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"Wir sollten unsere diplomatischen Vertretungen auffordern, Kontakte mit gemäßigten islamistischen Parteien zu intensivieren"

Das Auswärtige Amt hat Richtlinien für die EU entworfen für den Umgang mit den Ländern im arabischen Welt / Erstveröffentlichung des "Non-Papers"


Nach einem Bericht der Süddeutschen Zeitung vom 15. November 2011 ist die Bundesregierung gerade dabei, Leitlinien für den Umgang mit Wahlerfolgen islamistischer Parteien zu erarbeiten. In einem zunächst internen Arbeitspapier des Auswärtigen Amts heißt es u.a.: "Unser Einfluss dürfte selbst unter bestmöglichen Annahmen begrenzt bleiben, wir müssen daher alle sich uns bietenden Chancen nutzen, um die Transformationsprozesse in den betreffenden Ländern in eine demokratische Richtung zu lenken."

Die Verfasserin des SZ-Artikels, Sonja Zekri, kritisiert an dem Papier, dass es sich nur "auf ein Szenario" vorbereite, nämlich auf den wohl unvermeidlichen Dialog mit den islamistischen Kräften, die nach Einschätzung des Auswärtigen Amts in den meisten Umbruchstaaten wohl an die Macht kommen werden. Dieser Dialog müsse "pragmatisch-kritisch" sein und die "moderaten" Islamisten mit den westlichen Erwartungshaltungen konfrontieren: Anerkennung demokratischer Grundsätze, Garantie von Menschenrechten, Gewaltverzicht (der gilt aber nicht für den Westen!) und die Achtung internationaler Verträge - hierunter fiele auch der Friedensvetrtrag zwischen Ägypten und Israel.

Im Folgenden dokumentieren wir das "Non-Paper" aus dem AA im englischen Original sowie in einer von Eckart Fooken für uns besorgten deutschen Übersetzung. Das englische Kürzel MENA bedeutet "Middle East North Africa", wird im deutschen Text also als NONA abgekürzt (Naher Osten Nord-Afrika).


Non-Paper: Der Politische Islam *

Annahmen:
  • Die Ereignisse in der NONA-Region (Naher Osten, Nord-Afrika) und der sich anschließende Prozess der Demokratisierung wird eine einflussreichere Rolle des politischen Islam zur Folge haben, auch wenn die Islamisten selbst nicht die wichtigste treibende Kraft hinter den demokratischen Umwälzungen in Tunesien und Ägypten waren.
  • Einige gemäßigte islamistische Parteien – „gemäßigt“ in dem Sinne, dass sie sich zu den Prinzipien Gewaltlosigkeit, Rechtstaatlichkeit und Demokratie bekennen – sind bereits in Erscheinung getreten, oder werden es mit hoher Wahrscheinlichkeit, als stärkste Parteien in den Wahlen in Tunesien, Ägypten und anderen Staaten und sie werden mit Gewissheit in einer starken Position sein um den verfassungsgebenden Prozess in Tunesien und Ägypten in ihrem Sinn zu beeinflussen.
  • Es gibt keine monolithische islamistische Bewegung. Theoretischer und historischer Hintergrund, Organisationsstrukturen, Finanzierungsquellen und Ideologien der Bewegungen und Parteien unterscheiden sich stark. Ferner favorisieren deren Jugendbewegungen eine eher modernistisch-pragmatische Vorgehensweise. Ferner besteht unter den Islamisten eine beträchtliche Rivalität.
  • Der Islam spielt eine zentrale Rolle in den NONA-Gesellschaften. Für eine Mehrheit ihrer Bevölkerung sind die religiöse, soziale, private und politische Sphäre eng miteinander verflochten. Von daher werden religiös orientierte Parteien als natürliches Phänomen gesehen und nicht als Anzeichen extremistischer Tendenzen in der Gesellschaft.
  • Mit den gemäßigten Islamisten / Moslembruderschaft (MB) verbundene Bewegungen und Parteien haben eine starke Stellung bei großen Teilen der Bevölkerung als Folge von deren langjährigen Anstrengungen im sozialen und karitativen Bereich. Sie haben als oppositionelle Kräfte unter den alten Regimes eine hohe Glaubwürdigkeit erlangt. Andere, wie von Salafisten und Wahabiten beeinflusste Gruppierungen verfügen über regionale Unterstützung in einigen Ländern und können auf externe Finanzquellen zählen.
  • Gemäßigte Islamisten / MB-verbundene Gruppen haben erkannt, dass es bei den arabischen Revolutionen um demokratische Rechte, Freiheit und Würde geht. Die Islamisierung der Gesellschaft wird nicht als zentraler Punkt in den Vordergrund gestellt. Gleichzeitig wird allgemein akzeptiert, dass der Islam zentrales Bezugssystem für den Aufbau einer nach-revolutionären Gesellschaft sein wird.
  • Im Allgemeinen betonen gemäßigte islamistische Gruppen ihre Befolgung der Prinzipien der Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Menschenrechten. Allerdings bleibt abzuwarten, wie diese theoretischen Positionen umgesetzt werden in die politische Praxis unter demokratischen Bedingungen. Ferner bestehen gravierende Unterschiede - verglichen mit der westlichen Interpretation – bezüglich der Rolle der Religion, von Minderheiten und Frauenrechten.
  • Auch gemäßigte Gruppen äußern starke anti-israelische Positionen und Rhetorik, und werden diese wahrscheinlich in der öffentlichen Meinung bei Wahlen einsetzen. Gleichzeitig nehmen diese Gruppierungen derzeit eine eher „weiche“ Position ein und bekennen sich öffentlich zur Bedeutung der regionalen Stabilität und dem Einhalten internationale Verträge.
Mögliche Richtlinien:
  • Da die gemäßigten Islamisen wichtige politische Akteure sein werden, sollten wir zum politischen Dialog mit diesen Gruppen bereit sein. Ohne dabei ideologische Differenzen zu ignorieren müssen wir in eine Position kommen, in der wir in eine Diskussion über konkrete politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Angelegenheiten eintreten können.
  • Wir sollten unsere diplomatischen Vertretungen auffordern, Kontakte mit gemäßigten islamistischen Parteien zu intensivieren. Wir könnten auch in Erwägung ziehen, Vertreter solcher Parteien in nationale Besucher-Programme einzubeziehen.
  • Es wird wichtig sein zu differenzieren zwischen gemäßigten Islamisten als pragmatischen Akteuren und extremistischen Gruppen, die wir verurteilen.
  • Um Gruppen, die für einen derartigen Dialog in Frage kommen, zu finden, müssen wir Kriterien entwickeln, wie: Befolgung demokratischer Prinzipien, Rechtstaatlichkeit, Pluralismus und Menschenrechte, Ablehnung politischer Gewalt, Respektierung internationaler Vereinbarungen und Verträge, ein konstruktives Vorgehen bei regionalen Problemen des Mittleren Ostens. Bezüglich Israels, der Zwei-Staaten-Lösung und der arabischen Friedensinitiative sollten wir klare Erwartungen artikulieren.
  • Die o.a. Kriterien bzw. Richtlinien werden wichtig sein für das Erstellen eines Orientierungsrahmens, wobei wir aber gleichzeitig ein gewisses Maß an Flexibilität bewahren müssen.
  • In unseren öffentlichen Stellungnahmen müssen wir klar kommunizieren, dass wir gewillt sind mit allen Gruppen, die demokratischen Prinzipien respektieren, Gespräche zu führen.
  • Bezüglich der Resultate von freien und fairen Wahlen sollten unsere Reaktionen wohl abgewogen sein. Wir sollten in der Lage sein, dem/den Sieger(n) zu gratulieren und die Bereitschaft zur Zusammenarbeit anzubieten ( vorausgesetzt dass es sich hierbei nicht um Extremisten handelt ). Die Erklärung der EU-Außenbeauftragten Ashton zum Ergebnis der Wahlen in Tunesien bietet hierfür ein gutes Beispiel.
  • Wir sollten öffentlich der Erwartung Ausdruck geben, dass die neugebildeten Regierungen die Respektierung der oben genannten Grundprinzipien sicherstellen und dass der verfassungsgebende Prozess diese Prinzipien widerspiegelt.
  • Zur gleichen Zeit könnten öffentliche Verlautbarungen Vorbehalte enthalten über bestimmte von gemäßigten Islamisten vertretene Positionen, bei denen signifikante Differenzen bestehen.
  • Zu guter letzt besteht die Notwendigkeit, sich mit der Öffentlichen Meinung und den Parlamenten in unseren eigenen Ländern über den Sinn und Zweck des Dialogs mit dem gemäßigten politischen Islam zu beschäftigen. Bei diesem Prozess können Parlamentsabgeordnete eine wichtige positive Rolle spielen.
* Übersetzung aus dem Englischen: Eckart Fooken; keine amtliche Übersetzung.

NON-PAPER: POLITICAL ISLAM **

Assumptions:
  • The events in the MENA region and the ensuing process of democratisation will result in a more influential role for political Islam, even though Islamists were not the main driving force behind the democratic revolutions in Tunisia and Egypt.
  • Some moderate Islamist parties - moderate in the sense that they adhere to nonviolence, rule of law and democracy – have already emerged or are likely to emerge as strongest parties in elections in Tunisia, Egypt and other countries and are likely to be in a strong position to influence the constitutional process in Tunisia and Egypt.
  • There is no uniform Islamist sector. Theoretical and historical background, organisational set-up, funding sources and ideologies of movements and parties vary greatly. In addition, youth movements are in favour of a more modernist, pragmatic approach. Considerable rivalry exists among Islamists.
  • Islam plays a central role in MENA societies. For a majority of their populations, the religious, social, private and political spheres are strongly intertwined. Consequently, religiously oriented parties are seen as a natural phenomenon, and not as signs of extremist tendencies in society.
  • Moderate Islamist / Muslim Brotherhood (MB) affiliated movements and parties have a strong standing among large parts of the population because of longstanding social and charity efforts. They have gained considerable credibility as opposition groups under the old regimes. Others, such as Salafist movements, Wahhabi influenced groups etc. enjoy regional support in some countries and can count on outside funding.
  • Moderate Islamist / MB affiliated groups have recognized that Arab revolutions are about democratic rights, freedom and dignity. Islamisation of society is not put forward as a central issue. At the same time, it is commonly accepted, that Islam will provide central references for the build-up of a post-revolutionary society.
  • Generally, moderate Islamist groups stress adherence to principles of democracy, rule of law and human rights. However, it remains to be seen how these theoretical positions are translated into political actions under democratic conditions. In addition, important differences in understanding (compared to Western interpretation) exist regarding the role of religion, minorities and women´s rights.
  • Even moderates express strong anti-Israeli rhetoric and positions and are likely to exploit public opinion in elections. At the same time, moderate Islamist and MB affiliated groups take a rather soft stance at the moment and have publicly subscribed to the importance of regional stability and the respect of international treaties.
Possible Guidelines:
  • As moderate Islamist groups will be important political actors we should be ready for dialogue with those groups. While not disregarding ideological differences we need to be in a position to engage in discussions about concrete political, economic and social issues.
  • We should ask our Embassies to intensify contacts with moderate Islamist parties. We could also consider including representatives of such parties in national visitors’ programmes.
  • It will be important to differentiate between moderate Islamists as pragmatic actors and extremist groups that we denounce.
  • To identify groups that qualify for dialogue, we need to apply criteria, such as: adherence to the principles of democracy, rule of law, plurality and human rights, rejection of political violence, respect of international obligations and treaties, a constructive approach to regional issues in the Middle East. With regard to Israel, the two-state-solution and the Arab Peace Initiative we should articulate clear expectations.
  • The above criteria or guidelines will be important in providing orientation. At the same time, we need to maintain a level of flexibility.
  • In our public messages, we need to communicate clearly that we are willing to engage with all groups that respect democratic principles.
  • Regarding the outcome of free and fair elections, our reactions ought to be measured. We should be able to congratulate the winner(s) and to express a willingness to cooperate (provided that winners don’t represent extremist groups). HR Ashton’s statement on the election results in Tunisia set a good example.
  • We should express expectations that newly formed governments ensure respect for the basic principles set out above and that constitutional processes reflect these principles.
  • At the same time, public statements may include reservations about certain positions held by moderate Islamists on which there are is significant disagreement.
  • Finally, there is a need to engage with parliaments and public opinion in our own countries on the issue of dialogue with moderate political Islam. In taking forward dialogue with moderate political Islam, Members of Parliament can play an important role.
** Das Non-Paper liegt der Redaktion dieser Website vor.


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