Appell zur Unterstützung der Friedensvision für den Nahen Osten
Ansprache des UN-Generalsekretärs Kofi Annan vor dem Gipfel der Arabischen Liga in Beirut
Im Folgenden dokumentieren wir die Rede von UNO-Generalsekretär Kofi Annan, die er am 27. März 2002 in Beirut vor dem Gipfel der Arabischen Liga gehalten hat.
Es ist mir eine besondere Ehre, heute bei Ihnen sein zu können. Ich
bin der Regierung und der Bevölkerung des Libanon -
vor allem Präsident Lahoud und Ministerpräsident Hariri - für die
freundliche Aufnahme, die sie mir zuteil werden ließen,
sehr dankbar. Mein besonderer Dank gilt Ihrer Majestät König
Abdullah für seine umsichtige und energische Führung, die
er im vergangenen Jahr als Vorsitzender der Arabischen Liga bewiesen
hat. Und ich begrüße gemeinsam mit Ihnen
Staatspräsident Lahoud als neuen Vorsitzenden der Arabischen Liga
und S.E. Amr Moussa als neuen Generalsekretär.
Es gibt heute keinen anderen Konflikt in der Welt, dessen Lösung so
klar ist, auf so breiter Zustimmung beruht und für
den Weltfrieden so notwendig ist, wie der
israelisch-palästinensische Konflikt. Tragischerweise gibt es aber auch
keinen
anderen Konflikt, dessen Weg zur Lösung mit so viel Hass und
Misstrauen gesät und der so anfällig für Handlungen von
Extremisten ist. Diese paradoxe Situation darf nicht länger
andauern. Mit politischem Mut und Führungskraft müssen wir
die Kluft zwischen unserer Friedensvision und der gegenwärtigen
Realität des Konflikts überwinden.
Es gibt eine Lösung für diese paradoxe Situation. Die politische
Führung beider Seiten, vor allem Ministerpräsident
Sharon und Präsident Arafat, müssen die strategische Entscheidung
für den Frieden auf der Grundlage einer gerechten,
dauerhaften und umfassenden Lösung treffen. Es ist ihre Aufgabe und
ihre Pflicht, ihre Völker vom Rande des Abgrunds
zurückzuholen. Die Geschichte und ihre Völker werden sie in
dankbarer Erinnerung bewahren, wenn sie dieser
Herausforderung gerecht werden; wenn nicht, müssen sie mit deren
hartem Urteil rechnen.
Wir alle sehnen eine neue Ära des Friedens und der Sicherheit für
alle Seiten herbei. Diese Hoffnung kommt auch in der
Sicherheitsratsresolution 1397 des Vormonats (hier irrt Kofi Annan, die Resolution wurde im selben Monat, im März 2002 verabschiedet, Anm. Pst) zum Ausdruck, in der
die Vision des Nahen Ostens als einer Region
beschworen wird, "in der zwei Staaten, Israel und Palästina, Seite
an Seite innerhalb von sicheren und anerkannten
Grenzen leben". Aufbauend auf seinen früheren Grundsatzresolutionen
242 und 338 hat der Sicherheitsrat damit einen
soliden Rahmen für eine gerechte und gangbare Lösung des
Palästinaproblems geschaffen.
Wir sind uns nicht weniger einig in unserer schweren Sorge um die
regionale Dimension dieses Konflikts und in unserer
Forderung nach einem umfassenden Frieden zwischen Israel und all
seinen Nachbarstaaten, einschließlich Syriens und
des Libanon. Die ganze Welt sehnt sich mit Ihren Völkern und dem
Volk Israels nach einem Ende des Blutvergießens
und des Leides.
Die Menschen in der arabischen Welt sind nicht allein in ihrer
Überzeugung, dass die Palästinenser ein Recht auf ihren
eigenen Staat in Frieden und Sicherheit haben; dass die lange Zeit
der Besatzung jetzt ein Ende haben muss; dass die
unerträglichen Lebensbedingungen der Palästinenser jetzt
unverzüglich verbessert werden müssen; und dass Israel seine
durch nichts zu rechtfertigenden Vorgehensweisen wie die gezielten
Mordanschläge und den Einsatz schwerer Waffen in
dicht bevölkerten Gebieten unverzüglich aufgeben muss.
Aber auch das Volk Israels steht nicht alleine da in seiner
Überzeugung, dass es auch ein Recht hat, in Frieden und
Sicherheit und ohne Terror zu leben; dass Selbstmordanschläge auf
israelische zivile Bürger moralisch zu verurteilen sind
und von allen arabischen Politikern nicht verherrlicht sondern
verurteilt werden sollten; und dass die arabische Welt
insgesamt ein für allemal, öffentlich und privat, das Existenzrecht
Israels anerkennen muss.
Diese Überzeugungen beider Seiten werden von den Menschen in aller
Welt geteilt.
Die Palästinenser haben recht, wenn sie eine Friedensperspektive
fordern. Wir alle wollen ein Ende der Besatzung, den
Rückzug israelischer Siedlungen und die Schaffung eines souveränen
palästinensischen Staates sehen. Und die Israeli
haben gleichermaßen das Recht, Friedensperspektiven zu erwarten. Wir
alle wollen von Ihnen, den politischen Führern
der Arabischen Liga, eine eindeutige und glaubhafte Zusage hören,
dass Israel, sobald es einen gerechten und
umfassenden Frieden geschlossen und sich von arabischem Territorium
zurückgezogen hat, mit Frieden und vollen
normalen Beziehungen mit der ganzen arabischen Welt rechnen kann.
Diese Zusage kann - und ich sage muss - Ihr
Beitrag zum Frieden zwischen den Palästinensern und Israel sein.
Der wichtige Vorschlag, den Seine Königliche Hoheit Kronprinz
Abdullah von Saudi Arabien vorgelegt hat, kann dazu den
Grundstein legen. Ausgehend von dem Grundsatz "Land für Frieden"
enthält dieser Vorschlag eine klare und
überzeugende Vision. Die Suche nach Frieden und Stabilität war noch
nie so dringend. Ich appelliere heute an Sie, sich
gemeinsam hinter diese Vision zu stellen und der Welt - und den
Parteien - zu zeigen, dass Sie bereit sind, ihnen bei
dem entscheidenden Schritt zum Frieden zu helfen.
Ich möchte jetzt kurz auf zwei weitere Länder eingehen, dessen
Schicksal, wie ich weiß, den Arabern und Muslimen, ja
der ganzen Welt besondere Sorge bereitet.
Ich habe Anfang des Monats in einer sehr offenen und nützlichen
Aussprache mit dem irakischen Außenminister die
Frage der Umsetzung der einschlägigen Sicherheitsratsresolutionen
erörtert. Wir werden uns im kommenden Monat
nochmals treffen. Inzwischen appelliere ich neuerlich an die
irakische Führung, im Interesse der irakischen Bevölkerung
und des Friedens in der Region unverzüglich alle einschlägigen
Resolutionen durchzuführen. Je eher sie akzeptiert, dass
es keinen anderen Weg zur Beendigung der Sanktionen und zur
Linderung des Leids ihrer Bevölkerung gibt, desto
rascher kann dieses Problem gelöst werden. Ich bin zuversichtlich,
dass Sie, die Führer der arabischen Welt, sich
diesem Appell anschließen werden.
Die Lage in Afghanistan ist eine weitere Mahnung daran, welche
Zerstörung und welches Leid ein Krieg mit sich bringen
kann. Die internationale Gemeinschaft hat eine nahezu beispiellose
Entschlossenheit gezeigt - vor allem auf der
Tokio-Konferenz im Januar, den Afghanen beim Wiederaufbau ihres
Landes zu helfen und damit den Grundstein für
dauerhaften Frieden zu legen. Saudi-Arabien war einer der
Ko-Vorsitzenden dieser Konferenz und auch viele andere
Länder, die heute hier vertreten sind, haben großzügige Hilfszusagen
gemacht. Das afghanische Volk baut auf Ihre Hilfe,
die angesichts der Naturkatastrophe, die zu den Verheerungen des
Kriegs jetzt noch hinzukommt, umso dringender
geworden ist. Ich spreche den Familien all jener, die bei dem
schrecklichen Erdbeben im nördlichen Afghanistan vor zwei
Tagen Angehörige verloren haben, mein tiefes Mitgefühl aus.
Die arabische Welt wurde durch anhaltende Konflikte, Misstrauen und
Instabilität viel zu lange daran gehindert, ihr volles
Potenzial zum Tragen zu bringen. Obwohl wir in einer Zeit der Krise
und der Spannungen zusammen gekommen sind,
bitte ich Sie eindringlich, an eine Zukunft des Friedens und
Wohlstands zu glauben und in Ihrer eigenen Gesellschaft die
erforderlichen Schritte zu unternehmen, um uns diesem Ziel näher zu
bringen. Ich appelliere an Sie, sich den aus
Extremismus, Hass und Intoleranz drohenden Gefahren entgegen zu
stemmen und dafür zu sorgen, dass sie keinen
Platz in Ihren Schulbüchern oder in den Herzen Ihrer jungen Menschen
finden.
Ihre Völker, wie jedes Volk auf der Welt, und vor allem Ihre Jugend
- die unter 20jährigen, die nahezu die Hälfte Ihrer
Bevölkerung ausmachen - sehnen sich nach den Chancen einer freien
und offenen Gesellschaft, die geprägt ist von guter
Regierungsform, Menschenrechten, Meinungsfreiheit und
Rechtsstaatlichkeit. Nur in diesem Umfeld können sie ihre
Fähigkeiten am besten entwickeln und für eine bessere Zukunft für
ihre Kinder sorgen. Nur so können Frieden, Stabilität
und Wohlstand zum Nutzen aller Völker dieser Region an die Stelle
von Armut, Analphabetentum und Extremismus
treten.
Ich wünsche Ihren Beratungen vollen Erfolg und danke Ihnen für die
Auszeichnung, heute zu Ihnen sprechen zu dürfen.
Ich danke Ihnen, und Friede sei mit Ihnen!
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