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Frischer Wind

Jahresrückblick 2011. Heute: Nahostkonflikt. Der arabische Aufstand sorgt für neue Bewegung

Von Werner Pirker *

Im Nahen Osten nichts Neues. Für das zu Ende gehende Jahr läßt sich das sicher nicht behaupten. Daß dem so ist, hat sicher nichts mit US-Präsident Barack Obama zu tun, dessen Ankündigung, den Nahost-Friedensprozeß einer schnellen Verhandlungslösung zuführen und dabei auch den israelischen Verbündeten stärker in die Pflicht nehmen zu wollen, von den Israelis der Lächerlichkeit preisgegeben wurde. Es war der arabische Aufstand, der für frischen Wind im nahöstlichen Geschehen gesorgt hat.

Die Regierung von Benjamin Netanjahu freilich scheint die Veränderungen in Israels Umgebung völlig kalt zu lassen. Unbeirrt setzt sie ihre Politik der illegalen jüdischen Besiedlung des Westjordanlandes und Ostjerusalems fort. Mit der offenen Brüskierung der palästinensischen Autonomiebehörde und ihres stets kollaborationsbereiten Vorsitzenden Mahmud Abbas ist sie im Begriff, die Oslo-Konstruktion in Gänze einzureißen. Auf die neuen Bedingungen in der Region reagiert Israel nicht mit Anpassung, sondern mit einer Verschärfung seines Konfrontationskurses.

Daß die Veränderungen in der arabischen Welt auch auf den israelisch-palästinensischen Konflikt ihre Auswirkungen haben, zeigte sich erstmals Anfang Mai in Kairo, als unter ägyptischer Vermittlung die beiden Hauptfraktionen der palästinensischen Nationalbewegung, Fatah und Hamas, zu Versöhnungsgesprächen zusammentrafen. Die »nationale Einheit«, wie sie bei diesem Treffen feierlich bekundet wurde, ist nach wie vor sehr brüchig. Auch gab es 2006 bereits eine Regierung der nationalen Einheit. Doch die wurde unter dem Würgegriff des Westens, der sich mit der aus freien Wahlen hervorgegangenen Alleinregierung der Hamas nicht abfinden wollte, gebildet. Die Vereinbarungen von Kairo hingegen wurden gegen den ausdrücklichen Willen des Machtkartells, vor allem Israels, getroffen.

Damit hatten zwei für die Pax Americana in Nahost zentrale Akteure – die ägyptische Führung und die Autonomiebehörde um Abbas – erstmals Akzente einer Politik jenseits amerikanisch-israelischer Regieanweisungen erkennen lassen. Ägyptens Oberster Militärrat, der auch eine Öffnung der Grenze zum Gaza-Streifen in Aussicht stellte, erhofft sich mit palästinenserfreundlichen Initiativen eine Beruhigung der arabischen Straße. Gleichzeitig – und darauf deutet auch die Inaktivität der Ordnungskräfte bei der Erstürmung der israelischen Botschaft im Oktober hin – sollte damit gezeigt werden, was passieren könnte, wenn die Armee ausfällt und die Straße dann wirklich das Sagen hätte. Mahmud Abbas’ Mutprobe erklärt sich wiederum daraus, daß er mit dem Sturz Mubaraks seinen wichtigsten arabischen Verbündeten verloren hat und nun bestrebt ist, von der Entwicklung nicht völlig ausgeschlossen zu werden.

Es waren die Israelis selbst, die ihrem Mann in Ramallah den Boden unter den Füßen weggezogen haben. Wozu Abbas auch immer bereit war, hatte er als Dank dafür stets neue Demütigungen hinzunehmen. Daß Abbas dann immerhin die Härte aufbrachte, einen Siedlungsstopp zur Bedingung für die Wiederaufnahme von Verhandlungen zu machen, ist ironischerweise Obama zu verdanken. Der hatte in seinem Hang zu großen Worten den Israelis einen Baustopp abverlangt, eine Position, die dann auch von Abbas eingenommen wurde und hinter die er auch nicht mehr zurückwollte, als Obama die israelische Verweigerungshaltung stillschweigend hinnahm.

Irgendwann ist Mahmud Abbas der seit 20 Jahren gleichen Verhandlungsstrategie der zionistischen Führung müde geworden. Auf jeder weitere Verhandlungsstufe sehen sich die Palästinenser mit neuen Forderungen konfrontiert. Stimmen sie nicht zu, werden sie für das Scheitern der Gespräche verantwortlich gemacht. Kapitulieren sie, finden die Israelis andere Gründe, zum Beispiel ihren gezielten Tötungen folgende Terrorakte, um die Verhandlungen auszusetzen. In den auf internationalen Druck hin wieder aufgenommenen Gesprächen gelten die palästinensischen Zugeständnisse als Ausgangsbasis, und die israelischen Forderungen werden noch weiter in die Höhe getrieben.

So ist es mit der von der PLO bereits 1993 ausgesprochenen Anerkennung des Staates Israel längst nicht mehr getan. Gefordert ist die Anerkennung des Existenzrechtes Israels als jüdischer Staat, das heißt die Anerkennung des zionistischen, auf der palästinensischen Katastrophe (Nakba) aufbauenden Projekts. Da Israel auch nicht bereit ist, sich auf die Vor-1967-Grenzen zurückzuziehen und die Grenzfrage bis zum Nimmerleinstag offenzuhalten gedenkt, läuft die Anerkennungsfrage auf eine Legitimierung der zionistischen Kolonisierung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hinaus. Entsprechend sähe ein palästinensischer Staat von Israels Gnaden aus: ein bis in alle Ewigkeit provisorisches Gebilde.

In dieser Situation ist Abbas am 23. September 2011 vor die UNO-Vollversammlung getreten, wo er um die Aufnahme Palästinas in die Weltorganisation ersuchte. Die Behandlung eines solchen Antrages obliegt dem Sicherheitsrat, wo ein US-Veto seine Annahme blockiert. Da eine Anerkennung Palästinas als vollwertiges völkerrechtliches Subjekt auf absehbare Zeit nicht realisierbar ist, werden halbe Lösungen, wie die Erlangung eines Beobachterstatus ins Auge gefaßt. Das würde es den Palästinensern immerhin ermöglichen, israelische Kriegsverbrechen vor die internationale Gerichtsbarkeit zu bringen. Es stellt sich allerdings die Frage, ob nicht ein Beobachterstatus der Palästinenser in der UNO genau der Logik einer provisorischen Staatlichkeit entspräche. Die Vehemenz, mit der die israelisch-amerikanische strategische Allianz gegen die Abbas-Initiative vorgeht, zeigt indessen, daß man sich an einer wunden Stelle getroffen fühlt. Die Autonomiebehörde hat die Palästina-Frage internationalisiert und damit die amerikanische Vormundschaft zumindest in Frage gestellt.

Immerhin: Am 31. Oktober hat die UN-Kulturorganisation UNESCO Palästina als Vollmitglied aufgenommen. 14 Staaten, darunter Deutschland, stimmten dagegen. Israel drohte in bewährter Herrenvolk-Manier umgehend Strafmaßnahmen gegen die Palästinenser an. Die angekündigte Intensivierung des Siedlungsbaus ist bereits im vollen Gange. Und nicht zum ersten Mal weigert sich Israel, von ihm erhobene, aber der Autonomiebehörde zustehende Import- und Exportsteuern an diese weiterzuleiten.

Und dennoch konnte der Mythos von Israel als der einzigen Demokratie im Nahen Osten, das seinen humanistischen Grundsätzen inmitten der arabischen Barbarei treu geblieben ist, durch den jüngsten Gefangenenaustausch im Verhältnis 1:1000 neu belebt werden. Für die Freilassung des israelischen Soldaten Gilat Schalit war der jüdische Staat bereit, mehr als 1000 palästinensische politische Gefangene aus israelischen Haftanstalten zu entlassen. Das wurde als Beweis für die hohe Wertschätzung, die jeder einzelne in der israelischen Gesellschaft genieße, herangezogen, mitunter aber auch offen rassistisch begründet: tausche einen Israeli für tausend Araber.

Im Grunde war dieser Deal, den die Netanjahu-Regierung ausgerechnet mit der dämonisierten islamischen Widerstandsbewegung Hamas einging, ein kalt kalkulierter Racheakt. Den Islamisten wurde ein spektakulärer Verhandlungserfolg zugespielt, um Mahmud Abbas, dem Israel den Alleingang nach New York nicht verzeihen will, als umso erfolgloser erscheinen zu lassen. Das erinnert ein wenig an den Umgang, den die israelische Führung zuletzt mit Arafat pflegte. Als dieser dem Befriedungsdiktat von Camp David die Zustimmung verweigerte, wurde er kaltgestellt. Nicht wenige meinen: kaltgemacht.

* Aus: junge Welt, 22. Dezember 2011


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