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Von der nationalen Unabhängigkeit Birmas zur "disziplinierten Demokratie" Myanmars

Von Rainer Werning *

Teil I: Machtfaktor Militär

Myanmar – nirgendwo sonst in Südostasien bestimmte das Militär dermaßen lange und tiefgreifend die Geschicke eines Landes. Und kein Militär in der Region stieß einen solch weitreichenden Reformprozeß in Staat und Gesellschaft an, der so viel nationale Verblüffung auslöste und mittlerweile auch international gewürdigt wird. Den Parlamentswahlen vor drei Jahren folgte wenige Tage später, am 13. No­vember 2010, die Freilassung der im Westen als »Ikone der Demokratie« gepriesenen Oppositionspolitikerin Aung San Suu Kyi aus langjährigem Hausarrest.

Um diese Entwicklung zu verstehen, ist ein Blick in die Geschichte des Landes notwendig. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges in Europa hatten sich in der britischen Kolonie Birma [1] im Jahre 1939 gleich mehrere politische Vereinigungen und Parteien konstituiert. Sie forderten die Unabhängigkeit von Großbritannien und sprachen sich gegen eine Kriegsbeteiligung an dessen Seite aus – darunter der parteien­übergreifende Freiheitsblock (Freedom Bloc).

So unterschiedlich die ideologische Ausrichtung innerhalb dieses Blocks war – als bevorzugte Lektüre dienten ihren Anhängern und Sympathisanten neben marxistisch-leninistischer Literatur genauso Bücher über die Französische Revolution und den irischen Freiheitskampf, aber auch faschistische Schriften –, so verschieden waren die politischen Überlegungen darüber, wie und mit welchen Methoden die Unabhängigkeit realisiert werden sollte. Grob ließen sich zwei Strömungen ausmachen: Während sich einige vom Aufstieg Mussolinis und Hitlers inspirieren ließen und mit deren faschistischer Ideologie sympathisierten, neigten andere zu sozialistischen oder kommunistischen Ideen. Dies fand auch seinen Niederschlag in der Ausrichtung des Kampfes für Freiheit und Unabhängigkeit. Setzten erstere gemäß der Losung »Der Feind meines Feindes ist mein Freund« auf die Unterstützung Japans als Teil der sogenannten Achsenmächte, um das verhaßte Kolonialjoch der Briten abzuschütteln, sahen letztere in Japan den Hauptfeind, den es mit Hilfe eines breiten Bündnisses unter Einschluß der Sowjetunion und selbst Großbritanniens zu bekämpfen galt.

Die »30 Kameraden«

Nach den Unruhen von 1938 und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 wurden viele Führer der Thakin-Bewegung [2] verhaftet. Es sei denn ihnen war die Flucht ins benachbarte China gelungen. Zu diesen zählte auch Aung San, der Vater der 1991 zur Friedensnobelpreisträgerin auserkorenen Aung San Suu Kyi. Kontakte zu japanischen Offizieren, unter ihnen Oberst Suzuki Keiji, ermöglichten es Aung San, zu ersten Gesprächen nach Tokio zu reisen, von dort aus im Frühjahr 1941 kurz nach Birma zurückzukehren, um mit engen Freunden und Gesinnungsgenossen, die später »30 Kameraden« genannt wurden, erneut nach Japan zu reisen. Dort fand ein reger Gedankenaustausch über die Aufstellung einer eigenen Armee und die politische Neugestaltung statt. Logistische und politisch-militärische Unterstützung fanden die »30 Kameraden« fortan durch das von Suzuki geführte »Südbüro« bzw. die »Südagentur« (Minami Kikan), ein geheimdienstliches Netzwerk, das der Oberst bereits während seiner Stationierung in Rangun geknüpft hatte.

Das Minami Kikan koordinierte im Auftrag des Kaiserlichen Generalhauptquartiers in Tokio dessen Birma betreffende Pläne. Auf Initiative des »Südbüros« wurden Aung San und seine Getreuen zunächst in ein eigens geschaffenes Trainingslager nach Sanya auf der von Japan besetzten chinesischen Insel Hainan gebracht. Dort absolvierten die »30 Kameraden« unter der Aufsicht japanischer Offiziere eine halbjährige militärische Ausbildung, die von politischen Schulungen im Geiste der in Tokio im August 1940 offiziell verkündeten »Größeren Ostasiatischen Gemeinsamen Wohlstandssphäre« begleitet war.[3] Mit diesem Konzept verschleierte das militaristische Japan seine eigenen hegemonialen Ziele in Asien und im Pazifik; es wähnte sich als »Führer, Licht und Beschützer Asiens« im Kampf gegen westlichen Kolonialismus und Imperialismus.

Als wenige Tage nach dem Angriff am 7. Dezember 1941 auf Pearl Harbor, dem Hauptquartier der US-amerikanischen Pazifikflotte, japanische Truppen siegreich in Thailands Hauptstadt Bangkok einmarschierten und weiter südlich auf die malaiische Halbinsel Malaya vordrangen, kam für die »30 Kameraden« der ersehnte Augenblick ihrer Bewährungsprobe. Sie wurden nach Bangkok gebracht, wo Aung San am 27. Dezember 1941 die Gründung der Burma Independence Army (BIA) verkündete. Somit war auf Japans Initiative hin der Kern der ersten birmanischen Streitkraft seit dem Fall des Königreichs im Jahre 1885 entstanden. Das Kommando der BIA übernahm Oberst Suzuki, während Aung San sein Stabschef wurde und Shu Maung zum Chef einer Armeegruppe avancierte, die im bevorstehenden Einsatz in Birma für Sabotage im Landesinnern verantwortlich war.[4]

Im Kontext der »Größeren Ostasiatischen Gemeinsamen Wohlstandssphäre« verfolgte das japanische Militär in bezug auf Birma drei wesentliche Ziele. Einerseits ging es um den Zugriff auf die strategischen Ressourcen (u.a. Erdöl) des Landes. Um die schmale malaiische Landzunge gegen ein Abschnüren der wichtigen Landverbindung zwischen Bangkok und Singapur durch mögliche britische Angriffe zu schützen, plante der japanische Generalstab die Invasion Südbirmas, um dortige Luftwaffenbasen sowie den Hafen von Rangun zu besetzen. Schließlich ging es um die Kontrolle der gleichermaßen bedeutsamen Burma Road im Nordosten des Landes, über die die alliierten Streitkräfte der Tschiang-Kai-Schek-Regierung in Chungking logistische Hilfe leisteten. Eine Unterbrechung dieses Nachschubweges, der vom nordostindischen Assam über Nordbirma nach Kunming, die Hauptstadt von Chinas südwestlicher Yunnan-Provinz, verlief, hätte aus japanischer Sicht einen schnelleren Erfolg seines »Chinafeldzuges« bedeutet.

Nach dem Fall der britischen Kolonie Singapur im Februar 1942 wurden mehrere Städte in Südbirma durch japanische Truppen und BIA-Verbände und schließlich am 8. März die Hauptstadt Rangun eingenommen. Zwischenzeitlich auf 300 Käm­pfer angewachsen, wurden Angehörige der BIA unter japanischem Kommando zunächst als Kundschafter und ortskundige Führer eingesetzt. Doch während des Vormarsches rekrutierten japanische Offiziere möglichst viele Birmanen, die zuvor in Bangkok und an der thailändisch-birmanischen Grenze gelebt hatten, wodurch die BIA rasch auf etwa 4000 Kämpfer kam. Diesen schlossen sich innerhalb Birmas so viele Freiwillige aus ländlichen Gebieten an, daß sich die BIA binnen weniger Wochen in einen marodierenden Verband verwandelte. Wiederholt kam es zu brutalen Übergriffen von BIA-Kombattanten gegen ethnische Minderheiten, was selbst japanische Offiziere überraschte.

Im Sommer 1942 intervenierte das japanische Militär und ersetzte die BIA durch eine reguläre Armee, die Burma Defense Army (BDA). Diese war auf eine Truppenstärke von zirka 10000 Mann angelegt und wurde von einem Generalstab und Offizieren befehligt – unter Führung Aung Sans. Weitere birmanische Offiziersanwärter erhielten ihre Ausbildung in einem eigens dafür geschaffenen Trainingszentrum in Mingaladon (nördlich von Rangun), von denen die Besten zum letzten Schliff nach Japan ausgeflogen und an dortigen Militärakademien oder von der gefürchteten Militärpolizei (Kempeitai) im Geiste des japanischen Militarismus ausgebildet wurden.

Wie auf den Philippinen sahen die japanischen Besatzungspläne auch für Birma vor, das Land in eine Unabhängigkeit von Tokios Gnaden zu entlassen. Am 1. August 1943 wurde Ba Maw, der sich selbst als Anashin (Diktator, wörtlich: Autorität/Meister) bezeichnete [5], zum Staatsoberhaupt gekürt, während Aung San, mittlerweile im Rang eines japanischen »Generalmajor«, zum Oberbefehlshaber der Nachfolgeorganisation der Burma Defence Army, der Burma National Army (BNA), und gleichzeitig zum Verteidigungsminister in Ba Maws Kabinett avancierte. Als glühende Bewunderer des großjapanischen Reiches ahmten die »30 Kameraden« in Verhalten und Kleidung ihre japanischen Offizierskollegen nach. Schließlich verdankten sie allesamt ihre Karriere umfassender japanischer »Unterstützung«.

Bleiernes Kolonialerbe

Erst als der menschenverachtende Kurs des japanischen Militarismus im Laufe des Krieges und die Rolle der birmanischen Regierung als Marionette der Besatzer immer offensichtlicher wurde, gingen Aung San und seine Getreuen auf Distanz zu ihren vormaligen Gönnern. Als überdies die Besatzungstruppen mit ihrer Imphal-Offensive zu einem geplanten Vormarsch nach Nordostindien im März 1944 scheiterten, und die Alliierten ihnen schwere Verluste zufügten, beteiligte sich Aung San gemeinsam mit Kommunisten und Sozialisten am Aufbau einer Organisation, die wenig später in Antifaschistische Volksfreiheitsliga (AFPFL) umbenannt wurde. Im März 1945 wechselte die BNA mitsamt ihrer politischen Führung die Fronten und schloß sich nun unter dem Namen Patriotic Burmese Forces (PBF) den gegen die Hauptstadt Rangun vorrückenden alliierten Streitkräften unter dem South East Asia Command von Lord Louis Mountbatten an. Am 27. März 1945 kam es zur landesweiten Erhebung gegen die japanischen Truppen. Dieses fortan als »Antifaschistischer Widerstandstag« gefeierte Datum benannte das Militär später in »Tatmadaw Day« (Tag der Streitkräfte) um.

Nach der Rückeroberung Birmas durch alliierte Streitkräfte konnte Aung San seiner Verhaftung und Verurteilung wegen antibritischer Aktionen und wegen Exekutionen birmanischer Zivilisten während der japanischen Okkupation einzig aufgrund eines Kalküls Londons entgehen. Das britische Militär wollte eine Verstrickung seiner Truppen in einen birmanischen Bürgerkrieg vermeiden, solange der Krieg gegen Japan nicht entschieden war. Schließlich konnte Aung San im Januar 1947 in London mit Premierminister Clement Attlee ein Abkommen über die formelle Unabhängigkeit Birmas ab dem 4. Januar 1948 unterzeichnen. Aung San, zwischenzeitlich als erster Premier des unabhängigen Birmas auserkoren, fiel allerdings am 19. Juli 1947 einem Attentat zum Opfer. Er wurde zusammen mit weiteren Ministern während einer Kabinettssitzung im Auftrag politischer Widersacher erschossen.

Für die Zivilbevölkerung Birmas war der Krieg ein Desaster. In den japanisch besetzen Gebieten wurde sie massenhaft zu Zwangsarbeit getrieben. Es kam zu dramatischen Versorgungsengpässen, wovon auch Britisch-Indien mit der Hungersnot in Bengalen im Frühjahr 1943 betroffen war. Außerdem führte die selektive Unterstützung einzelner ethnischer, religiöser und politischer Gruppen auf seiten nahezu aller Akteure zu Greueltaten gegen die Zivilbevölkerung. Hatten die Briten in ihren Polizei- und Militärapparat neben indischen Soldaten überproportional Angehörige der in Birma lebenden Völker Kachin, Chin und Karen einbezogen, war es den von den Japanern protegierten Birmanen im Laufe des Krieges und der Zeit danach gelungen, ihren Einfluß in Staat, Gesellschaft, Politik und Wirtschaft zu festigen und auszuweiten. Dies widerspiegelte sich auch in der Militärhierarchie: Nachdem General Smith Dun, ein Karen, als Oberbefehlshaber der Armee Ende der 1940er Jahre in den Ruhestand trat, folgte ihm Ne Win auf diesem Posten. Eine Machtposition, die diesem und seinen Mitstreitern aus der Zeit der japanischen Okkupation auf Dauer eine Schlüsselstellung in Staat und Militär beziehungsweise im Militärstaat sicherte. Die Trennung des Landes in zwei völlig unterschiedliche Verwaltungseinheiten, das von den Briten so genannte Burma Proper und die Frontier Areas, dauerte auch in der Nachkriegszeit an und war der Ausgangspunkt für zum Teil bis heute schwelenden Konflikte – beispielsweise im nördlichen Kachin State und im westlichen Rakhine, dem früheren Arakan.

Japanisches Vermächtnis

Das bedeutsamste Vermächtnis der japanischen Okkupationszeit in Birma bestand in Folgendem:
  • Antikolonialer beziehungsweise antibritischer Widerstand war nicht zuvörderst dem Engagement herausragender politischer Führerpersönlichkeiten geschuldet, sondern wurde zur Domäne eines meist akademisch ausgebildeten, verschworenen birmanischen Jugendkorps, das sich, vollends im Geiste des japanischen Militarismus geschult, zu einer Art »Kriegerkaste« entwickelte.
  • Die wichtigste Institution, die auf diese Weise entstand, war eine unter verschiedenen Namen agierende Armee unter dem Schutz Japans – mit der Konsequenz, daß seit Gründung der Birma Independence Army (BIA) 1941 die Sphäre des Politischen militarisiert und das Militärische zunehmend birmanisiert wurde. »Unsere Tatmadaw«, erklärte der spätere Militärmachthaber Generalleutnant Khin Nyunt kurz und bündig, »wurden in Japan geschaffen«.[6]
  • Als militärischer Arm der neugegründeten birmanischen AFPFL, und der ersten unabhängigen birmanischen Armee seit Ende des 19. Jahrhunderts, genossen die PBF bei Kriegsende das Privileg, die landesweit einzig legitime national(istisch)e politisch-militärische Kraft zu sein.
  • Unabhängigkeit, ein wiedergewonnener Nationalstolz, strikte Loyalität, Achtung des Senioritätsprinzips und Befolgung der Kommandostrukturen zeichneten fortan eine Führungsriege aus, die ihre idealtypische Entsprechung im Soldatendasein finden sollte.
  • Schließlich hatte Japan, dessen Führungsanspruch in Birma ungleich stärker als beispielsweise in Vietnam, auf der malaiischen Halbinsel Malaya und auf den Philippinen respektiert und bewundert wurde, bewiesen, daß es als asiatische Macht imstande war, den lange genährten Mythos der Unverwundbarkeit des westlichen Kolonialismus und Imperialismus zu zerstören.
Wie Sukarno, der spätere Gründungsvater Indonesiens, hatte auch Aung San anfänglich zu den glühendsten Bewunderern Japans in Südostasien gezählt. Im Einklang mit Tokio, das die Region nach seinem Ebenbild umgestalten und deren Bevölkerungen in gefügige Untertanen des Tenno (Kaiser) verwandeln wollte, avisierten Aung San und Sukarno einen rigiden Zentralstaat, dem es obliege, zentrifugale Kräfte strikt einzudämmen. Eine verhängnisvolle Weichenstellung, zumal in Vielvölkerstaaten wie Birma und Indonesien, wo jeweils die Birmanisierung beziehungsweise Javanisierung als Staatsräson des postkolonialen Nationalismus begriffen und militärisch exekutiert wurden.

Militarismus als Staatstugend

Landesweite Revolten, das Erstarken der Kommunistischen Partei Birmas (CPB), Aufstände verschiedener ethnischer Minderheiten wie der Shan, Kachin, Mon und Karen, die massenhafte Flucht besiegter Kuomintang-Verbände aus China über die Grenze nach Birma sowie innenpolitisch instabile Verhältnisse infolge von Fraktionierungen innerhalb der herrschenden AFPFL veranlaßten den alten Kern der »30 Kameraden«, der sich nach der Ermordung Aung Sans im Juli 1947 um Generalleutnant Shu Maung alias Ne Win gebildet hatte, ab Mitte der 1950er Jahre direkt in das politische Geschehen einzugreifen. Bis dahin waren mit der Militärakademie beziehungsweise einem Nationalen Verteidigungskolleg, dem Defence Services Institute sowie dem Defence Services Historical Research Institute Einrichtungen unter der Ägide des Militärs geschaffen worden, die sowohl dessen wirtschaftliche Macht ausweiteten, als auch in erheblichem Maße dazu beitrugen, politisch-programmatische Leitlinien zu formulieren und eine ihnen angemessene ideologische Ausrichtung vorzunehmen.

Bemerkenswerterweise fiel in jene Zeit auch die Veröffentlichung eines später mal als »Blue Print for Burma« (Blaupause für Birma), mal als »Blueprint for free Burma« (Blaupause für ein freies Birma) betitelten Texts. Die Herausgeber der Ranguner Zeitschrift The Guardian, in deren Märzausgabe 1957 er erschien, betonten, daß er der Feder Aung Sans entstammte. Diese Blaupause für ein nachkoloniales Birma soll Anfang 1941 in Absprache mit Oberst Suzukis geheimdienstlichen Netzwerk Minami Kikan entstanden sein. Demnach soll Aung San die Ansicht vertreten haben: »Was wir wollen, ist eine starke Staatsverwaltung, wie sie beispielsweise in Deutschland und Japan besteht. Es wird nur eine Nation, einen Staat, eine Partei und einen Führer geben. Es wird keine parlamentarische Opposition geben, keinen Unsinn von Individualismus.«[7]

Jedenfalls ließ sich der Tenor des Texts von Ne Wins und seinen engsten in psychologischer Kriegführung geschulten Getreuen vorzüglich nutzen, Fraktionskämpfe innerhalb der herrschenden AFPFL als schädlich zu brandmarken und gleichzeitig die Deutungshoheit über die Rolle Aung Sans für sich zu reklamieren. In der später gegründeten Burma Socialist Programme Party (BSPP), die auf Jahre landesweit die einzig zugelassene politische Gruppierung bleiben sollte, sah das Militär mit Ne Win an der Spitze den Kern des »Blue Print« in die Tat umgesetzt, wobei öffentlich immer weniger Bezug auf die Person Aung San und dessen politisches Erbe genommen wurde.[8]

Unter dem Vorwand, lähmende (partei-)politische Querelen zu beenden, die nationale Einheit und Sicherheit um jeden Preis zu wahren und ausländische Einflüsse abzuwehren, gingen Ne Win und seine Mitstreiter zum Frontalangriff über und putschten sich am 2. März 1962 an die Macht. Wie beharrlich das Militär seiner Sicht der Welt anhing und wie tief sein Glaube an eine ebenso gerechte wie notwendige Mission seinen Korpsgeist durchdrungen hatte, offenbarte sich noch ein Jahrzehnt nach dem Rücktritt Ne Wins im Sommer 1988 in folgendem Zitat von General Than Shwe: »Was taten die Tatmadaw während der Zeit der vier politischen Krisen 1948, 1958, 1962 und 1988? Hätten sich die Tatmadaw in all diesen Jahren zurück gehalten, wäre das Land viermal zerstört worden. Hätten die Tatmadaw nicht die Macht ergriffen, insbesondere im Jahre 1988, wäre die Union heute ein Scherbenhaufen und das Blutvergießen hätte angedauert.«[9]

Teil II: Metamorphosen der Macht

Die seit dem Putsch 1962 herrschende Militärjunta verkündete 2003, das Land bis 2015 einer Modernisierung zu unterziehen

Infolge des Coup d’etat im März 1962 entstand in Birma [10] ein Militärregime, dem sämtliche staatlichen Behörden untergeordnet wurden. Auch wirtschaftlich übernahm die Junta unter Ne Win das Zepter und führte eine umfassende Nationalisierung durch. Mit der Kontrolle von Wirtschaft und Außenhandelspolitik gelang es dem Militär, ein feinmaschiges klientelistisches Netzwerk zu knüpfen, das es dem Offizierskorps und ihm ergebenen Geschäftsleuten gestattete, mittels ausländischer Wirtschaftshilfen (bis Ende der 1980er Jahre vorrangig aus Japan) und den Erlösen aus dem lukrativen Handel mit (Teak-)Holz, Edelsteinen und Drogen ihre Interessen abzusichern. Mit der Konsequenz, daß das Militär, vor allem (Regional-)Kommandeure und mit ihnen kooperierende People’s Militia Forces (PMF), bis in die jüngste Zeit immense Gewinne aus legalen wie illegalen Geschäften einstreichen konnten.

Die britische Nichtregierungsorganisation Global Witness schätzt, daß allein von 1990 bis 2005 etwa 18 Prozent des Primärwaldes abgeholzt wurden – in einem Land, das einst über vier Fünftel des Bestands aller Teakbäume auf der Erde verfügte. Überdies mußten sich Militärbataillone, erst recht in den Grenzregionen, durch das Anlegen von Farmen, Plantagen oder anderweitige Geschäfte selbst versorgen. Kein Wunder, daß auf diese Weise in der Vergangenheit reich gewordene Personen heute Kaufhäuser, luxuriöse Hotel- und Touristikressorts und selbst Fluglinien besitzen.[11]

Die Ära Ne Win

Zur Legitimierung seiner umfassenden Machtbefugnisse hatte das Ne-Win-Regime als neue Staatsdoktrin den »birmanischen Weg zum Sozialismus« mit der Burma Socialist Programme Party (BSPP) als einzig zugelassener politischer Partei entwickelt. Nach außen hin verkündete man, die Partei sei das dem Land angemessene politische Instrument, um mit Hilfe eines Amalgams aus Marxismus, Buddhismus, Nationalismus und Sozialismus einen eigenständigen Entwicklungskurs einzuschlagen. Ne Win selbst wirkte in den kommenden 26 Jahren in unterschiedlichen Funktionen – als Chef der Streitkräfte, Vorsitzender des Revolutionsrates, Premierminister der Revolutionsregierung, Präsident der Sozialistischen Republik der Union von Birma sowie als Vorsitzender der BSPP.

Die ersten Opfer drakonischer Maßnahmen nach dem Militärputsch waren die Studenten. In der Hauptstadt Rangun ließen Gefolgsleute des neuen Machthabers im Sommer 1962 das Gebäude der historischen Universität sprengen. Landesweit blieben Hochschulen geschlossen, so daß sich Tausende Studierende im Hinterland Guerillaeinheiten anschlossen oder im Ausland, vorzugsweise im benachbarten Thailand, untertauchten oder um Asyl nachsuchten. Gegen die unterschiedlichen Guerillaeinheiten ging das Militär mit äußerster Brutalität vor. Bewohner ganzer Dörfer, selbst Kinder, wurden zwangsweise als Helfer in die Kriegsführung eingebunden. Wie in keinem anderen südostasiatischen Land entstand ein allgegenwärtiges Bespitzelungssystem, in das selbst buddhistische Bonzen (Bezeichnung für buddhistische Mönche bzw. Priester, jW) integriert wurden. Ne Win wandelte die Streitkräfte schrittweise in eine beachtliche Kampftruppe um. Er half mit, daß die Tatmadaw, die birmanische Armee, mit zirka 490000 Mann unter Waffen und einem Jahresetat, der zwischen 30 und 40 Prozent des Staatsbudgets beträgt, auf Platz zehn der größten Militärs der Welt rangiert. Nach Vietnam verfügt das Land über das in Südostasien zweitgrößte Heer. Zugute kam Ne Win dabei seine Ausbildung in Aufstandsbekämpfung durch Instrukteure der gefürchteten japanischen Militärpolizei Kempeitai.

Ermöglicht wurde der lange Machterhalt Ne Wins nicht zuletzt von einem alten und neuen Gönner – nämlich Japan. Es blieb nach dem Kriegsende einer der engsten Verbündeten und größten Geldgeber der Regierungen in Rangun. Bereits 1954 unterzeichnete Tokio mit dem unabhängigen Birma als erstem südostasiatischen Staat ein Abkommen über Kriegsreparationen in Höhe von umgerechnet 250 Millionen US-Dollar. Und von 1962 bis 1988 stellten Japans Regierungen dem Regime in Rangun umgerechnet 2,2 Milliarden Dollar an Hilfsgeldern zur Verfügung.[12]

Am 23. Juli 1988 trat Ne Win nach 26 Amtsjahren zurück, nachdem das Land zuvor mit einer schweren Wirtschaftskrise konfrontiert war. Die Kosten für Grundnahrungsmittel und Treibstoff hatte sich vervielfacht. Es herrschte großer Unmut darüber, daß durch eine unangekündigte, entschädigungslose Außerkraftsetzung der 25-, 35- und 75-Kyat-Noten ein Großteil der Bevölkerung buchstäblich über Nacht geschröpft wurde. Die Regierung hatte diesen Schritt damit begründet, den ausufernden Schwarzmarkt eindämmen zu wollen. Im Verlauf landesweiter Massenproteste, die blutig niedergeschlagen wurden, um, wie die Militärs betonten, »die Auflösung der Union zu verhindern«, übernahm General Saw Maung die Macht. Ab dem 18. September 1988 wurde die Herrschaft durch eine kollektive Militärführung, den Staatsrat zur Wiederherstellung von Gesetz und Ordnung (SLORC), verkörpert.

Ne Win verschwand von der politischen Bildfläche, doch hinter den Kulissen vermochte er noch bis zu seinem Tod – er starb 91jährig am 5. Dezember 2002 – als graue Eminenz zu wirken. Die letzten Tage seines Lebens mußte er allerdings abgeschottet von der Öffentlichkeit unter Hausarrest verbringen. Ebenso wenig gab es ein Staatsbegräbnis, lediglich der engste Verwandten- und Freundeskreis war bei der Beerdigung zugegen. So endete zwar die Ära Ne Win, nicht aber die des Militärs. Faktisch hatte die jüngere Garde des Militärs die ältere ersetzt. Diejenigen Personen, die nunmehr im SLORC, der sich Ende 1997 in Staatsrat für Frieden und Entwicklung (SPDC) umbenannt hatte, Führungspositionen übernehmen sollten, waren allesamt Protegés der grauen Eminenz gewesen. Saw Maung war noch unter Ne Win zum Oberkommandierenden der Streitkräfte ernannt worden, bevor er als SLORC-Vorsitzender auch zeitweilig Ministerpräsident und Außenminister war.

Der Sieben-Stufen-Plan

Khin Nyunt, Chef des militärischen Geheimdienstes, war zunächst der neue Hoffnungsträger der Tatmadaw. Von 1997 bis August 2003 war er Erster Sekretär des SPDC und anschließend bis Mitte Oktober 2004 Premierminister. Kurz nachdem er als Premier vereidigt worden war, verkündete er erstmalig einen Sieben-Stufen-Plan, nach dem das Land »systematisch und schrittweise den Weg zur Demokratie« beschreiten sollte. Doch die wesentlichen Etappen zur Umsetzung dieser Roadmap einer »disziplinierten Demokratie« erfolgten während der Herrschaft des Generals Than Shwe. Seit 1992 stand dieser dem Staatsrat vor, amtierte zeitweilig als Regierungschef und hielt mit den Posten des Oberbefehlshabers der Streitkräfte, des Verteidigungsministers und des Präsidenten die größten Machtbefugnisse in seinen Händen. Than Shwe war spätestens seit Herbst 2004 bis zu seinem Rücktritt von allen politischen und militärischen Ämtern im Februar 2011 unangefochten die Nummer eins in Myanmars Nomenklatur.

Seit 2003 verfolgte die herrschende Militärjunta aus der Position der Stärke und ohne das Zepter aus der Hand zu geben ihr Ziel, das Land mit Hilfe eines Sieben-Stufen-Plans bis zum Jahr 2015 in eine »disziplinierte Demokratie« zu führen. Konkret beinhaltete der Plan die Wiedereinberufung der zwischenzeitlich suspendierten Nationalversammlung sowie die Ausarbeitung einer neuen Verfassung bis 2008, die der Bevölkerung zur Abstimmung vorgelegt werden sollte. Später sollte dann die Wahl einer Regierung sowie eines Parlaments folgen. Am 9. Februar 2008 ließ Than Shwe überraschend genauere Daten verkünden. Über die neue Verfassung solle im Mai 2008 abgestimmt werden und allgemeine Wahlen sollten bis Ende 2010 stattfinden. Allerorten herrschte Skepsis, die zusätzlich dadurch genährt wurde, daß sich nach dem verheerenden Zyklon Nargis Anfang Mai 2008, der im Süden des Landes Schneisen der Verwüstung hinterlassen hatte, die Generäle eine Zeitlang internationale Hilfslieferungen als »unerwünschte Einmischung von außen« verbaten.

Kurze Zeit später, am 10. Mai, ließ die Militärregierung die Bevölkerung über die neue Verfassung entscheiden, die offiziell mit über 92 Prozent der abgegebenen Stimmen gebilligt wurde. Seit dem 22. Oktober 2010 verfügt das Land, das sich seither Republik der Union von Myanmar nennt, auch über ein neues Staatswappen, eine neue Nationalhymne sowie über eine neue Staatsflagge. Letztere entspricht mit ihren drei Streifen (gelb, grün, rot) genau der Flagge, die Birma als japanischer Marionettenstaat Mitte der 1940er Jahre verwendet hatte. Der einzige Unterschied: Während damals ein Pfau den Mittelpunkt der Flagge zierte, ist dies heute ein weißer fünfzackiger Stern. Mit den Parlamentswahlen vom 7. November 2010, den ersten seit 20 Jahren, wurde die fünfte Etappe des Sieben-Stufen-Plans erreicht.

Dabei konnte die von Premierminister Thein Sein geführte Union Solidarity and Development Party (USDP) 76,5 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen. 25 Prozent der Sitze in der Volkskammer, der Nationalitätenkammer sowie in den 14 Regionalparlamenten sind laut Verfassung ohnehin den Militärs vorbehalten. Thein Sein sowie andere hochrangige Generäle hatten kurz vor dem Urnengang ihre Militäruniformen gegen die traditionelle birmesische Bekleidung und Sandalen getauscht. Die von Aung San Suu Kyi geführte oppositionelle National League for Democracy (NLD) boykottierten diesen Urnengang, was im Oppositionslager Unruhe und Widerspruch hervorrief.

Das Kalkül der Militärjunta war aufgegangen. Mit den längst überfälligen oberflächlichen Veränderungen konnte sie internationale Kritik an ihrem autoritären Regime dämpften. Und im Zuge der Reformen mußte sich die Führungsspitze um ihre Nachfolge kümmern, wodurch jüngere, ihr nach wie vor politisch geneigte Kader an die Reihe kamen, die gleichzeitig einen Regimewechsel zu vermeiden wußten. Am 4. Februar 2011 wurde schließlich der Premierminister und Exgeneral Thein Sein zum Staatspräsidenten und somit neuen Staatsoberhaupt durch das erstmalig tagende Parlament bestimmt. Bei den Nachwahlen Anfang April trat Aung San Suu Kyi, deren langjähriger Hausarrest am 13. November 2010 aufgehoben worden war, allerdings an und konnte den Löwenanteil der noch zu besetzenden 40 Mandate für sich und ihre NLD erringen. Seitdem beschwört die neue Parlamentsabgeordnete, die zuvor als prominenteste Dissidentin ihres Landes gegenüber dem Ausland für einen rigiden Sanktionskurs eingetreten war, ihr neues Credo: »Einheit ist Stärke, Einheit ist überall vonnöten, erst recht in unserem Land.« Seitdem erlebte Myanmar im Zeitraffer eine Entwicklung, die selbst die intimsten Landeskenner noch wenige Wochen zuvor für gänzlich unmöglich gehalten hätten. Da wurden auf einmal unabhängige Gewerkschaften erlaubt, zu langjährigen Haftstrafen abgeurteilte politische Gefangene freigelassen, die Pressezensur wurde gelockert und die NLD legalisiert.

Verpuffte Sanktionen

Diese weitreichenden innenpolitischen Prozesse wurden flankiert von einer Außenpolitik, die flexibel auf die Belange der Herrschenden abgestimmt wurde. Derweil brauchte das Regime auf die Regierungen des Westens keinerlei Rücksicht zu nehmen. Deren langjährige Sanktionen – ohnehin mißachtet von Firmen wie Rolls Royce, Lloyds of London, dem französischen Ölkonzern Total sowie dem US-amerikanischen Unternehmen ­Unocal bzw. ­Chevron – haben die Militärjunta letztlich stabilisiert und auch Myanmars Wirtschaftspartner wie China, Indien, Singapur, Thailand und zum Teil auch Rußland sowie Südkorea gestärkt. Sie alle hatten nur eines im Blick: Myanmars Ressourcenreichtum – Holz, Diamanten, Öl und Gas.

Vor allem die Volksrepublik China wurde zum Profiteur der westlichen Sanktionspolitik. Bereits im Oktober 1989 war Than Shwe, damals noch in seiner Eigenschaft als Vizevorsitzender des SLORC, nach Peking gereist. Ein Besuch, der mitverantwortlich dafür war, daß sich im Laufe der folgenden zwei Jahrzehnte die nachbarschaftlichen Kontakte so eng wie nie zuvor gestalteten. Immerhin haben die beiden Länder eine über 2200 Kilometer lange gemeinsame Grenze. Sämtliche gigantischen Infrastrukturprojekte – der Bau von Öl- und Gaspipelines, Staudämmen, mehrspurigen Straßen, Eisenbahnverbindungen und des Hafens Tilowa – wurden dank Pekings politischer Rückendeckung und umfangreicher chinesischer Investitionen angestoßen.[13] Für Myanmar lohnten sich diese Deals, zumal eine verbesserte Infrastruktur dem sich entwickelnden Dienstleistungssektor zugute kommt und das Vermarkten landwirtschaftlicher Erzeugnisse erleichtert. Vordergründig geht es um den beschleunigten Handel und verbesserte Transportwege zwischen China, Myanmar und Indien. Doch Peking sicherte sich darüber hinaus auch den geo- und militärstrategisch wichtigen Zugang zum Indischen Ozean und somit eine signifikante Verkürzung von Handelsrouten in den Nahen und Mittleren Osten sowie nach Europa. Noch ist China mit umgerechnet 14,1 Milliarden US-Dollar der mit Abstand größte Investor in Myanmar, wo sich das Gesamtinvestitionsvolumen momentan auf 41 Milliarden Dollar pro Jahr beläuft. Doch das dürfte sich mittelfristig zugunsten Japans verändern, das der Regierung in der neuen Hauptstadt Naypyidaw erst Anfang dieses Jahres die Hälfte der rund sechs Milliarden Dollar an myanmarischer Schuldenlast erließ. Im Gegenzug signalisierte man Tokio, daß japanische Großunternehmen die besten Chancen haben, vom »Boomrausch« zu profitieren – vom Automobilmarkt über das Kommunikationssystem bis hin zum Banken-, Finanz- und Immobiliensektor.[14]

Da der Reformkurs des neuen Präsidenten auch im Westen zunehmend Unterstützung findet und Sanktionsüberlegungen passé sind, verschafft dies dem Regime gegenüber dem mächtigen nördlichen Nachbarn zusätzliches Gewicht: Im Oktober 2011 kündigte Thein Sein den Stopp der Arbeiten am knapp vier Milliarden US-Dollar teuren Myitsone-Staudamm an – zum Verdruß des Staatskonzerns China Power Investment Corporation (CPIC). Der Präsident begründete den Schritt damit, das Projekt nicht »gegen den Willen des Volkes« durchsetzen zu wollen. Der Damm würde den Lauf des Irrawaddy ändern, der Fluß ist die Lebensader des Landes. »Wahrung des Volkswillens« – diese ungewöhnliche Wortwahl war offensichtlich mit Rücksicht auf wachsende antichinesische Ressentiments im Lande gewählt worden.

Ohne die politische Führung in Peking offen zu brüskieren, aber mit dem Ziel die chinesische Dominanz abzuschwächen, besuchten hochrangige myanmarische Regierungsvertreter, darunter auch Präsident Thein Sein, die USA. Und im Gegenzug begaben sich US-Außenministerin Hillary Clinton und US-Präsident Barack Obama im Dezember 2011 beziehungsweise im November 2012 auf Stippvisite in das südostasiatische Land. Außerdem fand ein gegenseitiger Besucheraustausch hochrangiger Militärs beider Länder statt, den der neue Oberkommandierende der Tatmadaw, General Min Aung Hlaing, ausdrücklich begrüßte. Möglich geworden war dies nicht zuletzt deshalb, weil Obama ein »pragmatisches Engagement« bevorzugt und im Juli 2009 einen Freundschafts- und Kooperationsvertrag mit dem südostasiatischen Staatenbündnis ASEAN, dem Myanmar als Mitgliedsland angehört, unterschrieben hatte. Das war eine deutliche Abkehr von der Politik seines Vorgängers George W. Bush, der auch in Myanmar gern einen »Regime change« gesehen hätte und dessen Außenministerin Condoleezza Rice das Land Mitte Januar 2005 öffentlich als einen »Vorposten der Tyrannei« gebrandmarkt hatte.[15]

International hoffähig?

Nach Dekaden von Boykotten, diplomatischen Verurteilungen und Sanktionen seitens des Westens scheinen Myanmars einst verruchte Militärs zu Meisterorganisatoren der Modernisierung mutiert zu sein. Jedenfalls bestimmten sie den Verlauf einer langjährigen Innen- und Außenpolitik, die darauf abzielen, überfällige gesellschaftspolitische Veränderungen anzustoßen. Wo immer er auftritt, wirbt Präsident Thein Sein für durchgreifende Reformen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Darunter versteht er die Verbesserung des Gesundheitswesens, eine Reform des Steuersystems, Gehaltserhöhungen für öffentliche Bedienstete sowie die Förderung freier Medien und zivilgesellschaftlicher Initiativen.

Strittiger Punkt bleibt die neue Verfassung. Diese sieht weiterhin ein Präsidialsystem vor, während Vertreter der nichtmyanmarischen Bevölkerungsgruppen auf die Schaffung einer föderalen Union drängen. Nur so ließen sich ihrer Meinung nach über reine Waffenstillstandsabkommen auch Verhandlungen mit Blick auf einen dauerhaften Frieden erreichen. Der Einfluß des Militärs in Staat, Gesellschaft, Politik und Wirtschaft wird auch in naher Zukunft fortbestehen und an der Peripherie (vor allem in Kachin und Rakhine) bestimmend bleiben. Doch das politische Zentrum wird schwerlich im Stile eines exklusiven Generalstabs »zurichtbar« sein, wie das die längste Zeit in der Geschichte des unabhängigen Birma/Myanmar der Fall war.[16]

Auf außenpolitischem Parkett kann sich Präsident Thein Sein auf vier Dinge freuen: Internationale Sanktionen gegen das Land dürften noch innerhalb dieses Jahres gänzlich aufgehoben werden. Ebenfalls in diesem Jahr, vom 11. bis zum 22. Dezember, wird Myanmar die 27. Südostasienspiele – unter dem Motto »Green, Clean, and Friendship« (Grün, Sauber und Freundschaft) – ausrichten und 2014 den ASEAN-Vorsitz übernehmen, um schließlich im Jahr darauf nicht nur mit der Wahl eines neuen Präsidenten die letzte Etappe des Sieben-Stufen-Plans abzuschließen, sondern auch der ebenfalls im Jahre 2015 entstehenden ASEAN-Wirtschaftsgemeinschaft (AEC) als reformorientiertes Mitglied beizutreten. Diese Großereignisse und bedeutsamen innenpolitischen Entscheidungen dürften weder die Exmilitärs um Thein Sein und nachrückende jüngere Offiziere noch die gleichermaßen auf Nationalstolz und internationale Reputation bedachten Oppositionsparteien und -gruppen durch einen Rückfall in Militarismus und eine Militärdiktatur gefährdet sehen wollen.

Anmerkungen
  1. Während die Engländer ihre Kolonie »Burma« und deren Bewohner »Burmesen« nannten, war im Deutschen »Birma« beziehungsweise »Birmanen« geläufig. Im Text verwende ich die Begriffe »Birma«, »Birmanen« und »birmanisch« bis 1989, als die regierende Militärjunta das Land in »Myanmar« umbenannte. Heute sind international »Myanmar« und »myanmarisch« gebräuchlich. Außerdem benutze ich die deutsche Verschriftlichung »Rangun« für die ehemalige Landeshauptstadt, während sie englisch »Rangoon« hieß und ebenfalls 1989 in »Yangon« umbe­nannt wurde.
  2. Thakin war eine von den Briten eingeforderte Ehrbezeichnung und heißt »Herr« oder »Meister«. Im Zuge der antibritischen Stimmung im Lande während der 1930er Jahre nannten sich die rebellischen birmanischen Jugendlichen und Intellektuellen selbstbewußt Thakin und verstanden sich und ihre Bewegung fortan als Speerspitze im antikolonialen Kampf.
  3. Gustaaf Houtman: »Aung San’s lan-zin, the Blue Print and the Japanese occupation of Burma«. in: Kei Nemoto (ed.): Reconsidering the Japanese military occupation in Burma (1942–45). Tokyo University of Foreign Studies. Research Institute for Languages and Cultures of Asia and Africa (ILCCA), Tokyo 2007: S. 179-227
  4. Won Zoon Yoon: Japan’s Scheme for the Liberation of Burma: The Role of the Minami Kikan and the »Thirty Comrades«. Ohio University Press. Center for International Studies. Papers in International Studies: Southeast Asia Series, No. 27, Athens (Ohio) 1973, S. 31
  5. Mary P. Callahan: Making Enemies. War and State Building in Burma. Cornell University Press, Ithaca 2003, S. 55
  6. Zitiert nach Gustaaf Houtman: Mental Culture in Burmese Crisis Politics: Aung San Suu Kyi and the National League of Democracy. Tokyo 1999, S. 153
  7. Maung Maung: Burma’s Constitution. Martinus Nijhoff, Den Haag 1959, S. 91 f.
  8. Gustaaf Houtman, a. a. O., 2007, S. 181-183
  9. Zitiert nach International Crisis Group (ICG): »Burma/Myanmar: How Strong is the Military Regime?«. Bangkok/Brussels: ICG Asia Report No. 11, 21 December 2000, S. 9
  10. Während die Engländer ihre Kolonie »Burma« und deren Bewohner »Burmese« nannten, war im Deutschen »Birma« beziehungsweise »Birmanen« geläufig. Im Text verwende ich die Begriffe »Birma«, »Birmanen« und »birmanisch« bis 1989, als die regierende Militärjunta das Land in »Myanmar« umbenannte. Heute sind international »Myanmar« und »myanmarisch« gebräuchlich. Außerdem benutze ich die deutsche Verschriftlichung »Rangun« für die ehemalige Landeshauptstadt, während sie englisch »Rangoon« hieß und ebenfalls 1989 in »Yangon« umbenannt wurde.
  11. Joshua Hammer: »Visiting Myanmar: It’s Complicated«, in: The New York Times vom 3. August 2012
  12. Wolf Mendl: Japan’s Asia Policy: Regional Security and Global Interests. Routledge, London/New York 1995, S. 103
  13. Tin Seng Lim: »China’s Active Role in the Greater Mekong Sub-region: Challenge to construct a ›win-win‹ relationship«, in: East Asian Policy (EAP), Ausgabe 1, Nr. 1. National University of Singapore, East Asian Institute, Singapore 2009, S. 45
  14. Waldemar Duscha: »Japan festigt Position in Myanmar nach Schuldenerlaß«. In: Asien Kurier Nr. 70. Hongkong 2013, S. 33 f.
  15. David I. Steinberg: »The US nudges Burma’s nationalistic military toward reform and diversified regional ties. Burma in the US-China Great Game – Part I«, YaleGlobal Online Magazine, 5 December 2011, online unter: yaleglobal.yale.edu/content/burma-us-china-great-game-part-i
  16. Mary P. Callahan Callahan: »The Opening in Burma – The Generals Loosen Their Grip«, in: Journal of Democracy, October 2012, S. 127 ff, online unter: www.journalofdemocracy.org/sites/default/files/14_23.4%20callahan%20%28advance%29.pdf
* Dr. Rainer Werning ist Politikwissenschaftler und Publizist mit dem Schwerpunkt Südost- und Ostasien. Er ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen und Dozent an der Akademie für Internationale Zusammenarbeit in Bad Honnef. Zuletzt schrieb er an dieser Stelle am 21.8.2013 über den Mord an dem philippinischen Oppositionspolitiker Benigno Aquino im Jahr 1983.

Dieser Beitrag erschien in zwei Teilen in: junge welt, 12. und 13. November 2013



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