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"Wir wollen mit Russland sein"

Andrej Smolenski über sein Land, das von keinem anderen Staat anerkannt wird *


Kommendes Jahr feiert die Dnjestr-Republik ihr 20-jähriges Bestehen – für einen international nicht anerkannten Staat eine ziemlich lange Periode. Wie erklären Sie diese Dauerhaftigkeit?

Es gibt innere und äußere Faktoren. Im Inneren ist die Einigkeit der Menschen von großer Bedeutung. Unsere Bevölkerung setzt sich zu jeweils etwa 30 Prozent aus Ukrainern, Russen und Moldauern zusammen, daneben gibt es Bulgaren, Juden, Polen und Deutsche. Die Stabilität des Staates baut auf dem gegenseitigen Verständnis der drei großen Volksgruppen auf, das sich auch aus einem historischen Bewusstsein speist.

Wie meinen Sie das?

Das historische Fürstentum Moldova hat niemals über den Dnjestr hinaus gereicht. Erst im Gefolge des Molotow-Ribbentrop-Pakts im Jahre 1939 wurde das Gebiet östlich des Dnjestr auf Stalins Wunsch der neuen Moldauischen Sowjetrepublik angegliedert. Damals wurden bereits die Voraussetzungen für einen künftigen Konflikt geschaffen, der 1990 ausbrach, als die Russen vom linken Flussufer mit den Nationalisten aus Moldova kollidiert sind.

Die PMR ist wohl keine mustergültige Demokratie, um es salopp auszudrücken. Es handelt sich eher um ein Direktorenkollegium aus den wichtigsten Industriebetrieben, das im Land das Sagen hat. Steht das Volk hinter dieser politischen Konstruktion?

Natürlich gibt es bei uns oligarchische Kräfte, das heißt, die Entscheidungen werden von den Stärkeren getroffen, seien es nun der Staat mit seinen exekutiven Kräften oder die wirtschaftlich starken Betriebe. Das Volk wird jedoch gefragt. 2006 gab es eine Volksabstimmung über die Zugehörigkeit des Territoriums. Soll die PMR mit Russland oder mit Moldova sein, hieß die Kernfrage. Das Resultat war eindeutig: 97 Prozent der Bevölkerung meinten, wir wollen mit Russland sein. Allerdings: Wenn Moldova die Schweiz wäre, wäre die Bevölkerung der Dnjestr-Republik sicherlich für einen Anschluss an Moldova. Die wirtschaftliche Kraft ist ausschlaggebend für eine solche Entscheidung.

Wie wesentlich ist die Präsenz der russischen Armee für die Selbstständigkeit der Republik?

Die Unterstützung Russlands ist der wichtigste äußere Faktor für die Staatlichkeit. Daran gibt es keinen Zweifel. Erst unlängst hat Tiraspol 30 Millionen US-Dollar aus Moskau erhalten, um damit Sozialleistungen für seine Bürgerinnen und Bürger aufstocken zu können. Jeder Rentner erhält seither pro Monat 15 US-Dollar mehr als zuvor; das ist eindeutig der russischen Seite zu danken. Die international schwache Position Moldovas trägt zusätzlich zur Orientierung nach Russland bei. Ein wirtschaftlich stärkeres Moldova würde eine Wiedervereinigung beschleunigen.

Warum erkennt Moskau die Dnjestr-Republik nicht offiziell an, wie es Abchasien und Südossetien als unabhängige Staaten anerkannt hat?

Wir haben keine gemeinsame Grenze mit Russland. Moskau setzt auf den Verhandlungsweg, was immerhin dazu beigetragen hat, dass seit 1992 kein einziger Friedenssoldat ums Leben gekommen ist.

Gibt es Verhandlungen zwischen der PMR und Moldova?

Ja, derzeit allerdings nicht im politischen Bereich, sondern im sozialen und wirtschaftlichen.

Worüber wird verhandelt?

Zum Beispiel über die Wiederaufnahme des Eisenbahnverkehrs zwischen Chisinau und Tiraspol. Oder über die Instandsetzung von Straßen, wofür auch die EU Subventionen vergibt.

Wie unterscheidet sich das Leben eines Durchschnittsbürgers in Tiraspol von dem eines Moskauers, Berliners oder Wieners?

Wir leben in der Provinz. Und das Leben unterscheidet sich dadurch, dass viele Menschen einfach weggehen, um woanders ihr Glück zu suchen. Das ist ein ernsthaftes Problem.

Wohin emigrieren sie?

Vor allem nach Moskau. Einige Freunde von mir sind dorthin ausgewandert. Sie arbeiten als Barkeeper oder Bauarbeiter.

Wie groß ist die Lohndifferenz zwischen Tiraspol und Moskau?

In Moskau kann man mit etwas Glück 1500 US-Dollar im Monat verdienen, eine vergleichbare Arbeit bei uns bringt vielleicht 300 US-Dollar ein, obwohl man sich bewusst sein muss, dass die Mieten in Moskau sehr viel teurer sind, die Grundnahrungsmittel andererseits jedoch billiger.

Manche meinen, dass in der PMR eine Art konserviertes Leben nach Art der Sowjetunion existiert. Stimmt das?

Keinesfalls. Bei uns herrscht ein wilder Kapitalismus. Heimische, russische und ukrainische Oligarchen beherrschen das wirtschaftliche Terrain.

* Andrej Smolenski, Journalist, Tiraspol

Aus: Neues Deutschland, 17. März 2010



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