Der Arabische Frühling
Von Samir Amin *
Traduit par Angelika Gross - Gabriela Greif - Nikolas Scheuer
Edité par Jürgen Janz - Michèle Mialane - Fausto Giudice
Das Jahr 2011 begann mit einer Reihe explosiven, gewaltigen Zornausbrüchen der arabischen
Völker. Dieser arabische Frühling wird er ein zweites Mal „das Aufwachen der arabischen Welt“ in
Gang setzen? Oder werden diese Aufstände aufstampfen und schlussendlich scheitern – wie es
beim ersten Erwachen der Fall war, das ich in meinem Buch „L ‘éveil du Sud“ erwähnte? In der
ersten Hypothese werden die Fortschritte der arabischen Welt notwendigerweise in die Bewegung
zur Überwindung des Kapitalismus/Imperialismus auf weltweiter Ebene eingehen. Ein Versagen
hingegen würde die arabische Welt in ihrem aktuellen Status einer unterdrückten Peripherie
festhalten, weil es ihr verboten wäre, sich zum aktiven Mitspieler im Weltgeschehen
aufzuschwingen.
Es ist immer gefährlich, verallgemeinernd von der „arabischen Welt“ zu sprechen und die
Vielfältigkeit der objektiven Umstände zu ignorieren, die jedes Land dieser Welt charakterisiert.
Ich werde mich daher in meinen Ausführungen auf Ägypten konzentrieren, da die wichtige Rolle,
die das Land schon immer in der allgemeinen Entwicklung der Region gespielt hat, hinreichend
anerkannt wird.
Ägypten war das erste Land am Rande des weltweiten Kapitalismus, das versuchte, „sich als
Schwellenland durchzuschlagen“. Deutlich vor Japan und China, schon am Anfang des 19.
Jahrhunderts, plante und setzte Mohammed Ali ein Renovationsprojekt für Ägypten und seine
unmittelbaren Nachbarn im arabischen Maschrek im Gang. Dieser gewaltige Versuch erstreckte
sich über zwei Drittel des 19. Jahrhunderts, und erst spät, um 1870, in der zweiten Hälfte der
Herrschaft von Ismail dem Prächtigen, ging sie langsam zu Ende. Die Analyse ihres Scheiterns darf
die Gewalt der externen Aggression der Großmacht des damaligen kapitalistischen
Industriezentrums- Großbritannien- nicht ignorieren. Dreimal verfolgte England hartnäckig sein
Ziel, das Erscheinen eines modernen Ägypten zum Scheitern zu bringen: im Jahr 1840 und um
1870 durch die Übernahme der Finanzkontrolle im vom osmanischen Vizekönig regierten Ägypten
und im Jahre 1882 durch die militärische Besetzung. Zweifellos hatte das ägyptische Vorhaben
seine Grenzen, welche die Epoche definierten, da es darum ging, Ägypten zu einem
kapitalistischen Schwellenland zu machen, im Unterschied zum zweiten ägyptischen Projekt (1919-
1967), auf das ich noch zurückkommen werde. Zweifellos haben die dem Projekt eigenen sozialen
Widersprüche, wie die politischen, ideologischen und kulturellen Anschauungen, auf denen es
basierte, auch ihren Teil zum Scheitern beigetragen. Aber ohne die Aggression des Imperialismus
hätten diese Widersprüche vermutlich überwunden werden können, wie es das japanische
Beispiel zeigt.
Das geschlagene ägyptische Schwellenland wurde also fast vierzig Jahre lang (1880-1920) in den
Status der besetzten Peripherie gezwungen, dessen Strukturen neu geschaffen wurden, um dem
Modell der kapitalistischen/imperialistischen Anhäufung zu dienen. Der erzwungene Rückschritt
traf nicht nur das Produktionssystem des Landes, sondern auch seine politischen und sozialen
Strukturen und diente dazu, systematisch die ideologischen und kulturellen rückständigen
Anschauungen zu bestärken, um so das Land in seinem abhängigen Zustand zu erhalten.
Ägypten, das heißt sein Volk, seine Elite, die Nation, die es darstellt, hat diesen Zustand nie
akzeptiert. Diese hartnäckige Zurückweisung begründet daher eine zweite Welle von Aufständen,
die im Lauf des folgenden halben Jahrhunderts begann (1919-1967). Ich sehe in der Tat diese
Periode als einen fortlaufenden Moment der wichtigen Kämpfe und Fortschritte. Es gab drei Ziele:
Demokratie, nationale Unabhängigkeit, sozialer Fortschritt. Diese drei Ziele – wenn auch begrenzt
und manchmal unklar formuliert – können nicht voneinander getrenntwerden. Dieses
Zusammenhängender Ziele ergibt sich übrigens aus den Auswirkungen der Integration des
modernen Ägypten im globalisierten kapitalistischen/imperialistischen System der damaligen Zeit.
Hierbei ist das Kapitel, das durch die Kristallisierung Nassers begann (1955-1967), nichts Anderes
als das letzte Kapitel der langen Reihe der Kämpfe um den Fortschritt, deren Anfang die
Revolution von 1919-1920 war.
Der erste Moment dieses ein halbes Jahrhundert langen Emanzipationskampfes Ägyptens setzte
den Schwerpunkt – mit der Gründung der Wafd-Partei im Jahr 1919 - auf die politische
Modernisierung, durch die Einsetzung einer bürgerlichen Form der verfassungsmäßigen
Demokratie und auf die Rückeroberung der Unabhängigkeit. Diese Vorstellung von Demokratie
ermöglichte einen säkularisierten Fortschritt – wenn nicht laizistisch im radikalen Sinn des Wortes
– dessen Flagge (die die den Halbmond und das Kreuz verbindet – eine Flagge, die in den
Demonstrationen vom Januar und Februar 2011 wieder erschien) das Symbol darstellt. „Normale“
Wahlen ermöglichten es daher den Kopten nicht nur, von einer muslimischen Mehrheit gewählt zu
werden, sondern vielmehr, sehr hohe Staatsämter problemlos bekleiden zu können.
All die Bemühungen der britischen Macht, mit der aktiven Unterstützung des reaktionären
Blockes, bestehend aus Monarchie, Großgrundbesitzern und reichen Bauern, zielten darauf, die
demokratischen Fortschritte Ägyptens unter der Wafd-Partei rückgängig zu machen. Die Diktatur
von Sedki Pascha in den dreißiger Jahren (Abschaffung der demokratischen Verfassung von 1923)
prallte auf die Studentenbewegung, das damalige Zugpferd der pro-demokratischen, antiimperialistischen
Kämpfe. Es ist kein Zufall, dass die britische Botschaft und der Königspalast, um
deren Gefahr zu reduzieren, aktiv die Gründung der Muslimbrüder (1927) unterstützt haben, die
sich auf das „islamische“ Gedankengut in seiner „salafistischen“ (traditionalistischen)
wahhabitischen, von Rachid Reda abgefassten Version stützen, das heißt die reaktionärste
(antidemokratische und antisoziale) Form des neuen „politischen Islam“.
Die Eroberung Äthiopiens durch Mussolini und die Bedrohung eines Weltkriegs zwangen London
dazu, den demokratischen Kräften Zugeständnisse zu machen, was um 1936 die Rückkehr der (nun
gemäßigten) Wafd-Partei ermöglichte, und im selben Jahrdie Unterzeichnung des englischägyptischen
Abkommens. Der Zweite Weltkrieg brachte gezwungenermaßen einen Stillstand. Aber
ab dem 21. Februar 1946 begannen die Kämpfe von Neuem, mit der Gründung des Studenten-
Arbeiter-Blocks, der in seiner Radikalisierung durch das Erscheinen der Kommunisten und der
Arbeiterbewegung verstärkt wurde. Wiederum reagierten die von London unterstützten Kräfte der
Gegenreaktion mit Gewalt und mobilisierten zu diesem Zweck die Moslembrüder, die eine zweite
Diktatur von Sedki Pascha unterstützten, ohne jedoch die Bewegung zum Schweigen gebracht zu
haben. Die Wafd-Partei gelangte zurück an die Macht, die geplante Kündigung des Abkommens
von 1936 und der Guerillaansatz in der noch besetzten Kanalzone wurden erst durch den Brand
von Kairo (1951) niedergeschlagen, eine Aktion, bei der die Moslembruderschaft eine Hand im
Spiel hatte.
Der erste Staatsstreich der freien Offiziere (1952), aber vor allem der Zweite, der zur
Machtübernahme von Nasser (1954) führte, „krönen», wie die einen sagen, oder laut anderen
„beenden“, diese Periode von ununterbrochenen Kämpfen. Der Nasserismus hat meine Auslegung
des ägyptischen Erwachens durch einen ideologischen Diskurs ersetzt, der die ganze Geschichte
der Jahre 1919 bis 1952 aufhebt, und den Anfang der „ägyptischen Revolution“ auf den Juli 1952
verlegt. Damals hatten viele Kommunisten diesen Diskurs angeprangert und die Staatsstreiche von
1952 und 1954 interpretiert, als darauf ausgerichtet, der Radikalisierung der demokratischen
Bewegung ein Ende zu bereiten. Sie waren dabei im Recht, da der Nasserismus sich als antiimperialistisches
Projekt erst nach der Bandung-Konferenz (April 1955) herauskristallisiert hat. Der
Nasserismus hat dann das erreicht, was er konnte: eine internationale, eindeutig antiimperialistische
Haltung (an die panarabischen und panafrikanischen Bewegungen angelehnt), und
fortschrittliche (aber nicht „sozialistische“) Sozialreformen. Das Ganze von oben, wobei es nicht
nur „ohne Demokratie“ geschah (dem Volk wurde das Recht abgesprochen, sich selbst zu
organisieren), sondern alles politische Leben „abgeschafft“ wurde. Das geschaffene Vakuum lud
den politischen Islam ein, es zu füllen. Das Projekt hat daher sein fortschrittliches Potenzial in
kurzer Zeit erschöpft – in zehn Jahren von 1955 bis 1965. Dessen Abflauen bot dem nunmehr von
den Vereinigten Staaten gesteuerten Imperialismus die Gelegenheit, die Bewegung zu zerschlagen,
indem sie dazu ihr regionales militärisches Instrument mobilisierten: Israel. Die Niederlage von
1967 markiert daher das Ende des halben Jahrhunderts Fortschritt. Der Rücklauf wurde von Nasser
selbst in Gang gesetzt, der den Weg der Konzessionen zur Rechten wählte – (die „Infitah“ - die
Öffnung, in diesem Fall zur „kapitalistischen Globalisierung“) eher als die Radikalisierung, für die
unter anderem die Studenten kämpften (deren Bewegung um 1970 in den Vordergrund rückte,
kurz vor und nach dem Tod von Nasser). Der Nachfolger Sadat verstärkt die Wirkung des
Rechtsschwungs und integriert die Moslembruderschaft in sein neues autokratisches System.
Mubarak macht in der gleichen Richtung weiter. Die darauf folgende Zeit des Rückschrittes (1967-
2011) dauert dann fast ein halbes Jahrhundert. Ägypten, den Anforderungen der globalisierten
Liberalisierung und den Strategien der Vereinigten Staaten unterworfen, agierte nicht mehr als
aktiver regionaler und internationaler Teilnehmer. In der Region stehen vor allem die wichtigsten
Verbündeten der USA im Vordergrund – Saudi-Arabien und Israel. Israel kann daher seine
Expansionspolitik der Kolonisierung des besetzten Palästina weiter verfolgen, mit dem
schweigenden Einverständnis von Ägypten und den Golfstaaten.
Das Ägypten Nassers hatte ein ökonomisches und sozial fragwürdiges, aber kohärentes System
aufgebaut. Nasser hatte auf die Industrialisierung gesetzt, um aus der internationalen kolonialen
Spezialisierung herauszukommen, die das Land auf den Export von Baumwolle beschränkte. Dieses
System sicherte der wachsenden Mittelklasse eine günstige Verteilung des Einkommens, ohne
dass die Unterschicht verarmte. Sadat und Mubarak nahmen das ägyptische Produktionssystem
auseinander und ersetzten es durch ein absolut willkürliches, das nur auf der Profitorientierung
von Firmen, - meist bloße Unterhändler des imperialistischen Monopolkapitals - basierte. Die
angeblich hohe Wachstumsrate Ägyptens, die die Weltbank seit dreißig Jahren hochpreist, besagt
nichts. Das ägyptische Wachstum ist ausgesprochen verletzlich. Dieses Wachstum geht außerdem
mit einer unglaublichen Steigerung der Ungleichheiten und der Arbeitslosigkeit einher, die die
Mehrheit der Jugend trifft. Diese Situation war explosiv; sie ist explodiert.
Die scheinbare „Stabilität des Regimes“, die Washington so sehr rühmte, basierte auf einem
ungeheuren Polizeiapparat (1 200 000 Mann gegen nur 500 000 beim Militär), die ihre Macht
tagtäglich kriminell missbrauchte. Die imperialistischen Mächte taten so, als ob dieses Regime
Ägypten von der islamistischen Alternative schützen würde. Aber da lügen sie wie gedruckt. In der
Tat hatte das Regime den politischen, reaktionären Islam vollkommen in seinen Machtapparat
integriert (das wahhabitische Modell des Golfs), indem es ihm die Führung des Schul- und
Rechtswesens und der wichtigsten Medien (vor allem des Fernsehens) übergeben hatte. Nur das
Wort der Moscheen galt, die den Salafisten übereignet worden waren, und die ihnen obendrein
noch erlaubte, so zu tun, als ob sie die „Opposition“ wären. Die zynische Doppelzüngigkeit der
Aussagen des Establishments der Vereinigten Staaten (und hier unterscheidet sich Obama kaum
von Bush) spielt ihm direkt in die Hände. Die tatsächliche Unterstützung des politischen Islams
zerstört die Fähigkeit der Gesellschaft, den Herausforderungen der modernen Welt ins Gesicht zu
sehen (sie ist der Grund für den katastrophalen Niedergang des Schulwesens und der Forschung),
während die gelegentliche Verurteilung dessen „Missbräuche“(wie die Ermordung der Kopten)
dazu dient, die militärischen Interventionen Washingtons zu legitimieren, in diesem so genannten
„Krieg gegen den Terror“. Das Regime konnte „erträglich“ erscheinen, solange das
Sicherheitsventil der Massenauswanderung der Armen und der Mittelklasse in die Erdölstaaten
funktionierte. Die Ausschöpfung dieses Systems (als asiatische Migranten anstelle der arabischen
traten) führte zur Wiederaufleben des Widerstands. Die Arbeiterstreiks von 2007 – die stärksten
auf dem afrikanischen Kontinent seit 50 Jahren –, der hartnäckige Widerstand der Kleinbauern,
denen durch den Agrarkapitalismus die Enteignung droht, die Bildung von demokratischen
Protestkreisen in der Mittelklasse (die Kefaya-Bewegung und die vom 6. April) kündigten die
unausweichliche Explosion an – die in Ägypten erwartet wurde, auch wenn sie die „ausländischen
Beobachter“ überraschte. Wir sind daher in einer neuen Phase der Reihe von
Unabhängigkeitskämpfen angelangt, deren Richtung und Entwicklungschancen wir analysieren
müssen.
Die Komponenten der demokratischen Bewegung
Die derzeit stattfindende „ägyptische Revolution“ deutet auf eine Möglichkeit des angekündigten
Endes des „neoliberalen“ Systems, das in seinen politischen, wirtschaftlichen und
gesellschaftlichen Dimensionen infrage gestellt wird. Drei Komponenten haben aktiv
zusammengewirkt, um diese gewaltige Volksbewegung in Ägypten auszulösen: die aus eigenem
Antrieb und in ihren eigenen „modernen“ Formen „wieder politisierte“ Jugend, die Kräfte der
radikalen Linken und jene der demokratisch gesinnten Mittelschichten.
Die Jugend (ungefähr eine Million Aktivisten) waren das Zugpferd der Bewegung, der sich die
radikale Linke und die demokratischen Mittelschichten sofort angeschlossen haben. Die
Muslimbrüder, deren Führer in den ersten vier Tagen zu einem Boykott der Demonstrationen
aufgerufen hatten (in der Überzeugung, dass jene der Repression nicht standhalten würden), sind
der Bewegung erst spät beigetreten, erst dann, als der von allen Teilen des ägyptischen Volks
getragene Aufruf riesige Protestversammlungen mit 15 Millionen Demonstranten auf die Straßen
brachte.
Die Jugend und die radikale Linke verfolgen drei gemeinsame Ziele: die Wiederherstellung der
Demokratie (Schluss mit dem Militär- und Polizeisystem), die Umsetzung einer neuen Wirtschaftsund
Sozialpolitik zugunsten der Volksschichten (Schluss mit der Unterwerfung unter die Diktate
des globalisierten Liberalismus), und einer selbstständigen Außenpolitik (Schluss mit der
Unterwerfung unter die Vormachtstellung der USA und deren Militärkontrolle über den ganzen
Planet). Die demokratische Revolution, zu der sie aufrufen, ist eine demokratische, zugleich antiimperialistische
und soziale Revolution. So vielfältig die Jugendbewegung politisch, ideologisch
und sozial auch sein kann, ist sie entschieden „links“ geprägt. Dass sie sich spontan so warmherzig
zu der radikalen Linken verhielt ist ein Beweis dafür.
Dem Mittelstand dagegen geht es meist nur um eines: die Demokratie -ohne notwendigerweise
den „Markt“ (als solchen) und die internationale Angleichung Ägyptens radikal infrage zu stellen.
Die Rolle einer Gruppe von Bloggern, die - bewusst oder unbewusst – an einer richtigen, von der
CIA organisierten Verschwörung mitmachen, darf nicht übersehen werden. Deren führende
Figuren sind meist äußerst amerikanisierte junge Menschen aus wohlhabendem Milieu, die sich
dennoch als „Systemgegner“ der herrschenden Diktaturen profilieren wollen. Ihre Aktionen im
„Net“ stehen im Zeichen der „Demokratie“, in der Form, wie sie Washington für seine Zwecke
haben will. Aus diesem Grund gehören sie zur „tippenden Verbindung“ der Akteure der durch
Washington orchestrierten, als „demokratische Revolutionen“ getarnten Gegenrevolutionen im
Stil der „bunten Revolutionen“ in Osteuropa. Aber es wäre falsch, daraus zu folgern, dass diese
Verschwörung die Volksaufstände ausgelöst habe. Nichtsdestoweniger versucht die CIA, die
Richtung der Bewegung umzukehren, die Aktivisten von ihrem Ziel eines sozial fortschrittlichen
Wandels abzubringen und sie auf andere Bereiche irrezuleiten. Und wenn die Bewegung beim
Aufbau einer Konvergenz ihrer einzelnen Komponenten, bei der Bestimmung gemeinsamer
strategischer Ziele und der Erfindung wirkungsvoller Organisations- und Aktionsformen versagt,
hat die Verschwörung gute Aussichten auf Erfolg. Beispiele eines solchen Scheiterns sind bekannt,
so z. B. Philippinen und Indonesien. Diesbezüglich ist es interessant zu bemerken, dass unsere zur
Verteidigung der „Demokratie“ -im amerikanischen Sinn - zu Felde ziehenden Blogger, die sich
eher in Englisch als in Arabisch (!) ausdrücken, in Ägypten häufig zur Legitimierung der
Muslimbrüder geeignete Argumente entwickeln.
Der von den drei aktiven Komponenten der Bewegung formulierte Aufruf zu
Protestversammlungen ist rasch vom gesamten ägyptischen Volk aufgegriffen worden. Angesichts
der in den ersten Tagen mit äußerster Gewalt ausgeübte Repression (mehr als Tausend Tote)
haben diese Jugend und ihre Verbündeten den Mut nicht verloren (sie haben die westlichen
Mächte in keinem Augenblick zu Hilfe gerufen haben, wie anderswo der Fall). Ihr Mut war das
entscheidende Element, das durch alle Viertel der großen und kleinen Städte und sogar durch
Dörfer tagelang (und manchmal nächtelang) mehr als fünfzehn Millionen Demonstranten in die
Protestwelle mit einbezogen hat. Dieser eklatante politische Erfolg hat seine Wirkung nicht
verfehlt: die Angst hat das Lager gewechselt; Hillary Clinton und Barack Obama haben dabei
entdeckt, dass sie Husni Mubarak fallen lassen müssen, den sie bisher unterstützt hatten, während
die Führer der Armee das Wort ergriffen, sich weigerten, nun die Repression zu übernehmen und
somit ihr Image retteten – und schließlich Mubarak und einige seiner wichtigsten Helfershelfer
absetzten.
Dass alle Teile des ägyptischen Volks nun die Bewegung tragen bedeutet an sich schon eine
positive Herausforderung. Denn dieses Volk ist genauso wie alle anderen bei Weitem kein
„homogener Block“. Bestimmte Teile verstärken zweifellos die Aussicht auf eine mögliche
Radikalisierung. Der Einstieg der Arbeiterklasse (ungefähr 5 Millionen Arbeiter) in den Kampf kann
entscheidend sein. Die Ansätze von neuen Arbeiterorganisationen sind seit 2007, mittels
zahlreicher Streiks gereift. Derzeit lassen gibt es mehr als fünfzig unabhängige Gewerkschaften.
Der hartnäckige Widerstand der Kleinbauern gegen die Enteignungen, die die Aufhebung der
Agrarreform ermöglichte (die Muslimbrüder haben im Parlament für diese niederträchtigen
Gesetze abgestimmt, unter dem Vorwand, dass Privateigentum im Islam „heilig“ wäre und die
Agrarreform eine Eingebung des kommunistischen Teufels!) nimmt gleichfalls an der möglichen
Radikalisierung der Bewegung teil. Jedenfalls hat eine gewaltige Menge von „Armen“ aktiv an den
Demos vom Februar 2011 teilgenommen; oft treffen sie sich wieder in den Volksausschüssen, die
in den Vierteln zur „Verteidigung der Revolution“ gebildet wurden. Diese „Armen“ können (durch
ihre Bärte, Schleier und sonstige Ausstaffierung) den Eindruck erwecken, dass die Menschen im
Herzen Ägyptens „islamisch“ sind bzw. von den Muslimbrüdern mobilisiert werden. In der Tat ist
aber die Führung der Muslimbrüder unter Druck ihrer Basis in den Kampf getreten. Das
Wettrennen hat also begonnen; wem wird es gelingen, wirkungsvolle Bündnisse mit den
desorientierten Massen zu formulieren, sie bzw. zu lenken (diese Vokabel lehne ich übrigens ab):
der Muslimbruderschaft und ihren islamistischen Bündnispartnern (den Salafisten) oder der
demokratischen Allianz?
In Ägypten finden zurzeit größere Vorstöße beim Aufbau einer geeinten Front der demokratischen
und Arbeiterkräfte statt. Fünf sozialistisch ausgerichtete Parteien (die Ägyptische Sozialistische
Partei, das Demokratische Volksbündnis – eine aus der ehemaligen Tagammu-Partei stammende
Mehrheit, die demokratische Arbeiterpartei, die Revolutionäre Partei der Sozialisten – Trotskisten
und die Ägyptische Kommunistische Partei –eine frühere Komponente der Tagammu-Partei)
haben im April 2011 ein Bündnis der sozialistischen Kräfte geschlossen, und sich verpflichtet, ihre
Kämpfe gemeinsam fortzusetzen. Parallel wurde aus allen politischen und sozialen Kräften der
Bewegung (sozialistisch ausgerichtete Parteien, unterschiedliche demokratische Parteien,
unabhängige Gewerkschaften, Bauernverbände, die der Jugendnetzwerke, zahlreiche soziale
Vereine) einen Nationalrat (Maglis Watany) gebildet. Die Muslimbrüder und Rechtsparteien haben
sich geweigert, an diesem Rat teilzunehmen, und bestätigen damit erneut, was bereits bekannt
war: sie sind gegen eine Weiterführung der Bewegung. Der Rat besteht aus ungefähr 150
Mitglieder.
Das Gegenüber der demokratischen Bewegung: der reaktionäre Block
Wie in der Aufschwungperiode der früheren Kämpfe stößt die anti-imperialistische und soziale
demokratische Bewegung in Ägypten auf einen mächtigen reaktionären Block. Jener Block kann
zwar durch seine Klassenzusammensetzung, aber auch durch seine politischen Interventionsmittel
sowie den dazu gehörenden ideologischen Diskurs definiert werden.
In sozialer Hinsicht wird der reaktionäre Block von allen Teilen der ägyptischen Bourgeoisie
geführt. Die gängigen Formen abhängiger Kapitalanhäufung der letzten 40 Jahre haben zum
Aufkommen einer reichen Bourgeoisie als ausschließlicher Nutznießerin der unverschämten
Ungleichheit geführt, die dieses „liberal-globalisierte“ Modell mit sich bringt. Es handelt sich um
Zehntausende, nicht etwa von „erfinderischen Unternehmern“ – wie es die Weltbank in ihrem
Diskurs darstellt – sondern um Millionäre und Milliardäre, die alle ihr Vermögen einer Kollusion
mit dem politischen Apparat verdanken („Korruption“ ist eine eingebaute Komponente dieses
Systems). Es ist eine Kompradorenbourgeoisie (das Volk bezeichnet sie in der politischen
Umgangssprache in Ägypten als „korrupte Schmarotzer“). Sie ist die aktive Stütze für die
Einbindung Ägyptens in die zeitgenössische imperialistische Globalisierung und eine vorbehaltlose
Verbündete der USA. Diese Bourgeoisie zählt in ihren Reihen zahlreiche Generäle der Armee und
der Polizei, mit dem Staat und der von Sadat und Mubarak gegründeten herrschenden
(„Nationaldemokratischen“) Partei in Verbindung stehende „Zivilisten“, Geistliche (alle Anführer
der Muslimbrüder und die bedeutenderen Scheiche von Al-Azhar sind samt und sonders
„Milliardäre“). Gewiss gibt es noch eine mittelständische Bourgeoisie der aktiven kleinen und
mittleren Unternehmer. Aber diese sind Opfer des Erpressungssystems der
Kompradorenbourgeoisie und werden meist auf den Status von Zulieferern beschränkt und von
lokalen Monopolen beherrscht, die ihrerseits als Transmissionsriemen ausländischer Monopole
fungieren. Im Bauwesen hat sich diese Situation fast verallgemeinert: die „Großen“ holen sich die
Aufträge, die sie dann unter die Zulieferer verteilen. Jene echte Unternehmerklasse sympathisiert
mit der demokratischen Bewegung.
Die ländliche Seite des reaktionären Blocks ist ebenso wichtig. Sie besteht aus reichen Bauern, die
als Hauptnutznießer von Nassers Bodenreform die Stelle der früheren Klasse der Großgutbesitzer
eingenommen haben. In den von der Nasser-Regierung errichteten Agrarkooperativen kamen
Klein- und Großbauern zusammen und aus diesem Grund profitierten hauptsächlich Reiche davon.
Aber die von der Regierung getroffenen Vorsichtsmaßnahmen schränkten mögliche Übergriffe
gegen die Kleinbauern ein. Da diese Maßnahmen von Sadat und Mubarak auf Empfehlung der
Weltbank aufgehoben wurden, versucht nun die reiche Bauernschaft mit allen Mitteln, die
Ausrottungder Kleinbauernschaft zu beschleunigen. Die reichen Bauern haben im modernen
Ägypten stets eine reaktionäre Klasse gebildet und sind es heute mehr denn je. Sie sind auch die
Hauptstütze des konservativen Islam auf dem Land und dank ihren engen (oft
verwandtschaftlichen) Beziehungen mit den Vertretern der staatlichen und religiösen Behörden
(die Moschee Al-Azhar ist in Ägypten gleichbedeutend mit einer organisierten muslimischen
Kirche) beherrschen sie das gesellschaftliche Landleben. Darüber hinaus stammt ein guter Teil der städtischen Mittelschicht (insbesondere die Militär- und Polizeioffiziere, aber auch die
Technokraten und Freiberufler) direkt aus der reichen Bauernschaft.
Diesem reaktionären gesellschaftlichen Block stehen willige politische Instrumente zur Verfügung:
das Militär und die Polizei, die staatlichen Einrichtungen, die privilegierte politische Partei (de
facto eine Art Einheitspartei) – die von Sadat gegründete Nationaldemokratische Partei -, der
geistliche Apparat (die Moschee Al-Azhar), die unterschiedlichen Strömungen des politischen Islam
(Muslimbrüder und Salafisten). Die der ägyptischen Armee vonseiten der USA zukommende
Militärhilfe (jährlich 1,5 Milliarden Dollar) war nie dazu bestimmt, die Verteidigungsfähigkeit des
Landes zu verstärken, sondern ganz im Gegenteil die Armee durch eine systematische -nicht nur
bekannte und geduldete, sondern positiv und zynisch unterstützte- Korruption harmlos zu
machen. Durch diese „Hilfe“ konnten sich die ranghöchsten Offiziere ganze Branchen der
Kompradorenwirtschaft in einem solchen Maß aneignen, dass in Ägypten von der „Armee GmbH“
(Scharika al Geisch) die Rede ist. Der Generalstab der Armee, der die Verantwortung für die
„Leitung“ der Übergangsphase übernommen hat, ist aus diesem Grund nicht „neutral“, obwohl er
sich vorsichtshalber den Anschein gibt, so zu sein, indem er sich von der Repression distanziert.
Die ihm zu Dienste stehende „Zivilregierung“ (deren Mitglieder vom obersten Generalstab ernannt
worden sind) besteht teilweise aus Mitarbeitern der früheren Regierung, wenn auch deren am
wenigsten bekannten Persönlichkeiten, und hat eine Reihe völlig reaktionärer Maßnahmen
ergriffen, dazu bestimmt, die Radikalisierung der Bewegung zu bremsen. Zu diesen Maßnahmen
gehört ein niederträchtiges Anti-Streik-Gesetz (angeblich, weil die Wirtschaft des Landes wieder in
Gang gebracht werden muss), ein Gesetz, das der Bildung politischer Parteien strenge
Einschränkungen auferlegt und darauf abzielt, nur den Strömungen des dank der systematischen
Unterstützung der früheren Regierung bereits gut organisierten politischen Islam (insbesondere
den Muslimbrüdern) zu ermöglichen, in den Wahlkampf zu gehen. Und dennoch bleibt die Haltung
der Armee trotz allem letzten Endes unberechenbar. Denn trotz der Korruption ihrer Führung (die
Soldaten sind Wehrpflichtige, die Offiziere dagegen Berufssoldaten) gebricht es ihr nicht immer an
Patriotismus. Darüber hinaus empfindet die Armee es schmerzlich, dass sie zugunsten der Polizei
praktisch von der Macht ausgeschlossen wurde. Unter diesen Umständen, und weil die Bewegung
mit Nachdruck ihrem Willen Ausdruck gegeben hat, die Armee von der politischen Leitung des
Landes fernzuhalten, ist es wohl anzunehmen, dass der Generalstab es in Betracht zieht, künftig im
Hintergrund zu bleiben und darauf zu verzichten, Männer aus den eigenen Reihen bei den
kommenden Wahlen zu stellen.
Auch wenn der Polizeiapparat freilich unangetastet bleibt (von einer strafrechtlichen Verfolgung
seiner Verantwortlichen ist keine Rede), genauso wie der gesamte Staatsapparat (die neuen
Regierungsmitglieder gehörten alle der früheren Regierung an), so ist dagegen die
Nationaldemokratische Partei im Trubel untergegangen und ihre Auflösung von der Justiz
ausgesprochen worden. Wir können jedoch darauf wetten, dass die ägyptische Bourgeoisie es
schaffen wird, ihre Partei unter verschiedenen neuen Bezeichnungen neu ins Leben rufen.
Der politische Islam
Die Muslimbrüder sind die einzige politische Kraft, die vom Regime nicht nur geduldet, sondern
aktiv in ihrer Entfaltung unterstützt wurde. Sadat und Mubarak übertrugen ihnen die Steuerung
dreier grundlegender Bereiche: der Bildung, der Justiz und des Fernsehens. Die Muslimbrüder
waren nie gemäßigt, geschweige denn demokratisch und können dies auch nicht sein. Ihr Chef, der
Murschid, (arabische Entsprechung des Wortes Führer) ist selbsternannt und ihre Organisation
beruht auf den Prinzipien der Disziplin und der Gehorsamkeit ohne jegliche Diskussion. Die
Führung besteht ausschließlich aus Superreichen (nicht zuletzt aufgrund der finanziellen
Unterstützung durch Saudi-Arabien und damit durch Washington), die Kaderschicht aus erzkonservativen Mitgliedern der Mittelklasse, die Basis aus einfachen Leuten, die über den
karitativen Zweig der Bruderschaft angeworben wurden (welche ebenfalls Saudi-Arabien
finanziert), während die aus dem Lumpenproletariat rekrutierten Milizen (Baltagis) den starken
Arm darstellen.
Die Muslimbrüder kommen nicht ohne ein marktwirtschaftliches System aus und sind völlig vom
Ausland abhängig. Somit sind sie Teil der Kompradorenbourgeoisie. Tatsächlich haben sie gegen
die großen Streiks der Arbeiterklasse und den Kampf der Bauern für das Eigentum an ihrem Boden
Front gemacht. Daher sind die Muslimbrüder nur insofern „gemäßigt" als sie nie ein wirtschaftsund
sozialpolitisches Programm verfasst haben, eine neoliberale reaktionäre Politik nicht in Frage
stellen, und sich in die Vormachtstellung der USA in der Region und weltweit mit all ihren
Konsequenzen fügen, was sie zu willkommenen Verbündeten der USA macht, die ihnen ein
"Demokratiezeugnis" ausgestellt haben (schließlich ist Saudi-Arabien, Gönner der Muslimbrüder,
Washingtons Bündnispartner par excellence).
Natürlich können die Vereinigten Staaten nicht zugeben, dass ihre Strategie den Aufbau
„islamischer" Systeme in der Region zum Ziel hat und sind bemüht, sich ängstlich zu geben. So
rechtfertigen sie ihren „ununterbrochenen Krieg gegen den Terror", der in Wahrheit einer anderen
Absicht dient – der militärischen Kontrolle des Planeten zur Sicherung eines ausschließlichen
Ressourcenzugangs für die USA, Europa und Japan. Diese Doppelzüngigkeit hat einen weiteren
Vorteil, der darin besteht, die „Islamophobie“ in der öffentlichen Meinung ausnutzen zu können.
Europa verfolgt in der Region bekanntlich keine bestimmte Strategie und begnügt sich damit,
jeweils die Linie Washingtons zu übernehmen. Mehr denn je gilt es, die Verlogenheit der von den
USA verfolgten Strategie aufzuzeigen, die ihre öffentliche Meinung geschickt manipulieren und die
Bevölkerung hinters Licht führen. Nichts fürchten die USA (und mit ihnen Europa) mehr als eine
wahrhaftige Demokratie in Ägypten, in welcher der bisherige wirtschaftliche Liberalismus und die
aggressive Strategie der USA und der NATO zweifellos in Frage gestellt würden. Um eine
Demokratisierung Ägyptens zu verhindern sind sie bereit, verdeckt aber mit allen Mitteln die
Muslimbrüder als scheinbare Alternative zu unterstützten, obwohl diese innerhalb der ägyptischen
Volksbewegung für einen echten Wandel offenkundig nur eine Minderheit darstellen.
Dass imperialistische Mächte und politischer Islam unter einer Decke stecken ist hingegen weder
neu noch eine Besonderheit Ägyptens. Seit ihrer Gründung im Jahr 1927 waren die Muslimbrüder
stets ein nützlicher Verbündeter für den Imperialismus und den reaktionären Block vor Ort und
gleichzeitig ein erbitterter Gegner demokratischer Bewegungen in Ägypten. Die Multimilliardäre,
die heute der Bruderschaft vorstehen, werden sich wohl kaum für die Sache der Demokratie
einsetzen! Der politische Islam ist in der gesamten muslimischen Welt strategischer
Bündnispartner der USA und der ihnen untergeordneten NATO-Länder. Washington hat die als
„Freedom Fighters“ verherrlichten Taliban während ihres Kampfes gegen die als „kommunistisch“
bezeichnete nationale Volksregierung vor und nach dem Eingreifen der Sowjetunion bewaffnet
und finanziert. Als die Taliban die von den „Kommunisten“ gegründeten Mädchenschulen
schlossen, haben „Demokraten" und sogar „Feministen" sich beeilt zu behaupten, man müsse „die
Traditionen respektieren".
In Ägypten werden die Muslimbrüder mittlerweile von der salafistischen („traditionellen“)
Strömung unterstützt, die ihrerseits größtenteils von den Golfstaaten finanziert wird. Die
Salafisten sind bekennende Extremisten (überzeugte Wahhabiten, die keine andere Auslegung des
Islam dulden) und für die systematischen Morde an Kopten verantwortlich. Solche Übergriffe
wären ohne die stillschweigende Billigung (und zum Teil sogar Beteiligung) des Staatsapparates
und insbesondere der Justiz, die größtenteils in der Hand der Muslimbrüder ist, schwerlich
denkbar. Diese merkwürdige Arbeitsteilung erlaubt es der Bruderschaft, sich als gemäßigt darzustellen und Washington gibt vor dies zu glauben. Innerhalb der islamischen
Glaubensrichtungen Ägyptens, sind jedoch heftige Kämpfe vorprogrammiert. Denn in Ägypten ist
die historisch vorherrschende Strömung des Islam der „Sufismus“, dessen Bruderschaften heute
15 Millionen Gläubige zählen. Dieser offene, tolerante Islam, dessen Augenmerk eher auf der
individuellen Überzeugung als auf der Einhaltung der Riten liegt („es gibt so viele Wege zu Gott
wie es Menschen gibt", heißt es dort), war stets ein Dorn im Auge der Obrigkeit, die jedoch
Zuckerbrot und Peitsche einsetzte, ohne jemals offen gegen ihn vorzugehen. Der wahhabitische
Islam der Golfstaaten steht dem diametral entgegen. Er ist archaisch, ritualistisch, konformistisch,
erklärter Feind aller anderen Auslegungen als der eigenen, die sich eng an den Text hält und jede
kritische Sichtweise als Teufelswerk abtut. Der wahhabitische Islam hat dem Sufismus den Krieg
erklärt, und will diesen "ausrotten", wofür er auf die Unterstützung der Machthaber zählt. Hierauf
haben die Sufisten mit einer teils radikalen Säkularisierung reagiert. Sie fordern die Trennung von
Religion und Politik (d.h. der Staatsmacht und der von ihr anerkannten Religiösen Autorität, der Al-
Azhar-Universität). Die Sufisten sind Verbündete der Demokratiebewegung. Die Einführung des
wahhabitischen Islam in Ägypten begann mit Rachid Reda in den 1920er Jahren und wurde ab
1927 von den Muslimbrüdern weitergeführt. Echten Auftrieb bekam er jedoch erst nach dem
zweiten Weltkrieg als die Erdöleinnahmen der Golfstaaten, denen die USA im Konflikt mit der
nationalen Volksbefreiungswelle der 1960er Beistand leisteten, ihm die Kassen füllten.
Die Strategie der USA: Das pakistanische Modell
Die drei dominanten Mächte des Nahen Ostens während der gesamten Phase des Rückschritts
(1967-2011) waren die USA als Schirmherr des Systems, Saudi-Arabien und Israel, drei enge
Verbündete. Ihnen allen ist die Angst vor der Entstehung eines demokratischen Ägyptens
gemeinsam, das in jedem Fall antiimperialistisch und sozial wäre, dem globalisierten Liberalismus
gegenüber auf Abstand ginge, Saudi-Arabien und die Golfstaaten überstrahlen würde, die
Solidarität der arabischen Völker wieder aufflammen ließe und Israel zur Anerkennung des
palästinensischen Staates zwänge.
Ägypten ist ein Eckpfeiler der US-Strategie zur Beherrschung des Planeten. Um ihr einziges Ziel,
das Ersticken der ägyptischen Demokratiebewegung zu erreichen, wollen Washington und seine
Bündnispartner Israel und Saudi-Arabien einen von den Muslimbrüdern geführten „islamischen
Staat“ entstehen lassen , da sie sich nur so der Willfährigkeit Ägyptens sicher sein können. Der
„demokratische Diskurs“ dient ausschließlich der Täuschung einer leichtgläubigen Öffentlichkeit,
vor allem in den USA und Europa.
Um eine Regierung der Muslimbrüder zu rechtfertigen wird oft das Beispiel der Türkei angeführt.
Das aber ist Augenwischerei, denn der „Säkularismus“ der Türkei wird von der keineswegs
demokratischen und der NATO treu verbundenen Armee gewahrt, die hinter den Kulissen
weiterhin agiert. Der von Hillary Clinton, Obama und den ihnen zu Diensten stehenden Thinktanks
offen propagierte Plan Washingtons ist an das pakistanische Modell angelehnt: Eine „islamische"
Armee im Hintergrund und eine oder mehrere „gewählte" islamische Parteien in der Regierung.
Nach diesem Modell würde eine „islamische“ Regierung in Ägypten für ihre Fügsamkeit in
Grundfragen (keine Infragestellung des Liberalismus und der so genannten „Friedensverträge“,
durch die Israel seine territoriale Expansionspolitik vorantreiben kann) belohnt und könnte im
Gegenzug unbehelligt seine „Islamisierung von Staat und Politik" und die Koptenmorde
weiterführen. So sieht die Demokratie aus, die Washington Ägypten zugedacht hat! Dieser Plan
wird natürlich von Saudi-Arabien nach Kräften (finanziell) unterstützt, da Riad wohl weiß, dass zum
Erhalt seiner Regionalhegemonie (in der arabischen und islamischen Welt) Ägyptens Bedeutung
auf ein Mindestmaß reduziert werden muss. Das Mittel der Wahl hierfür ist „die Islamisierung von Staat und Politik, eine Islamisierung wahhabitischer Art mit all ihren Konsequenzen, zu denen eine
fanatische Ablehnung der Kopten und der Frauenrechte zählen.
Ist eine solche Islamisierung möglich? Sicher nur um den Preis ausufernder Gewalt. Der Stein des
Anstoßes ist Artikel zwei der Verfassung des gestürzten Regimes. Dieser Artikel, in dem es heißt
„die Sharia ist die Quelle des Rechts“, ist ein Novum in der politischen Geschichte Ägyptens.
Weder dessen Verfassung von 1923, noch diejenige Nassers beinhalteten einen solchen Passus.
Erst Sadat nahm ihn mit der dreifachen Unterstützung Washingtons („die Traditionen wahren") ,
Riads („Der Koran hat Verfassungsrang") und Jerusalems („Der Staat Israel ist ein jüdischer Staat“)
in seine neuen Verfassung auf.
Die Muslimbrüder verfolgen weiterhin den Plan, einen theokratischen Staat aufzubauen, wie auch
ihr Festhalten an Artikel zwei der Sadat/Mubarak-Verfassung bezeugt. Überdies bekräftigt ihr
jüngstes Programm, in dem die Einrichtung eines Ulema-Rates gefordert wird, der über die
Übereinstimmung jedes Gesetzesvorschlages mit der Scharia wachen soll, diese
rückwärtsgewandte Vision. Dieser Verfassungsrat ist das Gegenstück des Wächterrats, der im Iran
die „gewählten Vertreter" überwacht. Hieraus ergibt sich die Herrschaft einer einzigen religiösen
Überpartei, unter welcher alle säkular ausgerichteten Parteien rechtswidrig würden. Anhänger
solcher Parteien und Nichtmuslime (Kopten) würden somit vom politischen Leben ausgeschlossen.
Des ungeachtet tun die Machthaber in Washington und Europa so, als könne man die kürzliche
Erklärung der Brüder, in der sie auf ihren theokratischen Plan „verzichten“ (ohne jedoch ihr
Programm zu ändern!), für bare Münze nehmen - ein verlogener und opportunistischer Schachzug.
Können die CIA-Experten denn kein Arabisch? Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass
die USA die Muslimbrüder, die ihnen ein loyales und der liberalen Globalisierung ergebenes
Ägypten garantieren, den Demokraten vorziehen, welche die Unterwürfigkeit des Landes
hinterfragen könnten. Die offensichtlich nach türkischem Vorbild vor kurzem gegründete Partei für
Freiheit und Gerechtigkeit, ist wenig mehr als ein Werkzeug der Bruderschaft. Sie steht den
Kopten offen (!), was heißt, dass diese gehalten sind, den vom Programm der Muslimbrüder
vorgezeichneten islamisch-theokratischen Staat anzunehmen, wenn sie ein „Mitspracherecht" in
der Politik ihres Landes wünschen. Die zur Offensive übergegangenen Muslimbrüder gründen
„Gewerkschaften“, „Bauernvereine“ und eine ganze Palette „politischer Parteien" unter
verschiedensten Namen, deren alleiniges Ziel die Zersetzung der neu entstehenden einheitlichen
Fronten von Arbeitern, Bauern und Demokraten und mithin die Stärkung des konterrevolutionären
Blockes ist.
Wird die ägyptische Demokratiebewegung in der Lage sein, die Aufnahme dieses Artikels in die
neue Verfassung zu verhindern? Um diese Frage zu beantworten ist ein Rückblick auf die
politischen, ideologischen und kulturellen Debatten in der jüngeren ägyptischen Geschichte
notwendig.
Die Phasen des Fortschritts sind offenbar durch eine Vielfalt offen geäußerter Meinungen
gekennzeichnet, welche die weiterhin in der Gesellschaft vorhandene Religion in den Hintergrund
drängen. Zwei Drittel des 19. Jhs. waren solche Phasen (von Mohamed Ali bis zu Ismail dem
Prächtigen). Die Themen der Modernisierung (wenngleich eher despotisch-aufgeklärt als
demokratisch) standen damals im Vordergrund. Auch die Zeit von 1920 bis 1970 zählt hierzu.
Damals herrschte offene Feindschaft zwischen den „bürgerlichen Demokraten“ und den
„Kommunisten“, welche bis zum Nasserismus die Hauptrolle spielten. Unter Nasser wurde diese
Debatte durch einen panarabischen populistischen Diskurs ersetzt, der jedoch gleichzeitig Willen
zur „Modernisierung" vorgab. Die Widersprüche dieses Systems bereiteten den Weg für die
Rückkehr des politischen Islams. Während der Phasen des Rückschrittes hingegen verschwand die
Meinungsvielfalt um einer scheinbar islamischen Gestrigkeit Platz zu machen, die für sich eine von der Obrigkeit sanktionierte Diskurshoheit beanspruchte. Von 1880 bis 1920 waren die Briten für
einen solchen Einbruch verantwortlich, da sie unter anderem alle seit Mohamed Ali ausgebildeten
modernistischen Denker und Akteure ins Exil schickten (hauptsächlich nach Nubien).
Bemerkenswert ist, dass sich auch der „Widerstand" gegen diese britische Besatzung der
rückwärts gewandten Strömung anschloss. Die von Afghani gegründete und von Mohamed Abdu
fortgeführte Nadha beschritt diesen Irrweg, verbunden mit der osmanistsichen Illusion, welche die
von Mustafa Kemal und Mohamed Farid gegründete neue Nationalistische Partei vertrat.
Niemanden wird es wundern, dass selbiger Irrweg zum Ende jener Zeitspanne die
ultrareaktionären Schriften Rachid Redas hervorgebracht hat, die von Hassan El Banna, dem
Gründer der Muslimbrüder aufgegriffen wurden.
Ähnliches gilt für die Phase des Rückschritts in den Jahren 1970 bis 2010. Der offizielle Diskurs der
Machthaber (Sadat und Mubarak) ist durch und durch islamistisch (wie die Aufnahme der Scharia
in die Verfassung und die Übertragung wichtiger Befugnisse an die Muslimbrüder beweisen) und
entspricht dem der Scheinopposition in den Moscheen, der einzigen die geduldet wird. So könnte
man meinen, der Artikel zwei sei fest in der allgemeinen „Überzeugung" verankert (derjenigen der
„Straße", wie man sich in Nachahmung des US-Diskurses ausdrückt). Die verheerenden
Auswirkungen der während der Rückschrittsphasen konsequent betriebenen Entpolitisierung sind
nicht zu unterschätzen. Sie rückgängig zu machen dürfte schwierig sein, aber nicht unmöglich. Die
gegenwärtigen Debatte in Ägypten konzentrieren sich explizit oder implizit auf die angebliche
„kulturelle Dimension“ der Aufgabe (mit anderen Worten die islamische). Ermutigend ist, dass
nach nur wenigen Wochen praktisch offener Diskussion der Slogan „Islam ist die Lösung“ bei allen
Demonstrationen durch konkrete Forderungen nach gesellschaftlichen Veränderungen ersetzt
wurde (Meinungsfreiheit, Gründung von Parteien, Gewerkschaften und anderen gesellschaftlichen
Organisationen, Gehälter und Arbeiterrechte, Zugang zu Land, Bildung und Gesundheit, Ablehnung
der Privatisierungen und Aufruf zu Verstaatlichungen usw.). Unmissverständliches Signal:
Während noch vor fünf Jahren die Muslimbrüder als einzig anerkannte scheinbar oppositionelle
Stimme bei den Studentenwahlen eine Mehrheit von 80% erreichten, sank ihr Anteil im April auf
20%! Doch der Gegner weiß seine Gegenschläge wider die „demokratische Gefahr“ zu
organisieren. Die unbedeutenden Änderungen der immer noch gültigen Verfassung, die von einem
ausschließlich aus durch den Hohen Rat (die Armee) handverlesenen Islamisten bestehenden
Ausschuss vorgeschlagen und im April durch ein eilig abgehaltenes Referendum abgesegnet
wurden (23% Gegenstimmen, aber eine Mehrheit von Ja-Stimmen aufgrund von Fälschungen und
massivem Druck seitens der Moscheen), betreffen natürlich nicht den Artikel zwei. Für
September/Oktober 2011 wurden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen anberaumt. Die
Demokratiebewegung kämpft für einen langsameren „Übergang zur Demokratie“, damit ihre
Botschaft die hilflosen Massen wirklich erreichen kann. Aber Obama hat sich für eine schnelle und
geordnete (d.h. den Machtapparat des Regimes nicht in Frage stellende) Machtübergabe in den
ersten Tagen des Aufstands und für Wahlen entschieden (die den Islamisten den erwünschten Sieg
bescheren könnten). Bekanntermaßen sind Wahlen in Ägypten ebenso wie anderswo auf der Welt
häufig nicht das beste Mittel um eine Demokratie einzusetzen, sondern um demokratischen
Vorstößen ein Ende zu machen.
Eine letzte Bemerkung zum Thema „Korruption“. Der vorherrschende Diskurs der
„Übergangsregierung" rückt deren Aufdeckung in den Mittelpunkt und droht mit strafrechtlicher
Ahndung (es wird sich zeigen, wieviel Wahrheit darin steckt). Dieser Diskurs findet zweifellos regen
Anklang, insbesondere beim naiven Teil der Öffentlichkeit, der sicherlich die Mehrheit ausmacht.
Man schreckt jedoch davor zurück, ihre tieferen Gründe zu analysieren und die Korruption (die
nach dem Vorbild US-amerikanischer Moralpredigten als moralisch verwerflich dargestellt wird)
als organischen Baustein zu begreifen, der für die Bildung einer Bourgeoisie notwendig ist. Das gilt
nicht nur für Ägypten, sondern allgemein für die südlichen Länder, wo sich eine
Kompradorenbourgeoisie entwickelt hat, die ohne enge Beziehungen zur Staatsgewalt nicht
lebensfähig wäre. Ich vertrete den Standpunkt, dass der Kapitalismus im Stadium
flächendeckender Monopole der Korruption als Nährboden zur Kultivierung seines
Bereicherungsschemas bedarf, in dem die Einkünfte aus der Monopolwirtschaft nur durch Klüngel
mit dem Staat erzielt werden können. Der ideologische Diskurs („der liberale Virus") fordert die
Abschaffung des Staates, während in der Praxis der Staat in den Dienst der Monopole gestellt
wird.
Die Sturmzone
Mao hatte nicht Unrecht als er sagte, dass der Kapitalismus (real existierend, das heißt im Wesen
imperialistisch) den Völkern der drei Kontinente (die Randzone, die Asien, Afrika und
Lateinamerika bilden – mit ihrer „Minderheit“ von 85% der Weltbevölkerung !) nichts bieten
könnte und dass daher der Süden die „Sturmzone“ bilden würde, das heißt eine Zone andauernder
Aufstände, die in sich (aber nur potenziell) den Keim revolutionärer Fortschritte in Richtung der
sozialistischen Überwindung des Kapitalismus tragen können.
Der „arabische Frühling“ ist Teil dieser Realität. Es sind soziale Aufstände, in denen sich
möglicherweise Alternativen herauskristallisieren, die sich langfristig in eine sozialistische
Perspektive einordnen lassen. Aus diesem Grund kann das kapitalistische System, das Kapital der
global herrschenden Monopole, die Entfaltung dieser Bewegungen nicht tolerieren. Es wird alle
möglichen Mittel der Destabilisierung in Gang setzen, von wirtschaftlichem und finanziellem Druck
bis hin zur militärischen Drohung. Je nach den Umständen wird es entweder die falschen
faschistischen oder faschistoiden Alternativen oder die Errichtung von Militärdiktaturen
unterstützen. Man darf nicht ein Wort von dem glauben, was Obama sagt. Obama, das ist Bush,
nur mit einer anderen Sprache. Es handelt sich da um eine permanente Doppelzüngigkeit in der
Sprache der führenden Personen der imperialistischen Triade (Vereinigte Staaten, Westeuropa,
Japan).
Ich habe nicht die Absicht, in diesem Artikel jede der aktuellen Bewegungen in der arabischen
Welt so eingehend zu untersuchen (Tunesien, Libyen, Jemen und andere) wie Ägypten. Denn die
Bestandteile der Bewegung sind von Land zu Land verschieden, genauso wie die Form ihrer
Integration in die imperialistische Globalisierung und in die Strukturen der derzeitigen Regime.
Der
tunesische Aufstand gab den Startschuss und hat sicherlich die Ägypter stark ermutigt. Im
übrigen hat die tunesische Bewegung einen gewissen Vorteil: die teilweise religiöse Neutralität des
Staates, die Bourguiba eingeführt hat, kann sicher nicht wieder von den aus ihrem britischen Exil
zurückgekehrten Islamisten in Frage gestellt werden. Aber gleichzeitig scheint die tunesische
Bewegung nicht in der Lage zu sein, das weltoffene, in die neoliberale kapitalistische
Globalisierung eingefügte Entwicklungsmodell in Frage zu stellen.
Libyen ist weder Tunesien noch Ägypten. Der an der Macht befindliche Block (Gaddafi) und die
Kräfte, die gegen ihn kämpfen, haben nichts Gemeinsames mit den Kräften, die in Tunesien und
Ägypten anzutreffen sind. Gaddafi war immer nur ein Hanswurst, dessen leerer Kopf sich in
seinem berühmten „Grünen Buch“ widerspiegelte. Er wirkte in einer Gesellschaft mit noch
archaischen Zügen und konnte sich daher erlauben, in einem fort „nationalistische und
sozialistische“ Reden - ohne große reale Bedeutung - zu halten, um sich dann am nächsten Tag
dem „Liberalismus“ anzuschließen. Er machte dies „um dem Westen zu gefallen“!, als ob die
Entscheidung für den Neoliberalismus keine Auswirkungen in der Gesellschaft hätte. Nun, es gab
solche Auswirkungen und sie haben ganz einfach die sozialen Schwierigkeiten für die Mehrheit
verschärft. Die Bedingungen waren also gegeben, die zur bekannten Explosion führten und die
unverzüglich vom politischen Islam im Land und von regionalen Kräften ausgenutzt wurde. Denn Libyen hat niemals wirklich als Nation existiert. Es ist eine geografische Region, die den Maghreb
und den Maschrek trennt. Die Grenze zwischen den beiden geht genau mitten durch Libyen. Die
Kyrenaika ist geschichtlich gesehen griechisch und hellenistisch, dann wurde sie maschrekinisch.
Tripolitanien hingegen war geschichtlich gesehen lateinisch und wurde maghrebinisch.
Aus diesem Grund gab es in dem Land immer eine Basis für regionalistische Kräfte. Man weiß nicht
wirklich, wer die Mitglieder im Nationalen Übergangsrat von Bengasi sind. Vielleicht gibt es
Demokraten unter ihnen, aber sicher dabei sind Islamisten und die schlimmsten von ihnen, die
Regionalisten. Von Anfang an hat die „Bewegung“ in Libyen die Form eines bewaffneten Aufstands
angenommen und das Feuer auf die Armee eröffnet; die Form einer Welle von
Massendemonstrationen hatte sie nicht. Dieser bewaffnete Aufstand hat übrigens sofort die NATO
zu Hilfe gerufen. Damit war die Gelegenheit für eine militärische Intervention der imperialistischen
Mächte geschaffen. Das Ziel, das damit verfolgt wird, ist sicherlich nicht „der Schutz der
Zivilbevölkerung“, auch nicht die „Demokratie“, sondern die Kontrolle über das Öl und der Erwerb
einer größeren Militärbasis in dem Land.
Sicherlich kontrollierten die westlichen Gesellschaften seit dem Anschluss Gaddafis an den
„Liberalismus“ bereits das libysche Öl. Aber mit Gaddafi kann man sich niemals sicher sein. Und
wenn er seine Weste wenden sollte und morgen die Chinesen oder die Inder in sein Spiel
einführte? Aber es gibt noch etwas schwerer Wiegendes. 1969 hatte Gaddafi die Räumung der
britischen und US-amerikanischen Basen gefordert, die nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet
worden waren. Heute müssen die Vereinigten Staaten Africom (das Regionalkommando Afrika der
US-Streitkräfte, ein wichtiges Element im System der militärischen Kontrolle des Planeten, das
immer noch seinen Sitz -in Stuttgart ! hat) nach Afrika verlegen. Die Afrikanische Union weigert
sich aber diese Verlegung zu akzeptieren und bis heute hat noch kein afrikanischer Staat dies
gewagt. Eine in Tripolis (oder in Bengasi) eingesetzte Marionette würde freilich alle Forderungen
Washingtons und seiner subalternen Verbündeten in der NATO unterschreiben.
Die Beteiligten der Revolte in
Syrien haben bislang ihre Ziele nicht erkennen lassen. Die Ursache
für die Explosion des Volkszorns ist sicherlich der Niedergang des Baas-Regimes, das sich dem
Neoliberalismus angeschlossen hat und angesichts der Besetzung der Golanhöhen durch Israel
seltsam passiv bleibt. Aber man darf eine Intervention der CIA auch nicht ausschließen: Es ist die
Rede von Gruppen, die vom benachbarten Jordanien kommend in Diraa eingedrungen sein sollen.
Die Mobilisierung der Muslimbrüder, die vor einigen Jahren für die Aufstände von Hama und Homs
verantwortlich waren, wäre Washington zuzutrauen, das sich bemüht, dem Bündnis Syrien / Iran
ein Ende zu setzen, das für die Unterstützung der Hisbolla im Libanon und der Hamas in Gaza von
großer Bedeutung ist.
Im
Jemen war die Einheit auf der Niederlage der fortschrittlichen Kräfte aufgebaut, die den Süden
des Landes regiert hatten. Wird die Bewegung diesen Kräften ihre Vitalität zurückgeben? Aus
diesem Grund versteht man das Zögern Washingtons und der Golfstaaten.
In
Bahrain ist der Aufstand durch die Intervention der saudischen Armee und das Massaker im
Keim erstickt worden, ohne dass die herrschenden Medien daran etwas auszusetzen gehabt
hätten. Zweierlei Gewichte, zweierlei Maße, wie immer.
Der „arabische Aufstand“ liefert nicht das einzige Beispiel für die der „Sturmzone“ offensichtlich
innewohnende Instabilität, wenn er auch deren jüngste Manifestation ist.
Eine erste Welle von „Revolutionen“, wenn man sie so nennen will, hatte gewisse Diktaturen, die
vom Imperialismus und reaktionären lokalen Kräften errichtet worden waren, in Asien
(Philippinen, Indonesien) und in Afrika (Mali) hinweggefegt. Aber in diesem Fall ist es den Vereinigten Staaten und Europa gelungen, die Dynamik dieser Volksbewegungen, bisweilen riesig
angesichts der erfolgten Mobilisierungen, abzuschwächen. Die Vereinigten Staaten und Europa
wollen in der arabischen Welt wiederholen, was in Mali, auf den Philippinen und in Indonesien
geschehen ist: Alles ändern damit sich nichts ändert! Nachdem dort die Volksbewegungen ihre
Diktatoren fort gejagt haben, haben sich die imperialistischen Mächte darum bemüht, dass das
Wesentliche erhalten bleibt durch die Installierung von Regierungen, die sich neoliberal
ausrichteten und den Interessen ihrer Außenpolitik folgten. Es ist interessant festzustellen, dass in
den muslimischen Ländern (Mali, Indonesien), der politische Islam zu diesem Zweck mobilisiert
wurde.
Die Welle der Emanzipationsbewegungen hingegen, die über den südamerikanischen Kontinent
hinweggefegt ist, hat reale Fortschritte in drei Richtungen möglich gemacht, die Demokratisierung
des Staates und der Gesellschaft, die Verfolgung konsequent anti-imperialistischer Ziele, die
Einleitung progressiver sozialer Reformen.
Der herrschende Diskurs der Medien vergleicht die „demokratischen Aufstände“ der Dritten Welt
mit denen, die die „Sozialismen“ Osteuropas nach dem Fall der „Berliner Mauer“ beendet haben.
Es handelt sich da schlicht und einfach um eine bewusste Täuschung. Denn welches auch immer
die (verständlichen) Gründe für die erwähnten Aufstände gewesen sein mögen, sie passten in die
Pläne der imperialistischen Mächte Westeuropas, sich die Region einzuverleiben (in erster Linie
zum Nutzen Deutschlands). Die Länder Osteuropas, die in Wirklichkeit nun auf den Status von
„Randbezirken“ des entwickelten kapitalistischen Europas beschränkt sind, werden ihren echten
Aufstand noch erleben. Es gibt dafür schon erste Zeichen, vor allem in Ex-Jugoslawien.
Die Aufstände, die möglicherweise revolutionäre Fortschritte in sich tragen, sind vorhersehbar für
fast jeden Punkt auf den drei Kontinenten, die mehr denn je die Sturmzone bleiben und damit die
schmalzigen Reden vom „ewigen Kapitalismus“, von der Stabilität, dem Frieden und dem
demokratischen Fortschritt widerlegen, den man mit ihm verbindet. Diese Aufstände aber müssen
zahlreiche Hindernisse überwinden, um zu revolutionären Fortschritten zu werden: Einerseits
müssen sie die Schwächen der Bewegung überwinden, positive Gemeinsamkeiten zwischen den
verschiedenen Teilen der Bewegung herausarbeiten und wirksame Strategien entwickeln und
umsetzen, aber andererseits auch die Interventionen (auch die militärischen) der imperialistischen
Triade abwehren. Denn jegliche militärische Intervention der Vereinigten Staaten und der NATO in
die Angelegenheiten der Länder des Südens, unter welchem Vorwand es auch sei, selbst wenn er
sich den Anschein einer Freundschaftsgeste gibt - wie die „humanitäre Intervention" - muss
geächtet sein. Der Imperialismus will weder den sozialen Fortschritt noch die Demokratie für diese
Länder. Die Marionetten, die er nach gewonnener Schlacht an die Macht bringt, bleiben Feinde
der Demokratie. Man kann nur bedauern, das die europäische „Linke“, auch die radikale,
aufgehört hat zu begreifen, was Imperialismus ist.
Heute ruft der herrschende Diskurs zur Verabschiedung eines „Volksrechtes“ auf, das
Interventionen grundsätzlich erlaubt, wenn die grundlegenden Rechte eines Volkes mit den Füßen
getreten werden. Aber die Bedingungen, um in dieser Richtung vorangehen zu können, sind noch
nicht gegeben. Die „internationale Gemeinschaft“ gibt es nicht. Sie beschränkt sich auf den
Botschafter der Vereinigten Staaten, dem die Europas automatisch folgen. Muss man die lange
Liste dieser mehr als unglücklichen, in ihren Ergebnissen kriminellen Interventionen aufstellen
(Irak zum Beispiel)? Muss man an das Prinzip „zwei Gewichte, zwei Maßstäbe“ erinnern, das sie
charakterisiert (in diesem Zusammenhang denkt man natürlich an die mit Füßen getretenen
Rechte der Palästinenser und an die bedingungslose Unterstützung Israels, an die unzähligen
immer noch unterstützten Diktaturen in Afrika)?
Der Frühling der Völker des Südens und der Herbst des Kapitalismus
Die „Frühlinge“ der arabischen Völker sowie die, die die Völker Lateinamerikas seit zwei
Jahrzehnten erleben, - ich nenne sie die zweite Welle des Erwachens der Völker des Südens, die
erste hatte sich im 20. Jahrhundert bis zur Gegenoffensive des neoliberalen
Kapitalismus/Imperialismus entfaltet – nimmt unterschiedliche Formen an. Sie beginnen mit gegen
Autokratien gerichteten explosionsartigen Revolten, die die Durchsetzung des Neoliberalismus
begleitet haben, bis zur Infragestellung der internationalen Ordnung durch die „Schwellenländer“.
Diese Frühlinge fallen zusammen mit dem „Herbst des Kapitalismus“, dem Niedergang des
globalisierten und finanzialisierten Monopolkapitalismus. Die Bewegungen beginnen, wie die im
vorigen Jahrhundert, mit der Rückeroberung der Unabhängigkeit der Völker und der Staaten der
Peripherie vom System und übernehmen damit die Initiative in der Umwandlung der Welt. Sie sind
also vor allem anti-imperialistische Bewegungen, folglich nur potenziell anti-kapitalistisch. Wenn
es diesen Bewegungen gelingt, sich mit dem anderen notwendigen Erwachen zu vereinen, dem
Erwachen der Arbeiter der imperialistischen Zentren, dann könnte sich eine wirklich sozialistische
Perspektive für die gesamte Menschheit abzeichnen. Aber diese Entwicklung ist in keiner Weise
vorweg als eine „geschichtliche Notwendigkeit“ gesichert. Der Niedergang des Kapitalismus kann
den Weg zum langen Übergang zum Sozialismus öffnen, genau so wie er die Menschheit auf den
Weg der allgemeinen Barbarei führen kann. Das immer noch bestehende Vorhaben einer
militärischen Kontrolle des Planeten durch die Streitkräfte der Vereinigten Staaten und ihrer
subalternen Verbündeten in der NATO, der Niedergang der Demokratie in den Ländern des
imperialistischen Zentrums sowie die traditionalistisch begründete Ablehnung der Demokratie in
den aufständischen Ländern des Südens (die die Form parareligiöser "fundamentalistischer"
Illusionen annehmen, die der politische Islam, der politische Hinduismus und Buddhismus
anbieten) wirken gemeinsam in Richtung dieser furchtbaren Perspektive. Der Kampf für
Demokratisierung und für religiöse staatliche Neutralität erhält eine entscheidende Bedeutung
unter den gegebenen Umständen, in denen sich die Aussicht auf eine Emanzipation der Völker und
die auf eine allgemeine Barbarei gegenüberstehen.
Ergänzende Lektüre:-
Hassan Riad, L’Egypte nassérienne, Minuit 1964
-
Samir Amin, La nation arabe, Minuit 1976
-
Samir Amin, A life looking forward, Memories of an independent Marxist, Zed, London 2006
-
Samir Amin, L’éveil du Sud, Le temps des cerises, 2008
(Der Leser findet dort das Ergebnis meiner Studien über die Leistungen des Vize-Königs Muhammad Ali (1805-1848) und der Khediven, die auf ihn gefolgt sind, vor allem von Ismail (1867-79), von der Wafd (1920-1952), über die Standpunkte des ägyptischen Kommunismus gegenüber dem Nasserismus, über den Niedergang der Nahda von Afghani bis zu Rachid Reda.) -
Gilbert Achcar, Les Arabes et la Shoah, Actes Sud, 2009.
(Beste Analyse der Komponenten des politischen Islam (Rachid Reda, die Muslimbrüder, die modernen Salafisten). -
Bezüglich des Verhältnisses zwischen dem Nord-Süd-Konflikt und dem Konflikt, der den Auftakt des sozialistischen Übergangs der weiteren Entfaltung des Kapitalismus gegenüberstellt, siehe:
Samir Amin, La crise, sortir de la crise du capitalisme ou sortir du capitalisme en crise?, Le Temps des Cerises, 2009
Merci à Tlaxcala:
Source:
www.tlaxcala-int.org
Date de parution de l'article original: 23/05/2011
URL de cette page:
www.tlaxcala-int.org
* Samir Amin, geb. 1931 in Kairo, Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaftler, einer der Begründer der Weltsystem-Theorie, ist Mitbegründer der kürzlich in Kairo konstituierten Ägyptischen Sozialistischen Partei.
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