Eine Seifenoper
Bei den Wahlen in Mexiko am 1. Juli wurde wieder bedroht und bestochen. Betrug gehört seit Jahrzehnten zum politischen Geschäft
Von Sara König *
Am Abend des 1. Juli trat Leonardo Valdés Zurita, Präsident der mexikanischen Wahlbehörde (IFE), strahlend vor die Kameras. »Mexiko erlebte heute einen vorbildlichen Wahltag mit einer beispielhaften Bürgerbeteiligung in absoluter Normalität und Frieden. Mexiko hat es geschafft, seine Wählerdemokratie zu konsolidieren«, erklärte er. Und Präsident Felipe Calderón stimmte ihm ebenso freudig zu: »Enrique Peña Nieto ist der Wahlsieger dieses Abends und wird ab dem 1. Dezember das Amt des Präsidenten von Mexiko übernehmen«. Der Fernsehsender Televisa feierte einen überwältigenden Sieg des Kandidaten der Institutionellen Revolutionären Partei (PRI). Die Wahllokale waren noch keine vier Stunden geschlossen, offizielle Zahlen lagen noch nicht vor, doch der Politstar der ehemaligen Staatspartei wurde schon auf den Thron gehoben. Die meisten ausländischen Medien ließen sich von der Show täuschen und verbreiteten bereits am nächsten Morgen Bilder des lächelnden Peña Nieto als die des neuen Präsidenten Mexikos.
»Bei dieser Wahl hat es nie eine Chancengleichheit gegeben, denn die PRI hat mehr als fünf Millionen Stimmen gekauft«, entrüstete sich in der folgenden Woche der Linkskandidat Andrés Manuel López Obrador auf einer Pressekonferenz. Für Aufsehen sorgte die Dekoration im Hintergrund: Das Rednerpult sowie die Säulen daneben waren komplett mit Prepaidkarten der mexikanischen Supermarktkette Soriana übersät. Der Vorwurf: Die PRI habe damit massiven Stimmenkauf vor der Wahl betrieben. Außerdem hätten unabhängige Beobachter gesehen, wie Polizisten und Wahlhelfer samt Urnen verschwunden seien oder Unbekannte Urnen mit Stimmzetteln verbrannt hätten. López Obrador kündigte an, alle möglichen rechtlichen Schritte zu unternehmen, um das Ergebnis der Wahlen anzufechten.
Die Situation erinnert an das Jahr 2006. Damals hatte er schon einmal für das Präsidentenamt kandidiert und unterlag nach offizieller Darstellung mit weniger als einem Prozentpunkt Felipe Caldéron. López Obrador sah sich als Opfer eines Wahlbetrugs. Es folgte ein wochenlanges Gezerre um die Rechtmäßigkeit der Abstimmung vor der Wahlbehörde und vor Gerichten. Seine Anhänger legten Mexiko monatelang politisch und wirtschaftlich lahm, Wahlbetrug jedoch konnte er nicht nachweisen.
Foto vom Stimmzettel
»Sie boten mir 500 Pesos an, damit ich Leute im Viertel zusammentrommele, die für die PRI stimmen. Ich sollte sie ins Wahllokal und wieder nach Hause bringen, quasi eine Art Taxiservice spielen«, beschreibt Enrique Mejía (Name geändert – d. Red.) die Offerte eines Parteivertreters in seinem Stadtviertel. Der junge Industriekletterer aus Guadalajara ist nicht der einzige, der von Manipulation am Wahltag berichten kann. »Wir alle wußten, daß es auch dieses Jahr wieder Betrugsversuche geben wird«, sagt die Textilverkäuferin Martha Guitérrez. »Aber doch nicht in solch einer Größenordnung.« Auf ihrem Laptop zeigt Guitérrez verschiedene Texte, Fotos und Videos im Internet: Eine ältere Dame entrüstet sich mit anderen Bürgern in einem Wahllokal über den Mangel an Stimmzetteln. Wahlhelfer in San Luis Potosí, die bei der Stimmenauszählung eine leere Wahlurne vorfinden, sind fassungslos. Eine andere Urne enthält mehr Stimmen, als es Wähler im Bezirk gibt.
Für den größten Aufschrei sorgten jedoch die Prepaidkarten von Soriana: PRI-Vertreter verteilten sie schon Wochen vor der Abstimmung an Millionen Bürger. Als Gegenleistung verlangten sie eine Kopie des Wahlausweises und bei Einlösung ein Handyfoto des ausgefüllten Stimmzettels. Die Mexikaner stürmten in den Tagen nach der Wahl die Supermärkte. Meterlange Schlangen bildeten sich an den Kassen, in den Händen hielten die Kunden ihre Einkaufskarten. Vor dem Eingang einer Filiale beschwert sich Isabel Pérez: »Das ist nicht fair. Sie versprachen mir 500 Pesos, und an der Kasse stellte sich heraus, daß meine Karte nur 100 Pesos geladen hatte. Was kann ich denn von 100 Pesos kaufen?« Umgerechnet sechs Euro erhielten die Bürger für ihre Stimme, nur für Polizisten und höhere Beamte gab es mehr. Einige Betrogene gingen auf die Straße, demonstrierten aber nicht gegen den illegalen Stimmenkauf, sondern forderten die versprochene Summe.
Auf BBC World darauf angesprochen fragte Peña Nieto: »Wer sagt, daß diese Videos nicht sogar von der Opposition manipuliert wurden? Welche Glaubwürdigkeit besitzen sie?« Er fügte hinzu: »Sollen die Meldungen zu Stimmenkauf doch vorgetragen und bewiesen werden. Ich habe kein Problem damit.«
Lange Tradition
Seitdem in Mexiko die Menschen an die Urnen treten, wird getrickst und betrogen, rechts wie links: bei der ehemaligen Staatspartei der PRI, der konservativen Regierungspartei (PAN) oder der linken Partei der Demokratischen Revolution (PRD). Nur die Dimensionen unterscheiden sich erheblich. Der Betrug hat System und ist Erbe derjenigen, die jetzt wieder das Zepter erlangten: der PRI, die Mexiko 71 Jahre lang regierte. Mit ihrer Herrschaft von 1929 bis 2000 verbinden sich Wahlbetrug, Unterdrückung, Korruption und Finanzkrisen. Alle sechs Jahre brachte sich die Partei durch manipulierte Stimmabgaben wieder selbst an die Macht. So z.B. 1988, als sich erstmals der Sieg eines Oppositionskandidaten abzeichnete. Plötzlich setzten die am Wahlabend eingesetzten Computer aus. Am nächsten Morgen erwachten die Mexikaner mit dem PRI-Kandidaten Salinas de Gortari als Gewinner. Eine »perfekte Diktatur« nannte der peruanische Autor und Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa das Mexiko der PRI.
In diesem Jahr mußte López Obrador nicht erst zu Demonstrationen aufrufen, sie bildeten sich von allein. Ein großer Teil der Bevölkerung protestiert mittlerweile im ganzen Land. Ob Studenten der Bewegung »#yo soy 132«, Mütter mit Kindern, Rentner, Intellektuelle, Lehrer oder Geschäftsführer – sie alle haben genug von der PRI. Aber nach offiziellen Angaben leben rund 46 Prozent der Mexikaner unterhalb der Armutsgrenze. Der tägliche Kampf ums Überleben begünstigt die Wahlstrategie der Partei dort, wo die meisten Stimmen leicht zu holen sind.
Warum verkaufen Millionen Mexikaner ihre Stimmen für ein paar Eier und Tortillas? Medienwissenschaftler Carlos Villa Guzmán an der Universität von Guadalajara sieht die Ursache in der Geschichte des Landes. »Die Mexikaner haben nie gelernt, ihre Rechte als Bürger auszuüben«, erklärt der Dozent und fährt fort: »So, wie sie ihre Wahlstimme nicht verteidigen, setzen sie sich auch kaum für andere Rechte ein. Lieber akzeptieren Mexikaner einen unrechtmäßigen Strafzettel, als in einen Konflikt mit dem Staat zu treten.« Durch die Kolonialherrschaft, die Sklaverei und das anschließende Haciendasystem seien sie daran gewöhnt, dem Patron zu gehorchen.
Fernsehdemokratie
Außerdem fielen die Mexikaner noch einer anderen Manipulation zum Opfer. Der britische Guardian schilderte, wie der Mediengigant Televisa jahrelang das Image des Präsidentschaftskandidaten Peña Nieto aufbaute. Der größte spanischsprachige Sender der Welt investierte Millionen Peso in entsprechende Meldungen und Berichte. In den Nachrichten, die in mexikanischen Haushalten ständig über die Flimmerkästen laufen, wurde Berichterstattung mit Wahlwerbung gezielt vermischt. Alternative Information gab es kaum. Televisa kontrolliert über 80 Prozent des mexikanischen TV-Markts und stellt besonders für die arme Bevölkerung Mexikos die einzige Informationsquelle dar. »Aus diesem Grund stimmte die Mehrheit für den PRI-Kandidaten«, sagt Villa Guzmán und erklärt: »Erobert und verführt durch verkaufte Fernsehbilder eines angeblichen Gentlemans entschieden sich die Mexikaner für ein Happy-End im Sinne der Seifenoper«.
Die umfassende Kontrolle durch Televisa sieht Villa Guzmán als Gefahr: »Solange diese Medien hier regieren, ist keine Demokratie in Mexiko möglich.« Für ihn gibt es nur einen Weg: die Annullierung der Präsidentschaftswahlen. Doch darüber wurde bereits entschieden. Der Präsident des nationalen Wahlgerichts, Alejandro Luna Ramos, meinte zu den Unregelmäßigkeiten am Wahltag: »Niemand gewinnt am grünen Tisch das, was er bereits an den Wahlurnen nicht erreichen konnte.«
* Aus: junge Welt, Donnerstag, 26. Juli 2012
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