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Mexikos Gewaltspirale

Regierung will Bürgerwehren unter Kontrolle bringen

Von Wolf-Dieter Vogel, Michoacán *

Die Selbstverteidigungsgruppen in Michoacán konnten den Einfluss der Drogenkartelle mit Gewalt zurückdrängen. Nun sollen sie in einer Art Landespolizei aufgehen. Ein gewagtes Unterfangen.

Es hätte der letzte große Schlag gegen die Tempelritter sein sollen. Estanislao Beltrán schoss mehrmals mit seiner Kalaschnikow in die Luft. Dann brüllte der Anführer der Bürgermilizen in die Höhle hinein: »Tuta, ich suche dich immer noch.« Doch der mexikanische Mafiaboss »La Tuta«, der im bürgerlichen Leben Servando Gómez heißt, war längst über alle Berge. Nur eine kaltgestellte Bierdose im Brunnen verwies darauf, dass er sich hier versteckt hatte. Auch an diesem Apriltag sollte der Versuch scheitern, den Chef des Tempelritter-Kartells festzusetzen. Beltráns Truppe musste unverrichteter Dinge wieder abziehen. Und mit ihr ein Kommando der Polizei, das die bewaffneten Selbstverteidigungskräfte im mexikanischen Bundesstaat Michoacán unterstützt.

Dennoch steht außer Zweifel, dass die Milizen die »Caballeros Templarios« sehr geschwächt haben. Seit über einem Jahr kämpfen sie in der südwestmexikanischen Region gegen die Tempelritter, eine der schlagkräftigsten Banden des Organisierten Verbrechens. Sie hatten zu den Waffen gegriffen, weil die Bundesregierung nicht gegen das Kartell vorging und die regionalen Machthaber selbst auf der Gehaltsliste der Kriminellen stehen. Inzwischen arbeiten sie mit den staatlichen Kräften zusammen.

Am 10. Mai aber soll Schluss sein mit der Selbstverteidigung. Etwa 1500 der autonomen Kämpfer sollen in eine Guardia Rural – eine Landespolizei – übergehen, die dem Verteidigungsministerium untersteht. So sieht es eine Vereinbarung mit der Bundesregierung vor. Aber ob die Milizen auch nur eine Kalaschnikow abgeben, ist fraglich. »Ohne Waffen kann uns jeder Trottel auf dem Fahrrad ermorden«, erklärte José Manuel Mireles, neben Beltrán die wichtigste Figur der Truppe, der mehrere tausend Bewaffnete angehören.

Auf den ersten Blick sind die »Autodefensas« eine Erfolgsgeschichte: Seit sie im Februar 2013 den Kriminellen den Kampf angesagt haben, eroberten die Milizen eine Gemeinde nach der anderen. Vor allem in der Region Tierra Caliente, dem Hauptstützpunkt der Tempelritter, vertrieben sie die Mafia und übernahmen die Kontrolle in zahlreichen Dörfern und Kleinstädten. Abgesehen von »La Tuta« konnten sie alle führenden Bosse festsetzen oder töten. In der Bevölkerung finden sie große Unterstützung. Zwar galten die in Michoacán groß gewordenen »Caballeros Templarios« einst als Schutzmacht gegen »fremde« Mafiagruppen, doch in letzter Zeit sind sie zunehmend gegen heimische Händler, Kleinbauern und Unternehmer vorgegangen: Sie kassieren Schutzgeld, entführen und vergewaltigen Frauen und rauben Eisenerz, das in der Region abgebaut wird.

Die Regierung in Mexiko-Stadt wollte oder konnte die Kriminellen zunächst nicht stoppen. Gegen die Milizen mobilisierte Präsident Enrique Peña Nieto erst die Armee, später änderte er seine Strategie und setzte auf Zusammenarbeit. Nun soll der aus der Hauptstadt entsandte Sicherheitsbeauftragte Alfredo Castillo Beltráns Gruppen in den staatlichen Apparat integrieren. Castillo ist den Milizen ein wichtiger Verbündeter, denn lokalen Politikern trauen sie nicht. Erst letzte Woche wurden der Bürgermeister und der Schatzmeister von Lázaro Cárdenas verhaftet, weil sie für die Tempelritter gearbeitet haben sollen. Zuvor tauchte ein Video auf, das den ehemaligen Gouverneur von Michoacán, Jesús Reyna, im Gespräch mit »La Tuta« zeigte. Gerade in Reynas Amtszeit eskalierte die Gewalt.

Viele Linke blicken kritisch auf die Milizen. So warnt Luis Hernández von der Tageszeitung »La Jornada« vor einer Paramilitarisierung. Einiges weise darauf hin, dass die Bundesregierung schon beim Aufbau der Gruppen ihre Hände im Spiel gehabt habe. Der Journalist sieht Parallelen zur Entwicklung paramilitärischer Gruppen in Kolumbien, die eng an den Staat gebunden seien. Kein Zweifel besteht daran, dass manche der Milizen für andere Kartelle arbeiten. Das bestätigt auch eine letzte Woche veröffentlichte Studie, an der Steven Dudley von der renommierten Organisation »Insight Crime« beteiligt war. Einige »Autodefensas« würden von der organisierten Kriminalität unterstützt, andere von großen Unternehmen, weitere seien in armen ländlichen Zonen entstanden, um familiäre Kleinbetriebe zu schützen. Allein mit einer Entwaffnung und Integration der Milizen sei es nicht getan, schreiben die Autoren und stellen klar: »Nur mit nachhaltigen Investitionen, Wachstum und Entwicklungschancen kann das verteufelte kriminelle Leben in Tierra Caliente durchbrochen werden, wo schon Kinder Mafiabosse werden wollen.«

* Aus: neues deutschland, Freitag, 9. Mai 2014


Die Geschäfte der Tempelritter

Hervorgegangen aus der Mafiaorganisation »Familia Michoacana«, gaben sich die Tempelritter lange Zeit als Beschützer der heimischen Bevölkerung. Noch heute pflegen sie einen religiös-patriotischen Diskurs, demzufolge sie die Bürger Michoacáns vor auswärtigen Kriminellen schützen. Schon lange versuchen rivalisierende Banden wie die »Zetas« sowie das Sinaloa-Kartell und dessen Ableger »Jalisco Nueva Generación«, die Kontrolle in der Region zu übernehmen. Denn der Bundesstaat ist für illegale Geschäfte sehr wichtig: Fast nirgends in Mexiko wird so viel Marihuana und Mohn für die Opiumherstellung angebaut wie in den schwer kontrollierbaren Bergzügen der Sierra Madre im Westen des Landes. An der 271 Kilometer langen Pazifikküste landen zudem im Schutz korrupter Soldaten, Polizisten und Beamten zahlreiche Schnellboote, die kolumbianisches Kokain für den Weitertransport in die USA bringen. Besonders bedeutend ist der Hafen von Lázaro Cárdenas. Etwa die Hälfte aller Waren, die dort verschifft werden, sind nach Expertenschätzungen illegal: Raubkopien, Drogen, Erz. In dem Bundesstaat lagern große Mengen Eisenerz, das sich für die Tempelritter zu einem lukrativen Geschäft entwickelt hat. Sie kontrollieren Abbau und Transport des Rohstoffs, der von chinesischen Banden aufgekauft und von Lázaro Cárdenas nach China verschifft wird. Bei Razzien beschlagnahmten Sicherheitskräfte 119 000 Tonnen Erz und mehr als hundert Bergbaumaschinen, Lastwagen und Bagger. Die Tempelritter haben also allen Grund, ihr Terrain nicht kampflos aufzugeben. wdv




»Ihre letzte Stunde hat geschlagen«

Estanislao Beltrán, Sprecher der Selbstverteidigungsgruppen, über den Kampf gegen das Drogenkartell der Tempelritter **

Seine Kampfgefährten nennen ihn Papá Pitufo, tatsächlich heißt er Estanislao Beltrán. Seit Februar 2014 ist der 55-jährige Viehzüchter Sprecher und Koordinator der Selbstverteidigungsgruppen von Michoacán. In seiner Jugend, so berichtete er einer Tageszeitung, las er Karl Marx, Friedrich Engels und Josef Stalin. Den bewaffneten Gruppen schloss er sich an, nachdem er selbst vom Kartell der Tempelritter entführt worden war. Mit Papá Pitufo sprach für »nd« Wolf-Dieter Vogel.

Eine Vereinbarung mit der Regierung sieht vor, dass Sie am 10. Mai Ihren bewaffneten Kampf gegen die Tempelritter einstellen. Da bleibt wenig Zeit. Wie geht es voran?

Derzeit planen wir, die Hafenstadt Lázaro Cárdenas einzunehmen. Außerdem versuchen wir herauszufinden, wo sich »La Tuta« aufhält, der Chef der Tempelritter. Ich möchte aber betonen, dass wir bereits jetzt 85 bis 90 Prozent der bewaffneten Kräfte des Kartells zerschlagen haben. Bei unseren letzten Vormärschen wurden wir von den Verbrechern nicht einmal mehr gewaltsam angegriffen. Wir haben es geschafft, sie zu spalten und an den Rand zu drängen.

Sie wollen, wie Sie es ausdrücken, Michoacán von den Tempelrittern säubern. Ist das realistisch?

Das werden wir nicht vollkommen schaffen. Wir wissen ja nicht, wer alles mit ihnen zusammenarbeitet. Manche werden dazu gezwungen, andere sind gerne bei der Mafia und wieder andere müssen mitmachen, weil ihre Familie dabei ist. Nicht alle trifft eine Schuld. Wir werden mit den besonders Kriminellen Schluss machen. Mit den Auftragsmördern und denen, die unsere Dörfer angreifen, Schutzgeld kassieren und Menschen entführen.

Werden Sie, wie vereinbart, bis zum 10. Mai Ihre Waffen abgeben?

Nein. Wir lassen nur unsere Gewehre registrieren. Aber auch das wird wohl etwas länger dauern als geplant, denn wir können mit der Säuberung nicht auf halbem Weg stehen bleiben. Wenn das erledigt ist, werden wir uns in einen legalen Rahmen integrieren und als Landespolizei in den Gemeinden für Ordnung sorgen. Die Policía Municipal, also die bisherige Lokalpolizei, muss verschwinden und durch uns ersetzt werden.

Warum wollen Sie die Lokalpolizei abschaffen?

Weil alle ihre Beamten mit den Kriminellen zusammenarbeiten. Die Policía Municipal des Bundesstaates Michoacán war der bewaffnete Arm der Tempelritter. Wir werden nicht akzeptieren, dass sie bleibt. Sie muss verschwinden. Für immer. Polizisten, die für schwere Verbrechen verantwortlich sind, müssen strafrechtlich verfolgt werden. Ebenso korrupte Politiker. Unsere Polizei wird dem direkten Kommando des Präsidenten Enrique Peña Nieto unterstehen.

Was macht Sie so sicher, dass die Bundesregierung gegen die Mafia vorgeht?

Wir haben Vertrauen zum Sicherheitsbeauftragten Alfonso Castillo. Wenn wir feststellen, dass die Regierung das Ziel nicht mehr verfolgt, müssen wir uns wieder trennen. Aber im Moment arbeiten wir gut zusammen.

Sollten die Tempelritter geschwächt werden, könnte das dazu führen, dass rivalisierende Kartelle wie die Zetas oder Jalisco Nueva Generación Oberwasser bekommen?

Natürlich droht das. Das haben wir im Blick. Vor zwei Wochen lieferten wir uns Schusswechsel mit 45 Leuten der Nueva Generación. Sie hatten versucht, eine von uns kontrollierte Gemeinde einzunehmen. Der Kampf gegen diese Organisationen wird nicht einfach werden.

Es gibt Vorwürfe, dass einige Selbstverteidigungskräfte mit der Nueva Generación zusammenarbeiten. Stimmt das?

Ja, es ist völlig klar, dass es Leute gibt, die andere Ziele verfolgen als wir. Wir bereiten gerade ein Treffen vor, bei dem alle die Karten auf den Tisch legen müssen. In unseren Reihen akzeptieren wir keine Gruppe, die im Sold eines Kartells steht. Wir werden diese Personen ausfindig machen und dafür sorgen, dass ihnen der Prozess gemacht wird.

Erst kämpfen Sie mit solchen Leuten und nun wollen Sie sie angreifen. Das wird nicht leicht sein.

Doch, ich denke schon. Wir arbeiten schließlich eng mit der Bundesregierung und föderalen Polizeieinheiten zusammen und sind sehr gut organisiert.

Sie wollen Lázaro Cárdenas einnehmen. Das ist keine Kleinstadt, dort befindet sich einer der wichtigsten Häfen Mexikos. Sind Ihre Pläne realistisch?

Dazu muss ich erklären, wie wir eine Stadt einnehmen. Wir bauen auf den zentralen Einfallstraßen der Gemeinden mehrere Barrikaden, um zu kontrollieren, wer kommt und wer geht. Parallel säubern wir die ganze Stadt. Das machen wir in Koordination mit der Bundesregierung, zusammen mit der Bundespolizei und mit Hilfe der Armee, in diesem Fall der Marine.

Wie reagiert die Regierung des Bundesstaates Michoacán, die ja eng mit den Tempelrittern verbunden ist?

Sie muss einfach akzeptieren, dass alles ein Ende hat.

** Aus: neues deutschland, Freitag, 9. Mai 2014


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