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Mexiko auf der Anklagebank

Schlussanhörung des Permanenten Völkertribunals zu Menschenrechtsverletzungen

Von Gerold Schmidt, Mexiko-Stadt *

In einer abschließenden Sitzung beschäftigt sich das zivilgesellschaftliche Völkertribunal seit Mittwoch mit der Menschenrechtslage in Mexiko.

Es war eine dreijährige Reise durch die dunkle Menschenrechtsgegenwart Mexikos. Stationen des Horrors, aber auch Stationen des Aufbruchs. Nach Hunderten von Anhörungen, Foren, Seminaren, Workshops und anderen Veranstaltungen begann am Mittwoch die abschließende Sitzung des Permanenten Völkertribunals (TPP), Kapitel Mexiko. Mehr als 500 Fälle von Menschenrechtsverletzungen aufgeteilt nach sieben Themenbereichen sind seit Ende 2011 im Rahmen des TPP ausführlich dokumentiert worden.

Anfangs gab es unter den Mitgliedern des internationalen Ethik-Tribunals mit Sitz in Rom noch Zweifel, ob die Menschenrechtslage in Mexiko ihre Aufmerksamkeit verdiene. Diese Zweifel sind durch die Zeugnisse von Einzelpersonen, Initiativen, Organisationen und sozialen Bewegungen in den zurückliegenden Jahren wohl gründlich ausgeräumt worden. Es passt ins Bild, dass die viertägige Schlussaudienz mit den immer heftigeren Protesten gegen das Verschleppen und die wahrscheinliche Ermordung der 43 Studenten von Ayotzinapa im Bundesstaat Guerrero zusammenfällt.

Der Mittwoch diente dazu, die verschiedenen vom TPP behandelten Themen und die festgestellten Menschenrechtsverletzungen noch einmal im ausführlichen Überblick darzustellen: die soziale Unterdrückung und der schmutzige Krieg gegen die Mitglieder sozialer Bewegungen, die Gendergewalt, die Migration und die Angriffe auf die Arbeitsrechte, die Zerstörung der Umwelt und der ländlichen Gesellschaft mit ihrer Jahrtausende alten Maiskultur und schließlich die Gewalt gegen Medienschaffende. Am Donnerstag wird über die Rolle gesprochen, die der Missbrauch der staatlichen Gewalten sowie der Einfluss der ökonomischen Macht und der Medienkonzerne dabei einnehmen.

Eine spannende Frage ist, ob die mexikanische Regierung die ihr gegebene Gelegenheit nutzt, sich vor dem Tribunal gegen die Anklage des Machtmissbrauches zu verteidigen. Zu Beginn der Schlussanhörung überwog die Einschätzung, dass die für die Regierung vorgesehenen Stühle leer bleiben werden. Die international zusammengesetzte Jury, darunter mehrere anerkannte Juristen, wird am Freitag ein Urteil ausarbeiten und es am Sonnabend in einer öffentlichen Sitzung verkünden. Zu den aus dem Ausland anwesenden Zeugen der Jury-Entscheidung wird voraussichtlich auch die deutsche Bundestagsabgeordnete Heike Hänsel (Die Linke) gehören.

Das Urteil des TPP hat keine bindende Wirkung. Das Permanente Völkertribunal setzt vielmehr auf seine moralische Kraft. Es steht in der ausdrücklichen Nachfolge der Russell-Tribunale. Letztere arbeiteten von 1966 bis 1967 die USA-Verbrechen im Vietnamkrieg auf und hielten von 1974 bis 1976 über die lateinamerikanischen Diktaturen Gericht. Das Permanente Völkertribunal hat seit 1979 in verschiedenen Ländern und zu verschiedenen Themen fast 40 Sitzungen durchgeführt. Ihm gehören 130 angesehene und oft hochrangige Persönlichkeiten aus aller Welt an. Sein Urteilsspruch zu Mexiko wird angesichts der aktuellen Situation im Land wohl wesentlich mehr Aufmerksamkeit finden als noch vor Monaten gedacht.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 13. November 2014


"Uns fehlen 43"

Gewaltsame Proteste nach Mord an Studenten in Mexiko **

Wie selten zuvor legt der mutmaßliche Mord an Dutzenden jungen Menschen die unheilige Allianz zwischen Politikern, Polizei und organisiertem Verbrechen in Mexiko offen.

Chilpancingo. Nach dem mutmaßlichen Mord an Dutzenden Studenten in Mexiko haben sich Demonstranten gewalttätige Auseinandersetzungen mit der Polizei geliefert. Etwa 2000 Studenten und Lehrer steckten am Dienstag (Ortszeit) in der Provinzhauptstadt Chilpancingo den Regionalsitz der Regierungspartei PRI in Brand und schleuderten Steine sowie Feuerwerkskörper auf die Polizei. Die Beamten feuerten Tränengas in die Menge.

Zwei Journalisten wurden bei den Zusammenstößen im Südwesten des Landes verletzt. Polizisten nahmen drei Lehrer fest, die Demonstranten brachten ihrerseits einen ranghohen Polizeioffizier in ihre Gewalt. Nach mehrstündigen Verhandlungen wurde der Mann freigelassen.

Die Demonstranten forderten Aufklärung über das Schicksal von 43 jungen Leuten, die Ende September im Bundesstaat Guerrero von der Polizei verschleppt und der kriminellen Organisation »Guerreros Unidos« übergeben worden waren. Zwei Bandenmitglieder hatten kürzlich gestanden, die jungen Leute getötet und verbrannt zu haben. Drahtzieher der Tat soll das Bürgermeisterehepaar der Stadt Iguala gewesen sein. Der Fall wirft ein Schlaglicht auf die engen Verbindungen zwischen Politikern, Sicherheitskräften und Drogenkartellen in Mexiko.

Die Proteste könnten eine schwere politische Krise auslösen. In Morelia im Bundesstaat Michoacán griffen am Dienstag Vermummte die regionalen Zentralen der Parteien PAN (konservativ) und Nueva Alianza (Zentrum) an. Die sprühten an die Wände »Uns fehlen 43«. Generalstaatsanwalt Jesús Murillo Karam und Innenminister Miguel Ángel Osorio Chong trafen sich am Dienstabend (Ortszeit) erneut mit Angehörigen der Opfer. Es würden weiterhin mehreren Ermittlungssträngen gefolgt, teilte das Innenministerium nach der Zusammenkunft mit. Eine Sonderkommission werde die Familien zudem über alle neue Erkenntnisse unterrichten.

** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 13. November 2014


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