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Tiflis und Chisinau provozieren Russland

Eine Analyse der Russischen Nachrichtenagentur zur Situation in Georgien und in Moldava

Von Sergej Markedonow *

Russland, das übrige Europa und die USA können sich heute nicht den Luxus leisten, wegen Ambitionen der Spitzenpolitiker kleinerer Staaten zu konfrontieren, die sich nur um ihr eigenes Image kümmern und großzügige Wahlversprechen einhalten wollen.

Die russische Politik im postsowjetischen Raum steht wieder vor einer Herausforderung. Am 18. Juli 2006 verabschiedete das georgische Parlament die Resolution "Über die Friedensoperationen in den Konfliktzonen in Georgien". Am gleichen Tag forderte der moldawische Parlamentschef Marian Lupu einen Abzug des russischen Militärs aus Transnistrien (abtrünnige Region in Moldawien).

Im Abbau der russischen militär-politischen Präsenz sehen Georgien und Moldawien die wichtigste Voraussetzung für die Beilegung der schleichenden Konflikte in diesen ehemaligen Sowjetrepubliken sowie für eine "Demokratisierung" der abtrünnigen Regionen.

Das postsowjetische "Syndikat der Unzufriedenen" hat sich nicht einfach zu einer erneuten Zuspitzung der Spannungen mit Russland entschlossen - das ist faktisch eine gegen Russland gerichtete Provokation der georgischen und moldawischen Politiker. Angesichts der sich abzeichnenden Tendenzen in der Weltarena erscheint das keinesfalls als Zufall.

Erstens: Nach dem offenbar erfolgreichen G8-Gipfel, bei dem zwischen Russland, den USA, Europa und Japan viele gemeinsame Berührungspunkte deutlich wurden, streben Tiflis und Chisinau danach, die Beziehungen zwischen Russland und der G7 in die "entgegengesetzte Richtung" zu lenken. Man will Russland zu harten Gegenmaßnahmen provozieren, die im Westen als Neoimperialismus interpretiert werden und zu einer erneuten Abkühlung zwischen Moskau und Washington wie zwischen Moskau und Brüssel führen können.

Zweitens kommt der Prozess der "Balkanisierung" im postsowjetischen Raum auf Touren. Unter der "Balkanisierung" ist in diesem Fall eine Wiederholung der balkanischen (serbisch-montenegrinischen und kosovarischen) Erfahrung der ethnisch-nationalen Selbstbestimmung zu verstehen. Die Leiter in Georgien und Moldawien versuchen, dieser Tendenz Widerstand zu leisten.

Obwohl die USA und die EU den Fall Montenegro wie den Fall Kosovo als einmalig und nicht übertragbar einstufen, treffen die international nicht anerkannten Staaten im GUS-Raum politische Entscheidungen, die ihnen mehr Legitimität verschaffen und im Endergebnis auf die Erlangung der Unabhängigkeit de jure abzielen. Hierzu gehören der Beschluss des Obersten Rates Transnistriens über ein Referendum am 17. September 2006 sowie die politischen Erklärungen der Spitzenpolitiker in Abchasien und Südossetien.

Deshalb ist es Georgien und Moldawien sehr daran gelegen, die eigenen Territorialprobleme noch vor der Festlegung des endgültigen Status des Kosovo zu lösen. Aber die Pläne von Tiflis und Chisinau gehen nicht in Erfüllung, solange russische Friedenstruppen in Abchasien und Südossetien sowie russische Militärs in Transnistrien stationiert sind. Diese lassen keine Wiederholung des kroatischen Szenarios von 1995 zu, als sich das international anerkannte Kroatien - unter stillschweigender Zustimmung der internationalen Friedenskräfte - die abtrünnige Republik Srpska Krajina einverleibte.

Der georgische Staatsminister für Konfliktbeilegung, Georgi Chaindrawa, erklärte ohne Umschweife: "Die russischen Friedenshüter sollten gemäß ihrem Mandat die illegalen bewaffneten Formationen entwaffnen und deren Weiterentwicklung unterbinden". Mit "illegalen bewaffneten Formationen" meinte Chaindrawa offenbar die Armeen von Abchasien und Südossetien. Dabei vergaß er, dass diese Formationen Anfang der 1990er Jahre Georgien daran gehindert hatten, Abchasien zu "säubern" und die "Osseten-Frage" in Zchinwali "endzulösen".

Es ist heute üblich, das Vorgehen des russischen Militärs in den Räumen der "schleichenden Konflikte" dem Ostrazismus auszusetzen, wie dies Tiflis und Chisinau machen, oder seine Effektivität anzuzweifeln, wie dies die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und andere internationale Gremien machen.

In Georgien haben bislang weder die Offiziellen noch die Opposition (diese steht manchmal viel härter gegenüber Russland) die Rolle begriffen, die die russischen Friedenstruppen gespielt haben. Seit Beginn des russischen Friedenseinsatzes vor zwölf Jahren in Abchasien kamen dort 112 russische Armeeangehörige ums Leben. Viele von ihnen starben durch die Hand der abchasischen Kriminellen und Extremisten, die Abchasien endgültig von der georgischen Bevölkerung säubern wollten. Diese "Okkupanten" verhinderten eine Eskalation zwischen Abchasien und Georgien im Mai 1998 und im Herbst 2001. In die Gali-Region kehrten (laut Angaben der georgischen Offiziellen) etwa 60 000 Flüchtlinge zurück. Viele von ihnen integrierten sich in das abchasische Sozium und stimmten sogar für den abchasischen Präsidenten. Auch das ist ein Verdienst der russischen Friedenstruppen.

Ihr weiterer Verdienst besteht darin, dass die georgische Bevölkerung Südossetiens (im Gegensatz zu Abchasien) nicht vertrieben wurde und friedlich mit den Osseten zusammenlebt. Viele ethnische Georgier nahmen sogar die russische Staatsbürgerschaft an. Hätten die russischen Friedenstruppen damals nicht zugegriffen, dann hätten die abchasischen Formationen Megrelien einnehmen können, die Osseten hätten ihre Republik von georgischen Enklaven gesäubert. Wäre das passiert, so hätte Georgien noch mehr Probleme mit seiner territorialen Integrität gehabt.

Ähnliches trifft auch auf Moldawien zu. Die 14. russische Armee, die von Chisinau täglich verflucht wird, konnte nicht nur den Konflikt am Dnjestr stoppen, sondern sie half Moldawien, seine Staatlichkeit beizubehalten. Hätte die russische Armee 1992 für das abtrünnige Transnistrien Partei genommen, dann hätte die Republik Moldau jetzt ein viel kleineres Territorium. Die Streitigkeiten zwischen dem Kommando der Armee und der Leitung Transnistriens legen ein weiteres Zeugnis davon ab, dass die transnistrischen Spitzen keine Marionetten des Kreml sind, und dass die 14. Armee nicht als Katalysator des Konflikts auftritt, sondern eine stabilisierende Rolle spielt.

Doch die Staatschefs von Georgien und Moldawien stören sich nicht an diesen Tatsachen und schlagen ein eigenes Konzept zur Konfliktbeilegung vor. Dieses basiert auf der Anerkennung der Rechte der einen Seite, nämlich der international anerkannten Georgien und Moldawien. Der anderen Seite wird Extremismus und politische Unselbständigkeit vorgeworfen. Sie wird als Marionette Russlands hingestellt. Sämtliche Friedensinitiativen basieren auf dem Plan einer militärpolitischen Revanche der "Metropolen".

Ein "Auftauen" der "eingefrorenen" Konflikte ist nicht unbedingt gut. Man erinnere allein an den "aufgetauten" Konflikt in Südossetien vom Sommer 2004. Friedensbildung auf Georgisch bedeutet: Der anderen Partei die Rechnung zu präsentieren, ohne jegliche Verpflichtungen einzugehen. Ein solches Herangehen an die Beilegung der Konflikte führt zu deren permanenter Fortsetzung.

Ungeachtet der ganzen Unversöhnlichkeit von Tiflis und Chisinau muss Moskau unter den bestehenden Bedingungen denkbar kaltblütig vorgehen. Erstens setzt die Resolution "Über die Friedensoperationen" keine genauen Fristen für den Abzug der Friedenstruppen und des Militärs fest. Die georgische Regierung wird das noch tun müssen. Deshalb kann man den Abzug beliebig hinauszögern, zumal das angenommene Dokument einen deklarativen Charakter hat. Zweitens spielen das georgische Parlament und der Präsident ein geschicktes Sujet- und Rollenspiel (wenn man den Begriff aus der Vorschul-Pädagogik nimmt). Während die Abgeordneten dem nördlichen Nachbarn drohen, sucht Michail Saakaschwili die Nähe Wladimir Putins und reicht ihm die "Hand der Freundschaft". Hinter den Medienberichten über die Resolution des georgischen Parlaments blieb Saakaschwilis Bitte an Präsident Putin um ein Treffen am 21. Juli 2006 unbemerkt.

Der georgische Präsident kann nicht übersehen, dass Südossetien und Abchasien nach dem Abzug der russischen Blauhelme nicht loyaler würden. Zugleich würde es sicherlich zur Eskalation der Gewalt kommen, die Bevölkerung des Nordkaukasus würde in Konflikte in Georgien verwickelt. Was Moldawien anbetrifft, so steuert dieses offenbar nach Europa und ist deshalb keinesfalls an einem Auftauen des Konflikts interessiert, weil dies seine "europäischen Perspektiven" durchkreuzen würde.

Trotz ihrer bedrohlichen Deklarationen sind die militärpolitischen Ressourcen Georgiens und Moldawiens begrenzt. Deshalb müssen die russischen Diplomaten mit Washington und Brüssel intensiver wegen der Zügelung der "Verbündeten" verhandeln. Russland, das übrige Europa und die USA können sich heute nicht den Luxus leisten, wegen der Ambitionen der Spitzenpolitiker kleinerer Staaten zu konfrontieren, die sich nur um ihr eigenes Image kümmern und um die Einhaltung ihrer großzügigen Wahlversprechen.

* Zum Verfasser: Sergej Markedonow ist Abteilungsleiter Internationale Beziehungen des Instituts für politische und militärische Analyse.
Die Meinung des Verfassers entspricht nicht unbedingt der Meinung der Redaktion.

Quelle: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 24. Juli 2006; http://de.rian.ru


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