Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Aufbruch vorerst gescheitert

Jahresrückblick 2011. Heute: "Arabischer Frühling". Der Westen behauptet ­seinen Hegemonialanspruch in der Region

Von Karin Leukefeld *

Ein Jahr nach Beginn des »Arabischen Frühlings« deutet vieles darauf hin, daß die Volksrevolutionen in Tunesien und Ägypten, im Jemen und Libyen, in Jordanien und Irak mit ihrem Aufbruch für Moderne, Gleichheit und nationale Souveränität zumindest vorerst gescheitert sind. Die Lage in Syrien eskaliert militärisch, der Ausgang bleibt unklar.

Dank finanzieller, politischer und militärischer Hilfe aus den USA, der EU, Katar und Saudi-Arabien sind Militär und religiöse Parteien der Muslimbruderschaft aus den Aufständen in Tunesien und Ägypten als Sieger hervorgegangen. Der Westen und seine arabischen Verbündeten behaupten ihren Hegemonialanspruch in der Region.

Nach dem Sturz ihrer langjährigen Verbündeten Zine Al-Abidine Ben Ali in Tunesien (Januar 2011) und Hosni Mubarak in Ägypten (Februar 2011) sorgten sich bei den ersten Protesten in Libyen (März 2011) führende Wirtschaftsblätter wie der Economist um die Zukunft des Ölpreises, der wie kaum ein anderer Preis »von Angst bestimmt« sei. Libyen als die Nummer 13 auf der Liste der größten erdölexportierenden Staaten schien außer Kontrolle zu geraten, vor allem für die ölhungrigen europäischen Ökonomien ein Desaster. Der Kampf zwischen Rebellen und den Truppen von Muammar Al-Ghaddafi ginge »um die Kontrolle über die einzige Ressource des Landes«, dem Öl, stellte der Economist nüchtern fest. Die Produktion sei innerhalb weniger Tage um zwei Drittel eingebrochen, Raffinerien und Förderanlagen wurden von den Arbeitern verlassen, um die Ölhäfen Brega, Ras Lanuf, Tobruk und Zuetina wurde gekämpft. Die Rebellen hatten Sarir, das größte afrikanische Ölfeld unter ihre Kontrolle gebracht. Dort wurden täglich rund 400000 Barrel Öl gefördert, bei einem Preis von 120 US-Dollar pro Barrel ging es immerhin um 48 Millionen Dollar (37 Millionen Euro). Die wirtschaftlichen und politischen Eliten westlicher Staaten sorgten sich, ob die Förderung unterbrochen und der Preis steigen würde und darüber, wie man politisch reagieren sollte, falls dieses schlimmste Szenario eintreten sollte. Das arabische Ölembargo gegen Europa und die USA 1972, der Ausfall persischer Lieferungen nach der iranischen Revolution 1978 und nicht zuletzt der Einmarsch Saddam Husseins in Kuwait, der den Zugriff zu den kuwaitischen Ölressourcen für den Westen gefährdete, haben geradezu traumatische Spuren in westlichen Ökonomien hinterlassen.

Flucht Hunderttausender

Der Krieg gegen Libyen zerstörte eine intakte Infrastruktur: Städte, Straßen, Krankenhäuser, Häfen und Flughäfen. Die Ölförderanlagen dagegen blieben unberührt. Firmen aus europäischen Kernstaaten, die an dem Waffengang gegen Libyen beteiligt waren, bewerben sich bereits für den Wiederaufbau. Das bisherige Sozialsystem mit monatlicher Grundsicherung und freier medizinischer Versorgung ist in Frage gestellt, eine der ersten Anordnungen des Übergangsrates war, daß Männer auf Grundlage des islamischen religiösen Gesetzes Scharia wieder vier Frauen heiraten dürfen. Ordnungskräfte der Polizei wurden selbst in der Hauptstadt Tripolis durch Dutzende Gruppen von Milizen ersetzt. Deren Aufgabe besteht vor allem darin, Revier und Einfluß zu sichern, wofür sie gegeneinander auch Waffen einsetzen. Führende Kämpfer der sogenannten libyschen Rebellen, die aus dem Ausland eingeflogen worden waren, kämpfen inzwischen im türkisch-syrischen Grenzgebiet gegen die syrischen Streitkräfte. Der selbst ernannte Nationale Übergangsrat genießt nicht in allen Landesteilen Anerkennung und Autorität. Eine »Erste Nationale Versöhnungskonferenz« über den Umgang mit Anhängern von Muammar Ghaddafi, löste in Bengasi Mitte Dezember wütende Proteste aus. Wenig hört man noch über das Schicksal von fast einer Millionen Flüchtlingen, die vor dem Krieg nach Ägypten, Tunesien, Algerien, Niger, Tschad, Sudan oder über das Mittelmeer geflohen waren. Die meisten von ihnen waren nicht Libyer, sondern Gastarbeiter aus vielen Ländern.

Im Jemen, dem »Armenhaus der arabischen Welt« hat eine Übergangsregierung die Macht übernommen, doch die Proteste gegen den von den Golfstaaten und westlichen Verbündeten des früheren Machthabers Ali Abdullah Saleh ausgehandelten Übergangsplan reißen nicht ab. Gegen die darin vorgesehene Straffreiheit von Saleh und seiner Familie marschierten vor wenigen Tagen Zehntausende Jemeniten von der südjemenitischen Stadt Taez in die Hauptstadt Sanaa (rund 270 Kilometer). Bei der Ankunft des Zuges in Sanaa eröffneten Sicherheitskräfte am Samstag das Feuer auf die Demonstranten. 13 Menschen wurden getötet, 50 verletzt. Etwa 150 weitere Demonstranten seien nach dem Einsatz von Tränengas mit Atemproblemen behandelt worden, teilten Krankenhausangestellte mit. Angeführt wurde der Marsch von einer Gruppe Frauen. Die Journalistin und politische Aktivistin Tawakkul Karman hatte am 10. Dezember – mit zwei afrikanischen Frauen – den Friedensnobelpreis für ihr Engagement erhalten.

Wirtschaftliches Desaster

Das Jahr 2011 endete für die Staaten des »Arabischen Frühlings« mit einem wirtschaftlichen Desaster. Die Arbeitslosigkeit ist rapide gestiegen, traditionelle Wirtschaftssektoren wie die Textilindustrie, Tourismus und Landwirtschaft sind weitgehend zusammengebrochen. In dem mit 80 Millionen Menschen bevölkerungsreichsten Land Ägypten liegt die Inflationsrate bei neun Prozent, ausländische Investitionen sind gegenüber 2010 um ein Drittel auf 2,2 Millionen US-Dollar gesunken, entsprechend sind auch die ausländischen Währungsreserven zurückgegangen. Das Geld fehlt für Importe, mit zehn Millionen Tonnen Weizen pro Jahr ist Ägypten der größte Weizenimporteur weltweit. Ein von Internationalem Währungsfonds und Weltbank angebotener Kredit könnte das Land in neue Abhängigkeiten führen, bisher hat Ägypten das abgelehnt. Ägyptische Wirtschaftsexperten befürchten auch wegen der politischen Entwicklung einen weiteren Rückgang der dringend erforderlichen Auslandsinvestitionen, islamische Parteien werden die zukünftige Politik des Landes dominieren. Vorläufiger Sieger der Parlamentswahlen ist eindeutig die allgemein als »moderat« eingestufte Muslimbruderschaft mit mindestens 36,6 Prozent der Stimmen – zwei Wahlgänge stehen noch aus. Auf Platz zwei landete die ultrakonservative Al-Nur-Partei der Salafisten mit 24,4 Prozent.

Parteien des politischen Islam sind auch in Marokko und Tunesien Gewinner der Wahlen, Ende November frohlockt die Islamische Aktionsfront in Amman über das »Erfolgsmodell« der Muslimbruderschaft, das man in Jordanien fortsetzen werde.

Im Juni 2011 hatte US-Außenministerin Hillary Clinton einen »Kurswechsel« in Sachen Muslimbruderschaft vorgegeben. Man habe bereits »begrenzt« Kontakt mit der ägyptischen Muslimbruderschaft gehabt, nun wollten die USA die Beziehung ausbauen, sagte sie in Budapest. Es sei »im Interesse der USA«, mit allen Parteien Kontakte zu pflegen, die sich einem friedlichen Wettbewerb um Einfluß im Parlament und im Präsidentenamt befänden«, sagte Clinton und gab gleich noch die Eckpfeiler vor, die die zukünftigen religiösen Machthaber in Rabat, Tunis und Kairo befolgen müssen, um von den USA unterstützt zu werden: demokratische Prinzipien, Gewaltfreiheit, Respekt vor Minderheitenrechten und Frauen« und natürlich die Anerkennung Israels. Das sagte die US-Außenministern nicht, sondern sprach von »bestimmten Erwartungen«, die man habe und von »bestimmten Botschaften«, die man den Muslimbrüdern vermittelt habe. In einem telefonischen Interview mit dem israelischen Armeerundfunk (21.12.) erklärte der Sprecher der ägyptischen Al-Nur-Partei, Yusri Hammad, seine Partei werde den Friedensvertrag mit Israel (1979) respektieren.

* Aus: junge Welt, 27. Dezember 2011


Zurück zur Nahost-Seite

Zurück zur Homepage