Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Mehr "Verschwundene" als in Argentinien

Mexikos Regierung veröffentlicht Liste mit über 26000 vermißten Personen

Von André Scheer *

In Mexiko sind während der Amtszeit von Präsident Felipe Calderón mehr als 26000 Menschen »verschwunden«. Das geht aus einer offiziellen Liste hervor, die von Mexikos Staatssekretärin für Rechtsangelegenheiten und Menschenrechte, Lía Limón García, am Dienstag (Ortszeit) offiziell veröffentlicht und im Internet eingestellt wurde. Die Aufstellung umfaßt exakt 26121 Personen, die zwischen dem 1. Dezember 2006 und dem 30. November 2012 als vermißt gemeldet wurden. Damit übersteigt diese Zahl die der unter den Militärdiktaturen in Chile (1973–1990) und in Argentinien (1976–1983) verschleppten und ermordeten Menschen.

Wie Limón erläuterte, wurde die Liste vom Nationalen Zentrum für Planung, Analyse und Information zur Verbrechensbekämpfung (CENAPI) der mexikanischen Generalstaatsanwaltschaft erstellt und speist sich aus Angaben der Justizbehörden in den Bundesstaaten. Die genauen Quellen der Informationen seien auch ihr unbekannt, betonte Limón bei einer Pressekonferenz am Mittwoch. Für das Verschwinden der genannten Personen sei nicht zwingend das organisierte Verbrechen verantwortlich, betonte die Politikerin, sie wolle die Ursachen »nicht präjudizieren«. Die mexikanischen Medien gehen jedoch davon aus, daß der überwiegende Teil der Opfer im Zusammenhang mit dem unter Calderón ausgerufenen Krieg gegen die Drogenkartelle steht, dem Schätzungen zufolge seit 2006 mindestens 60000 Menschen zum Opfer gefallen sind. Wie die Tageszeitung La Jornada im vergangenen März berichtete, bezifferte der bisherige US-Verteidigungsminister Leon Panetta die Zahl der in diesem Zeitraum Getöteten sogar auf 150000.

Limóns Vorgänger im Amt, Oscar Vega, kritisierte die Veröffentlichung seiner Nachfolgerin und bestritt die Existenz einer solchen Liste, die ja unter seiner Führung geführt worden sein müßte. Im Gespräch mit der Tageszeitung Milenio sagte er, die Daten auf der Liste seien »nicht zu hundert Prozent überprüft« worden, deshalb könne man diese Informationen »nicht als Grundlage für Entscheidungen« heranziehen. Man könne die Fälle nur zählen, wenn man umfassende Angaben über jeden einzelnen Vorgang habe, denn es könne sich ja schließlich auch um »Migranten« handeln, die irgendwann »nach Hause zurückgekehrt« seien. Die tatsächlich bestätigte Zahl von »Verschwundenen« habe zum Zeitpunkt seines Ausscheidens aus dem Amt Ende vergangenen Jahres bei 5319 gelegen. Die von Limón vorgelegte Liste könne deshalb höchstens als Ausgangspunkt für eine Ermittlung der tatsächlichen Zahlen dienen. »Diese Administration sollte sich nun an die Aufgabe machen, die noch vor ihr liegt, und die Information überprüfen und aufklären«, so Vega.

Demgegenüber begrüßte Amnesty International die Veröffentlichung der Regierung als »ersten, aber unzureichenden Schritt«. Die Menschenrechtsorganisation kritisierte, daß die Behörden keine effizienten Maßnahmen ergriffen hätten, um derartige Verbrechen zu verhindern, aufzuklären und zu bestrafen. Zudem fehlten noch immer Informationen darüber, wieviele der »Verschwundenen« Opfer staatlicher Stellen seien. »Es ist ein Fortschritt, daß die mexikanischen Behörden endlich Informationen sammeln und öffentlich machen, die den Umfang dieses Problems einschätzen lassen, das von der Bundesregierung und den Regierungen der Bundesstaaten während der letzten Administration toleriert und ignoriert wurde«, erklärte der Vertreter der Organisation in Mexiko, Daniel Zapico.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 28. Februar 2013


Zurück zur Mexiko-Seite

Zurück zur Homepage