Palästinenser und Israeli müssen ihre Völker aus der Katastrophe herausführen
Die Rede des UN-Generalsekretärs Kofi A. Annan vor dem UN-Sicherheitsrat
Am 12. März 2002 gab UNO-Generalsekretär Kofi Annan im
Sicherheitsrat folgende Erklärung zur Lage im Nahen Osten ab:
Vor drei Wochen habe ich den Sicherheitsrat über die Lage im Nahen
Osten informiert. Ich habe damals davor gewarnt,
dass wir am Rande eines Abgrund stehen. Seither ist die Zahl der
Toten und Verwundeten - vor allem unter der
unschuldigen Zivilbevölkerung - auf eine Größenordnung angestiegen,
die ohne Übertreibung nur als zutiefst erschreckend
bezeichnet werden kann.
Die Spannungen zwischen Israelis und Palästinensern sind an einem
Siedepunkt angelangt. Wir stehen vor der
schlimmsten Lage der letzten zehn Jahre. Eskalation folgte auf
Eskalation, wobei wenig, in manchen Fällen gar keine,
Rücksicht auf unschuldige zivile Menschenleben genommen wurde.
Praktisch jeden Tag werden Handlungen gesetzt, die
in ihrem Ausmaß unverhältnismäßig und in ihrer Wirkung wahllos sind.
Das Ausmaß dieses Blutbades ist schrecklich. Seit dem Beginn der
gegenwärtigen Krise im September 2000 hat es
rund 1.200 Opfer unter den Palästinensern gegeben. Mehr als 180
mussten allein in den letzten zehn Tagen ihr Leben
lassen. Auf israelischer Seite fielen in den gleichen zehn Tagen 50
der insgesamt rund 350 Opfer an. Ich trauere wie wir
alle mit den Familien, die ihre Lieben verloren haben oder deren
Angehörigen verstümmelt oder verwundet wurden. Ich
trauere für Israel und für Palästina.
Mit der Vorlage meiner Beurteilung der Lage vor Ort möchte ich
zunächst sagen, dass ich zutiefst beunruhigt darüber bin,
dass Israel schwere Waffen in zivilen Wohngebieten einsetzt. Das hat
das Leben der palästinensischen Zivilbevölkerung,
die ohnedies bereits unter schwerem physischen und wirtschaftlichen
Druck steht, noch schwieriger und gefährlicher
gemacht.
Großangelegte Militäreinsätze zur Verfolgung militanter
Palästinenser unter Einsatz von Bodentruppen,
Kampfhubschraubern, Panzern und F-16 haben in zivilen Wohngebieten
und Flüchtlingslagern im Westjordanland und in
Gaza stattgefunden und zahlreiche Menschenleben gefordert. Darüber
hinaus berichten des Internationale Rote Kreuz
und andere Hilfsorganisationen, dass die israelischen
Verteidigungskräfte zunehmend die Sicherheit des ärztlichen
Hilfspersonals und der Ambulanzen missachten, die versuchen, die
Verwundeten zu behandeln oder aus den
Konfliktzonen zu evakuieren. Erst in der Vorwoche ist ein
Mitarbeiter der Vereinten Nationen in einer eindeutig
gekennzeichneten Ambulanz des Hilfswerks der Vereinten Nationen für
Palästinaflüchtlinge (UNRWA) getötet worden.
Andererseits haben auch die Palästinenser ihren vollen Teil an der
Eskalierung des Teufelskreises von Gewalt,
Gegengewalt und Rache zu verantworten. Palästinensische Gruppen
haben eine Reihe von Anschlägen auf israelische
Militäreinrichtungen und zivile Ziele ausgeführt. Sie haben
Kontrollpunkte der israelischen Verteidigungskräfte und
Siedlungen im Westjordanland und in Gaza angegriffen. Kassam
II-Raketen wurden gegen zivile Wohngebiete in
israelischen Städten abgefeuert. Besonders bestürzt bin ich über die
Selbstmordanschläge, die sich vorsätzlich gegen
Zivilpersonen richten und Angst und Schrecken unter der gesamten
Bevölkerung hervorrufen.
Vor diesem Hintergrund begrüße ich außerordentlich den Beschluss der
Vereinigten Staaten, General Zinni neuerlich in
die Region zu entsenden. Sowohl Präsident Arafat als auch
Ministerpräsident Sharon haben Schritte unternommen, um
seine Bemühungen zu erleichtern. Arafat hat schließlich alle
Verdächtigen im Zusammenhang mit der Ermordung des
israelischen Fremdenverkehrsministers Rehevam Zeevi verhaften
lassen. Sharon hat vernünftigerweise seine Forderung
nach einer siebentägigen Waffenruhe als Voraussetzung für die
Aufnahme von Verhandlungen fallen lassen.
Ich hoffe, dass sich beide Politiker konstruktiv mit General Zinni
um einen erneuten und verstärkten Dialog über die
politischen, Sicherheits- und wirtschaftlichen Dimensionen des
Friedensprozesses bemühen werden. Die Alternative wäre
für beide Seiten ein weiteres Blutbad und damit eine noch weitere
Verzögerung der Aussichten auf ein Ende der
Besetzung und der Gewalt.
Ich möchte mich jetzt direkt an die Bevölkerung und die Politiker
der beiden Seiten wenden.
Den Palästinenser sage ich: Sie haben das unveräußerliche Recht auf
einen lebensfähigen Staat innerhalb von sicheren
und international anerkannten Grenzen. Aber Sie müssen mit allen
Terroranschlägen und allen Selbstmordbomben
aufhören. Der vorsätzliche und wahllose Angriff auf Zivilpersonen
ist moralisch abstoßend. Das schadet Ihrer Sache
außerordentlich, denn es schwächt die internationale Unterstützung
und veranlasst die Israelis zu glauben, dass Sie
gegen ihre Existenz als Staat und nicht gegen die Besetzung kämpfen.
Den Israelis sage ich: Sie haben das Recht in Frieden und Sicherheit
innerhalb von sicheren und international
anerkannten Grenzen zu leben. Aber Sie müssen die illegale Besetzung
beenden. Noch dringender müssen Sie mit der
Bombardierung ziviler Wohngebiete, mit den Mordanschlägen, mit der
unnötigen tödlichen Gewalt, mit der Zerstörung von
Gebäuden und mit der täglichen Erniedrigung der einfachen
Palästinenser aufhören. Mit diesen Maßnahmen untergraben
Sie nur das Ansehen Israels in der internationalen Gemeinschaft und
schüren weiter den Hass, die Verzweiflung und den
Extremismus unter der Palästinensern.
Den Politikern beider Seiten, vor allem Ministerpräsident Sharon und
Präsident Arafat sage ich: Sie können Ihre Völker
aus der Katatsrophe herausführen. Sie haben den Tenet-Plan und die
Mitchell-Empfehlungen als Grundlage für
Verhandlungen angenommen. Heute muss Ihnen mehr denn je klar sein,
dass Sicherheit und eine politische Lösung
untrennbar sind. Das eine hat ohne das andere keinen Bestand. Viele
ihrer Freunde stehen bereit, um Sie zu
unterstützen, wenn Sie diese Chance ergreifen.
Abschließend lassen Sie mich darauf hinweisen, dass die jüngste
Initiative von Kronprinz Abdullah von Saudi Arabien
eine klare und überzeugende Friedensvision im Nahen Osten auf der
Grundlage der Sicherheitsratsresolutionen 242
(1967) und 338 (1973) aufgezeigt hat. Ich appelliere an die Führer
der arabischen Welt, die Friedenssuche nicht
aufzugeben, sondern sich vereint hinter diese Vision zu stellen und
der Welt - und den Konfliktparteien - zu zeigen, dass
es eine Alternative zum Krieg gibt.
Ich rufe Herrn Arafat und Herrn Sharon auf, unverzüglich die
erforderlichen politischen, Sicherheits- und wirtschaftlichen
Schritte vor Ort zu unternehmen, die dazu beitragen können, diese
Vision Wirklichkeit werden zu lassen. Schließlich rufe
ich den Sicherheitsrat auf, sich mit seiner vollen Autorität und
seinem ganzen Einfluss hinter diese lebenswichtige Sache
des Friedens zu stellen.
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