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Wem die Stunde schlägt

In der international nicht anerkannten Dnjestr-Republik wird am Sonntag gewählt. Russland favorisiert einen Machtwechsel

Von Knut Mellenthin *

Am kommenden Sonntag (11. Dez.) könnte für den dienstältesten Präsident Europas die Stunde des Abschieds vom Amt schlagen. Seit 1990 ist Igor Smirnow Staatsoberhaupt der von keinem Land der Welt anerkannten, aber real existierenden Republik Pridnestrowje, die in Deutschland meist „Transnistrien“ genannt wird. Am 11. Dezember können rund 400.000 Wahlberechtigte sich zwischen dem 70jährigen Smirnow und fünf Gegenkandidaten entscheiden. Als aussichtsreichster seiner Mitbewerber gilt der neun Jahre jüngere Anatoli Kaminski, stellvertretender Vorsitzender der gegen Smirnow opponierenden Erneuerungspartei und Sprecher des von ihr dominierten Parlaments. Kaminski hat die offene Unterstützung Russlands, dessen militärischer Beistand und finanzielle Hilfe die Existenz der Republik garantieren. In Moskau meint man, dass es Zeit für einen Wechsel sei. Eine ausgemachte Sache ist die Abwahl Smirnows, der sich zuletzt 2006 mit 82,4 Prozent der Stimmen durchsetzte, aber dennoch keineswegs.

Als sich 1990-1991 die UdSSR in ihre Bestandteile auflöste und die Moldauische Sozialistische Sowjetrepublik ihre Unabhängigkeit erklärte, mochten die Bewohner eines langgezogenen, schmalen Streifens im Osten des neuen Staates nicht mittun, sondern riefen ihre eigene Republik aus. Die Versuche Moldawiens, den Streit militärisch für sich zu entscheiden, führten 1992 zu einem mehrmonatigen, für beide Seiten verlustreichen Krieg. Mit Hilfe der dort stationierten russischen Einheiten konnte Pridnestrowje seine Selbstständigkeit behaupten. Im Juli 1992 wurde ein Waffenstillstandsabkommen geschlossen, das unter anderem die Bildung einer gemeinsamen Friedenstruppe vorsieht. Diese besteht aus 3.800 russischen sowie jeweils 1.200 transnistrischen und moldawischen Soldaten.

Im Gegensatz zum hier gebräuchlichen Namen Transnistrien, der „Land jenseits des Dnjestr“ bedeutet, heißt Pridnestrowje genau genommen „Land am Dnestr“. Darauf wird Wert gelegt, denn zur Republik gehört auch ein kleines Gebiet um die Stadt Benderi auf dem rechten Ufer des Flusses. Das Land hat eine singuläre Gestalt: Bei einer Länge von rund 200 Kilometern ist es im Durchschnitt nur 15 bis 20 Kilometer breit. Mit 3.567 Quadratkilometern ist es etwas größer als das Saarland oder Luxemburg. Die Republik grenzt nur an Moldawien und die Ukraine, nicht jedoch an Russland. Nach amtlichen Angaben wurden 2004 rund 555.000 Einwohner gezählt, von denen sich 31,9 Prozent als Moldawier, 30,3 Prozent als Russen und 28,9 Prozent als Ukrainer registrieren ließen. Die Sprachen aller drei Nationalitäten sind gesetzlich gleichberechtigt, allerdings muss das weitgehend mit dem Rumänischen übereinstimmende Moldawisch in Pridnestrowje mit kyrillischen Buchstaben geschrieben werden, und de facto dominiert eindeutig Russisch. Durch Abwanderung vor allem junger, arbeitsfähiger Menschen ist die tatsächliche Wohnbevölkerung geringer als angegeben und sie ist zudem überaltert. Viele Auswanderer behalten jedoch ihr Bürger- und Wahlrecht.

Moldawien erhebt nach wie vor Anspruch auf das Gebiet der kleinen Republik und wird darin von der internationalen Gemeinschaft unterstützt. Auch Russland erkennt offiziell die moldawische Souveränität über Transnistrien an. Moskau würde wohl auch tatsächlich gern die Verantwortung für das anachronistische Überbleibsel des Zerfalls der Sowjetunion loswerden, zumal dieses schon mehrere Milliarden Euro Subventionen, insbesondere durch unbezahlte Erdgas-Lieferungen, verschlungen hat. Ein Anschluss an Moldawien, und damit möglicherweise eines Tages sogar an Rumänien, steht aber für die meisten Bewohner Transnistriens nicht zur Debatte. Bei einem Referendum vor fünf Jahren stimmten 97,2 Prozent für den Erhalt der Unabhängigkeit mit der Perspektive eines späteren Beitritts zur Russischen Föderation.

Von einem Sieg Kaminskis erhofft Moskau sich, anstelle des als eigenwillig und unkontrollierbar geltenden Smirnow einen etwas flexibleren Partner für die künftige Ausgestaltung der komplizierten Wechselbeziehungen im Dreieck Russland-Moldawien-Pridnestrowje zu bekommen.

* Dieser Beitrag erschien unter dem Titel "Anachronistisches Überbleibsel" in der "jungen Welt" vom 8. Dezember 2011


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