriffe der israelischen Besatzungsarmee in den Palästinensergebieten, denen häufig auch unschuldige Zivilisten zum Opfer fallen. Wie passen denn diese Übergriffe zu der Ankündigung von Ministerpräsident Sharon, er sei zu einem Treffen mit Abu Masen bereit und wie er sagt auch zu schmerzhaften Kompromissen in der Siedlerfrage etwa?

Baumgarten: Genau das ist der Punkt und das, was die palästinensische Straße sieht. Was von israelischer Seite kommt sind auf der einen Seite leere Worte, was Sharon seit Jahren endlos wiederholt, schmerzhafte Kompromisse, kein Mensch weiß, was er damit meint und die israelische Presse zieht da schon relativ zynisch über ihn her. Auf der anderen Seite eben Tag für Tag massive Gewalt der israelischen Armee, die vor allem und inzwischen fast ausschließlich die palästinensische Zivilbevölkerung trifft. Vor zwei Tagen sieben Tote, ein palästinensischer Journalist, der ganz offensichtlich mit einem gezielten Schuss umgebracht wurde, derzeit ein Verfahren gegen israelische Soldaten in Hebron, die ganz offensichtlich einen jungen Palästinenser, den sie verhaftet haben, ohne jeglichen Grund innerhalb weniger Minuten zu Tode geschlagen haben, das nach monatelangen Versuchen seitens linker israelischer Journalisten endlich in Angriff genommen wurde und so weiter und so fort. Angebote gibt es keine auf der politischen Ebene. Was es gibt, ist die fortgesetzte kontinuierliche physische Gewalt der israelischen Besatzung, die Unmöglichkeit eines jeglichen geregelten Alltags für die Palästinenser durch die Absperrungen überall und eine ungestoppte Expansion der israelischen Siedlungspolitik auf der anderen Seite.

Deutschlandfunk, 22. April 2003, 6.50 Uhr

Vgl. zu diesem Thema die ebenfalls sehr aktuelle Analyse des israelischen Journalisten und Friedensaktivisten Uri Avnery: "Abu gegen Abu" - Arafat kontra Mahmut Abbas


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