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Wer ist der Nächste? / Who's Next?

"Im Augenblick ist Abu-Mazen der Feind Nummer eins." Von Uri Avnery / "As of now, Abu-Mazen is Enemy No. 1." by Uri Avnery

In dieser Woche verkündigte Sharon, er werde mit Abu-Mazen nicht sprechen, solange er nicht die Hetze gegen Israel in allen Medien und Schulen gestoppt habe. Genau so gut könnte man von Abu-Mazen verlangen, den Mond vom Himmel zu holen. Wie kann der neue demokratische Vorsitzende die Redefreiheit im Fernsehen und in der Presse verbieten – während die Hetze gegen die Palästinenser in den israelischen Medien auf Hochtouren weiterläuft, ganz zu schweigen vom Tanz auf Arafats Grab? Unmögliche Forderungen als Vorbedingung für Verhandlungen zu stellen, ist Sharons alter Trick.

George W. Bush ist ein Produkt des Mythos vom Wilden Westen. Er sieht sich selbst als schlagfertiger Sheriff, der schnell auf böse Kerls schießt, um die Ordnung in der Stadt wieder herzustellen. Tatsächlich ähnelt er eher einer anderen Figur der Wildwest-Filme: den Zylinder tragenden Verkäufer von Allheilmedizin, die gegen Zahn- und Bauchschmerzen, Cholera und Impotenz, Schusswunden und Herzattacken hilft.

Bushs Patentmedizin heißt „Demokratie“ . Demokratie wird alle Übel im Nahen Osten und auf der ganzen Welt heilen. Wenn nur die muslimischen Nationen seine kleine Flasche kaufen würden, dann wären alle Probleme gelöst und vor allem der israelisch-palästinensische Konflikt. Und da Israel schon eine beispielhafte Demokratie ist, geführt vom großen Demokraten Ariel Sharon, so ist es nur noch nötig, den Palästinensern die Demokratie aufzuerlegen. Das bedeutet freie Wahlen eines Präsidenten und Parlamentes.

Eine Person mit begrenzter intellektueller Kapazität braucht einfache Lösungen, eine ein-dimensionale Lösung, die nicht verlangt, sich mit der Vielschichtigkeit anderer Gesellschaften und Zivilisationen näher zu befassen. Was für seine kleine Stadt in Texas gut ist, ist auch gut für Bagdad und Gaza.

Seit er die Wiederwahl gewonnen hat, ist sein Selbstvertrauen himmelhoch gestiegen. Er warf den unglücklichen Colin Powell hinaus und setzte eine garantierte Jasagerin ins Amt des Außenministeriums. Ab jetzt wird keiner mehr seine Entscheidungen hinterfragen. Auch dann nicht, sollte er auf die Idee kommen, sein Pferd zum Präsidenten des Obersten Gerichtes zu ernennen.

Wer macht sich Sorgen? Ausgerechnet Ariel Sharon, sein großer Freund, Lehrer und Führer. Das Schicksal wollte es, dass Bush seinen großen Sieg einen Tag vor dem plötzlichen mysteriösen Zusammenbruch von Yasser Arafats Gesundheit errang. Sharons Alibi wurde in Ramallah beerdigt.

Alle israelischen Regierungen haben Arafat in ein Monster verwandelt und seine Ungeheuerlichkeit als Ausrede verwendet, um jeden Versuch, einen Frieden mit den Palästinensern zu schließen, zu vermeiden. Frieden bedeutet, sich mehr oder weniger auf die Grenzen von vor 1967 zurückzuziehen und die Siedlungen aufzugeben. Frieden bedeutet auch, Ost-Jerusalem, mehr als die Hälfte von „ Israels ewiger Hauptstadt “, aufzugeben. Gott behüte!

Die Dämonisierung Arafats half dies zu verhindern. Man kann doch nicht mit einem Monster Frieden schließen. Das verstand sogar Bush. Deshalb half er Sharon, die Wahlen für die palästinensische Behörde zu verhindern, bei der Arafat mit riesiger Mehrheit sicher wiedergewählt worden wäre.

Aber nun gibt es Arafat nicht mehr – aber Bush gibt es. Sharon ist beunruhigt. Zu Recht. Seit vier Jahren heißt das Mantra in Washington: Kampf dem internationalen Terror! Das passte Sharon ins Konzept; denn er ritt ja auf dem Pferd der Terrorismusbekämpfung. Während der nächsten vier Jahre mag das Mantra in Washington „Demokratie dem Nahen Osten!“ heißen. Das wird Abu-Mazen passen, der das Pferd der Demokratie reitet. Abu-Mazen ist zum Vorsitzenden der PLO ernannt worden. Abu-Mazen trägt den Anzug eines Geschäftsmannes, keine Uniform. Er trägt auch eine Krawatte und keine Keffiye. Er sieht wie ein normaler demokratischer Führer aus. Er ist für seine Opposition gegen Selbstmordattentate in Israel bekannt. Entgegen allen israelischen Voraussagen fand die palästinensische Machtübergabe in geordneter Weise stand, so wie in jedem zivilisierten Land. Innerhalb zweier Monate sollen Neuwahlen stattfinden.

Genau das bringt Sharon aber in Verlegenheit. Er kann sich nicht gegen diese Wahlen stellen. Sie sind Bushs Augapfel. Er darf nicht den leisesten Verdacht aufkommen lassen, er wolle sie zum Scheitern bringen. Jede Beschwerde, die israelische Armee hindere die Wahlen durch militärische Einfälle, Straßensperren und „gezielte Attentate“, kann im Weißen Haus Zorn erregen.

Sharon hofft, die Palästinenser würden ihre Wahlen selbst sabotieren. Bewaffnete Fraktionen können den ordentlichen Prozess stören. In der letzten Woche gab es beim Besuch Abu- Mazen in Gaza eine Schießerei – was in Israel riesige Schadenfreude auslöste. Doch der Zwischenfall ist vorbeigegangen; alle palästinensischen Fraktionen zeigten Zurückhaltung. Das Volk ist sich in seinem Wunsch einig, die Wahlen friedlich durchzuführen.

Für Sharon ist es ein Alptraum. So wie es jetzt aussieht, werden tatsächlich Wahlen stattfinden – verschiedene Kandidaten werden aufgestellt – und Abu-Mazen wird zum Präsidenten gewählt werden.

Für Bush wird dies ein großer Erfolg sein: die erste arabische Demokratie ist auf dem Weg. Selbst wenn Anarchie im Irak herrscht, Palästina wird beweisen, dass seine Vision wahr wird. Bush wird Abu-Mazen herzlich umarmen. Der Weg zu einem „freien palästinensischen Staat“ wird innerhalb von vier Jahren offen sein.

Für Sharon gibt es keine größere Gefahr. Sein Plan - 58% der Westbank zu annektieren – wird von der Agenda gestrichen. Er wird aufgefordert werden, die meisten Siedlungen aufzulösen und vorher noch ihren Ausbau einzufrieren.

Was noch schlimmer ist, die exklusive Beziehung zu Bush wird in Brüche gehen. Das Paar wird zu einer Dreiecksbeziehung und drei ist eine Menge. Condoleeza ist dabei, sich mit Abu-Mazen zu treffen.

Was kann dagegen getan werden? Klar, Abu-Mazen muss vernichtet werden, bevor er die Möglichkeit erhält, Wurzeln zu schlagen. Doch ist auch klar, dass Sharon nicht offen gegen ihn vorgehen kann. Eine indirekte Strategie wäre angesagt.

Noch bevor Arafat seine Seele seinem Schöpfer zurückgab, erklärte Sharon, es werde keine Verhandlungen mit seinem Nachfolger geben, solange dieser nicht mit dem Terrorismus ein Ende gemacht habe. Er hoffte, das Zauberwort „Terrorismus“ lasse Bush aufschrecken. Und nachdem sogar Arafat mit seiner gewaltigen Autorität die Hamas und den Jihad nicht entwaffnet hat, gibt es nicht die geringste Aussicht, dass Abu-Mazen dies gelingen würde.

Die Amerikaner werden nicht in diese primitive Falle stolpern. Und darum entschied Sharon, noch etwas raffinierter vorzugehen. In dieser Woche verkündigte er, er werde mit Abu-Mazen nicht sprechen, solange er nicht die Hetze gegen Israel in allen Medien und Schulen gestoppt habe.

Genau so gut könnte man von Abu-Mazen verlangen, den Mond vom Himmel zu holen. Wie kann der neue demokratische Vorsitzende die Redefreiheit im Fernsehen und in der Presse verbieten – während die Hetze gegen die Palästinenser in den israelischen Medien auf Hochtouren weiterläuft, ganz zu schweigen vom Tanz auf Arafats Grab? Und wie verändert man Schulbücher (die meisten von ihnen auf jeden Fall ägyptisch und jordanisch) innerhalb von zwei Monaten – während in Israels Schulen, besonders in den religiösen - mündlich und schriftlich – das Recht der Palästinenser auf ihr Land völlig abgestritten wird?

Unmögliche Forderungen als Vorbedingung für Verhandlungen zu stellen, ist Sharons alter Trick. Man kann annehmen, dass die Amerikaner auch nicht in diese Falle stolpern. Irgendetwas Schlimmeres müsste bald geschehen, z.B. blutige Angriffe, Akte von „Terrorismus“, die dem neuen Führer angelastet werden können, Bürgerkrieg und Anarchie. Abu-Mazen und seinen Kollegen ist das vollkommen bewusst. Sie bemühen sich darum, dies zu verhindern. Da sie aus Mangel keine Mittel der Gewalt anwenden können, versuchen sie es mit Überzeugung. Die traditionelle arabische Methode ist „Idschma“ – eine Runde von Diskussionen, die solange geht, bis jeder überzeugt ist, und keine Minorität sich von einer Majorität besiegt fühlt. Arafat war ein Meister dieser Strategie.

Wenn dies gelingt, dann wird es bis zu den Wahlen eine vorübergehende Waffenruhe geben. Aber das Hauptproblem bleibt bestehen. Abu-Mazen wird nicht in der Lage sein, sein Volk davon zu überzeugen, die bewaffnete Intifada zu beenden, wenn er nicht einen anderen Weg aus der Besatzung und zur palästinensischen Unabhängigkeit aufzeigen kann. Wenn die Amerikaner wollen, dass die neue Regierung bleibt, müssen sie für schnellen Beginn von Verhandlungen sorgen und zwar mit dem klaren Ziel, einen palästinensischen Staat innerhalb eines strikten Zeitplans zu errichten.

Sharon wird alles nur Mögliche tun, um Abu Mazen zu vernichten, bevor dies geschieht. Er stürzte die erste Abu-Mazen-Regierung vor zwei Jahren, indem er alles, was politischen Fortschritt gebracht hätte, verhinderte, (und wie gewöhnlich, Arafat dafür die Schuld gab) Nun muss er Abu-Mazen unter sehr viel schwierigeren Umständen stürzen.

Machen wir uns keine Illusionen: Sharon wird jedes Mittel anwenden - offene genau so wie verdeckte - um eine „moderate“ palästinensische Führung zu Fall zu bringen. Sein natürlicher Verbündeter ist HAMAS, der jede Verhandlung mit Israel ablehnt.

Im Augenblick ist Abu-Mazen der Feind Nummer eins.

Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert

Who's Next?

by Uri Avner<

George W. Bush is a product of the Wild West myth. He sees himself as the fast-drawing sheriff who kills the bad guys and maintains order in town.

But in fact he is much more like another stock figure of the Westerns: the top-hatted vendor of the patent medicine which heals everything: tooth-ache and belly-ache, cholera and impotence, gunshot wounds and heart attacks.

Bush's patent medicine is called "democracy". Democracy will heal all the diseases of the Middle East and the entire world. If only the Muslim nations would buy his little flask, all problems would be solved, and foremost among them the Israeli-Palestinian conflict. And since Israel is already an exemplary democracy, led by that great democrat, Ariel Sharon, all that is needed now is to impose democracy on the Palestinians. This means free elections for president and parliament.

A person with limited intellectual capacity needs simple solutions. A one-dimensional solution that does not demand delving into the complexities of other societies and civilizations. What's good for his little Texan town must be good for Baghdad and Gaza, too.

Since winning reelection, his self-confidence has shot sky high. He has kicked out the hapless Colin Powell and put a certified yeswoman in charge of the State Department. From now on, nobody will question his decisions anymore. Not even if he appoints his horse Chief Justice.

So who is worried? Of all people, Ariel Sharon, his great friend, teacher and guide.

As fate would have it, Bush achieved his great victory one day before the sudden, mysterious breakdown of Yasser Arafat's health. Sharon's alibi was buried in Ramallah.

Successive Israeli governments have presented Arafat as a monster and used his monstrosity as a pretext for undermining any attempt to impose peace upon them. Peace means withdrawing to the pre-1967 border, more or less, and dismantling the settlements. Peace means giving up East Jerusalem, more than half of the "eternal capital of Israel". God forbid!

The demonization of Arafat helped avoid this. After all, one cannot make peace with a monster. Even Bush understood that. Therefore he helped Sharon prevent elections for the Palestinian Authority, in which Arafat was certain to be reelected by a landslide.

But now Arafat is not there, and Bush is. Sharon is very troubled. And rightly so.

For four years, the mantra in Washington has been: Fighting International Terrorism. That suited Sharon fine, since he was riding on the "fight terrorism" horse anyhow.

For the next four years, the new mantra in Washington may well be: Democracy for the Middle East. That will suit Abu-Mazen, who is riding the democracy horse.

Abu-Mazen has been chosen as Chairman of the PLO. Abu-Mazen wears a business suit, not a uniform. He wears a tie, not a kuffieh. He looks like an ordinary democratic leader. He is known for his opposition to the suicide bombings in Israel. Contrary to all Israeli predictions, the Palestinian transfer of power has taken place in an orderly manner, much as in any civilized country. Within two months, new elections are to take place.

That puts Sharon on the spot. He cannot object to elections, since they are the apple of Bush's eye. He must not raise the slightest suspicion that he is undermining them. Any complaint about the Israeli army hindering elections by incursions, roadblocks and "targeted assassinations" may arouse the ire of the White House.

Sharon is hoping that the Palestinians will sabotage their elections themselves. Armed factions may disturb the orderly process. Last week there was shooting during Abu-Mazen's visit to Gaza - which caused an outburst of joy and glee in Israel. But the incident passed, all Palestinian factions are showing restraint and the people are unified in their desire for peaceful elections.

For Sharon this is a nightmare. The way it looks now, elections will indeed take place, with several candidates standing - and Abu-Mazen will be elected president.

For Bush that will be a great achievement: the first Arab democracy will be on its way. Even if anarchy reigns in Iraq, Palestine will prove that his vision is coming true. Bush will embrace Abu-Mazen. The way to a "free Palestinian state" within four years will be open.

For Sharon, there is no greater danger. His plan - to annex 58% of the West Bank to Israel - will be struck from the agenda. He will be requested to dismantle most of the settlements, and before that to freeze all of them.

Worse: the intimate, exclusive relationship with Bush will be upset. The couple will become a triangle, and three is a crowd. Already Condoleezza is about to meet Abu-Mazen.

So what can be done? Clearly, Abu-Mazen has to be destroyed before he gets the chance to put down roots. But it is also clear that Sharon cannot conduct any overt act against him. A strategy of indirect approach is indicated.

Even before Arafat returned his soul to his maker, Sharon declared that there will be no negotiations with his successors until after they "put an end to terrorism". He hoped that the magic word "terrorism" would make Bush jump. And since even Arafat, with all his towering authority, did not disarm Hamas and Jihad, there is not the slightest chance that Abu-Mazen could do it.

The Americans did not fall into this primitive trap, and so Sharon decided to be a little more sophisticated. This week he announced that he will not speak with Abu-Mazen unless he immediately stops the "incitement" against Israel in all Palestinian media and schools.

Abu-Mazen might just as well be requested to pluck the moon from the heavens. How could the new democratic chairman abolish freedom of speech on TV and in the press - while incitement against the Palestinians continues in the Israeli media at full blast, not to mention their dancing on Arafat's grave? And how does one change the schoolbooks (most of them Egyptian and Jordanian in any case) within two months - while in Israeli schools, especially the religious ones, both orally and in writing, the right of the Palestinian people to their country is totally denied?

The presentation of impossible demands as a pre-condition to negotiations is an old trick of Sharon's. One may assume that the Americans will not fall into this trap again. Something more extreme and immediate must happen. For example: bloody attacks, acts of "terrorism" that can be attributed to the new chairman, civil war, anarchy.

Abu-Mazen and his colleagues know this full well. They are working to prevent this. Since they lack the means to apply force, they must use persuasion. The traditional Arab method is "Ijmah" - a round of discussions that goes on until everybody is persuaded, so that no minority will feel that it has been vanquished by a majority. Arafat was a past master of this.

If this succeeds, there will be a temporary cease-fire until the elections. But the main problem will remain: the new Chairman will be unable to persuade his people to end the armed intifada if he cannot show another way of ending the occupation and achieving Palestinian independence. If the Americans want the new regime to take hold, they must bring about the immediate start of negotiations, with the clear aim of establishing the State of Palestine within a strict timetable.

Sharon will do everything he can to destroy Abu-Mazen before this happens. He wrecked the first Abu-Mazen government, two years ago, by withholding anything which might contribute to political progress (blaming, as usual, Arafat). Now he must wreck Abu-Mazen under much more difficult circumstances.

Let no one have any illusions: Sharon will use every means, overt and covert, in order to destroy any "moderate" Palestinian leadership. His natural ally is Hamas, which opposes any negotiations with Israel. As of now, Abu-Mazen is Enemy No. 1.

November 20, 2004

Source: Homepage of Uri Avnery: www.uri-avnery.de


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