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"Mexikos Regierung hat keine weiße Weste"

Menschenrechtsanwältin Alma Rosa García Guevara: Verschwundene haben keine Lobby *


In Mexiko verschwinden regelmäßig Menschen. Landesweit wird die Zahl der Verschwundenen auf mehr als 26 000 geschätzt. Die 29-jährige Aktivistin Alma Rosa García Guevara aus Saltillo arbeitet seit mehr als zehn Jahren mit den Familien von Verschwundenen. Die Menschenrechtslage in Mexiko wird im Oktober von der UN-Menschenrechtskommission evaluiert. Für »nd« sprach Knut Henkel mit García Guevara.


In Mexiko verschwinden regelmäßig Menschen. Sie haben jüngst in Genf auf die Situation im Norden, nahe der Grenze zu den USA, aufmerksam gemacht.

Ja, ich bin als Repräsentantin des Menschenrechtszentrums Fray Juan de Larios und zwei weiterer Organisationen in Genf empfangen worden und habe Unterlagen abgegeben, um auf die Situation in unserem Bundesstaat Coahuila aufmerksam zu machen.

Sie haben mehrere hundert Fälle von Verschwindenlassen dokumentiert, richtig?

Wir haben 2009 begonnen, die ersten 21 Fälle von gewaltsamem Verschwindenlassen zu dokumentieren. Anfang August waren es dann 314 Menschen, die allein in unserem Bundesstaat, einem von 32 mexikanischen Bundesstaaten, gewaltsam verschwanden. Landesweit sind mehr als 26 000 Menschen als vermisst oder verschwunden gemeldet. Doch das ist nur die Spitze der Pyramide, denn wir haben die Erfahrung gemacht, dass längst nicht alle Verschwundenen auch als Fälle gemeldet und registriert sind. Die Leute haben Angst, Anzeige zu erstatten, vertrauen den staatlichen Stellen längst nicht immer .

Wie viele Fälle sind es in Ihrem Bundesstaat?

Die Regierung in Coahuila spricht von rund 1800 Verschwundenen.

Handelt es sich dabei in erster Linie um Mexikaner oder sind auch Migranten darunter, die den Bundesstaat passieren wollen, um in die USA zu gelangen?

Eine offizielle Zahl gibt es nicht. Wir sind jedoch sicher, dass viele Migranten darunter sind. Es gibt Organisationen von Betroffenen in den vier wichtigsten Herkunftsländern von Migranten, die versuchen, über Mexiko in die USA zu gelangen. Das sind Honduras, El Salvador, Guatemala und Nicaragua. Sie haben Listen von Verschwundenen an das mexikanische Außenministerium gesandt und um Nachforschungen gebeten.

Klingt nicht, als ob das Schicksal von Verschwundenen Priorität genießen würde, täuscht der Eindruck?

Nein, das ist richtig. Es fehlt am politischen Druck von Seiten der Regierungen Mittelamerikas. Das ist auch ein Grund, weshalb es einmal jährlich die Karawane der Mütter gibt. Die fordert, dass zumindest die Register der mexikanischen Haftanstalten kontrolliert werden, um auszuschließen, dass Vermisste dort einsitzen. Das zeigt schon, dass es am politischen Willen fehlt, zu helfen.

Coahuila liegt an der Grenze zu den USA, hat also als Route der Drogenkartelle Bedeutung.

Der Bundesstaat wurde lange von einem Kartell dominiert, heute streiten mehrere Kartelle um die Vorherrschaft, denn die Straßen Coahuila führen direkt ins Zentrum des Landes. Die Zetas kämpfen mit dem Golfkartell und wahrscheinlich auch mit den »Tempelrittern« um die Vorherrschaft.

Die Zetas haben 2010 und 2011 viele Migranten im Süden Mexikos entführt, um deren Familien zu Hause zu erpressen. Ist das in Coahuila auch so?

Derzeit gibt es keinen Anstieg der Zahl der Entführungen, sondern nur wenige, punktuelle. Aber sie sind an der Tagesordnung. Es gibt casas de concentración, Konzentrationshäuser, wo Migranten festgehalten werden. Vor ein paar Wochen hat es eine Anzeige im Nachbarstaat Tamaulipas gegeben, dass in einem Haus rund 60 Menschen festgehalten werden. Die sind bis heute nicht befreit worden – das ist Teil der Realität in Mexiko.

Warum intervenieren die Polizei, die Behörden nicht, wenn so ein Hinweis eingeht?

Ein wesentlicher Grund ist, dass die Migranten auf der politischen Agenda keine Rolle spielen – trotz der Massaker, die es gegeben hat. Das belegt auch das neue Migrationsgesetz, welches formal Rechte für Migranten vorsieht, aber keine Regeln für deren Umsetzung aufgestellt hat. Daher brauchen die Migranten Geld, um zu ihrem Recht zu kommen – zum Beispiel für ein Visum oder eine Arbeitserlaubnis.

Welche Rolle spielt der internationale Druck?

Amnesty International hat gerade einen Bericht zum Verschwindenlassen herausgegeben. Der ist überaus wichtig, denn Mexiko weiß seine Erfolge im administrativen Bereich gut zu verkaufen. Da stellt sich Mexiko im besten Licht dar, aber Kampagnen wie die von Amnesty lenken die Scheinwerfer auf die Dinge, die die Regierung unter den Teppich kehren möchte. Im Oktober erfolgt beispielsweise die Evaluierung durch die UN-Menschenrechtskommission. Neue Gesetzesvorhaben sind allerdings nicht genug, denn die Kommission legt auch Wert auf die Implementierung. Die Maßnahmen sollen bei den Menschen auch ankommen.

Gibt es denn Programme, um den Migranten die Durchreise zu erleichtern?

Die Erleichterungen, die es auf dem Arbeitsmarkt gab, um Migranten Chancen zu eröffnen, in Mexiko arbeiten zu können, sind wieder gestrichen worden. Auch die Aufregung, die die systematische Entführung von Migranten 2010 und 2011 hatte, hat sich längst gelegt. Selbst die Herbergen, die meist von kirchlichen Organisationen entlang der Routen gen Norden aufgebaut wurden, sind immer mal wieder angegriffen worden. In Mexiko haben Migranten keine Lobby.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 22. Oktober 2013


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