"Im Zentrum des Schmerzes"
Das Permanente Völkertribunal im mexikanischen Ciudad Juárez prangert den Staatsterrorismus an
Von Gerold Schmidt, Mexiko-Stadt *
Das in der Nachfolge der Russel-Tribunale
stehende Permanente Völkertribunal
hat seine Zelte in Mexiko
aufgeschlagen. Zwei Jahre sollen die
Juroren die verschiedensten Menschenrechtsverletzungen
untersuchen. Ende Mai machten sie eine
Stippvisite in Ciudad Juárez, der
Hauptstadt der Verbrechen und der
Straflosigkeit.
Es war eine Schilderung des alltäglichen
Horrors und gleichzeitig
ein befreiendes Gefühl für viele der
Sprechenden. Drei Tage lang trugen
Ende Mai in der mexikanischen
Ciudad Juárez verschiedenste
Betroffene und Mitglieder
sozialer Bewegungen aus dem
ganzen Land einem sechsköpfigen
Ethikgericht vor, welcher Art von
Menschenrechtsverletzungen sie
oder ihre Angehörigen ausgesetzt
waren und sind. Mit der allgemeinen
Einführungsanhörung vor
dem Permanenten Völkertribunal
versuchten die Teilnehmer eine
»reale mexikanische Geschichtsschreibung
«. Es sollte ein Kontrapunkt
gegen die offizielle Darstellung
der Lage in Mexiko gesetzt
werden. Ebenso war die Absicht
aufzuzeigen, wie sehr der seit 1994
gültige Nordamerikanische Freihandelsvertrag
mit den USA und
Kanada (NAFTA) und Dutzende
weitere von Mexiko abgeschlossene
Abkommen einhergegangen
sind mit einer humanitären Krise
verschiedenster Facetten.
Mit Bedacht war gerade die
Grenzstadt zu den USA im Bundesstaat
Chihuahua für die Veranstaltung
ausgesucht worden. Für
so gut wie jedes der sieben vor dem
Tribunal angesprochenen Themen
lässt sich in Ciudad Juárez ein Beispiel
finden. Die Stadt erlangte in
den letzten zwei Jahrzehnten
traurige Berühmtheit aufgrund der
zahlreichen Feminizide und der
Obstruktionspolitik der Behörden
bei der Verfolgung dieser Verbrechen.
Aber ebenso präsent sind die
Missachtung der Arbeitsrechte
beispielsweise in den Teilfertigungsfabriken,
die Gewalt gegen
Migranten, die Umweltzerstörung,
die allgemeine Straffreiheit, das
Morden im Kontext des sogenannten
Drogenkrieges, Zensur und
physische Aggression gegen Medienmitarbeiter.
Wenn Chihuahua
das Einfallstor für NAFTA war,
dann ist Ciudad Juárez nach den
treffenden Worten eines Kollegen
das »Zentrum des Schmerzes«, in
dem sich die verschiedensten
Menschenrechtsverletzungen in
Mexiko wie in einem Brennglas
spiegeln.
Bewegend der ungeplante Auftritt
einer Gruppe von 92 Frauen
aus Ciudad Juárez, die erst über
die Medien von der Anhörung erfahren
hatten und dort um Gehör
baten. Sie fügten den Schilderungen
der Frauenmorde noch weitere
erschütternde Fälle aus ihrem
Umfeld hinzu. Daneben gab es
nüchterne Analysen, die auf die
strukturelle Gewalt und die Fahrlässigkeit
des Staates als Vorbedingung
für die mörderische physische
Gewalt eingingen. So legte
der Bauernvertreter Víctor Quintana
dar, wie der Rückzug des
Staates als Investor und Entwicklungsmotor
in den ländlichen Gebieten
die zunehmende territoriale
Kontrolle durch den Drogenhandel
ermöglichte. Das soziale Gewebe
auf dem Land, die auf dem Maisanbau
beruhende indigene und
kleinbäuerliche Lebenskultur, sehen
sich durch die offizielle Wirtschaftspolitik
und dem vielfach
existierenden Parallelstaat der
»Narcos« Attacken ausgesetzt, die
selbst ohne die Anwendung direkter
Gewalt verheerend wirken.
Das Permanente Völkertribunal
wird erst Anfang 2014 ein Urteil
sprechen. Bis dahin wird es für jeden
Themenbereich noch detaillierte
Einzelanhörungen geben.
Dennoch bekamen die Mitglieder
des Tribunals überreichlich Material
für eine erste Einschätzung.
Der argentinische Menschenrechtsexperte
Alejandro Teitelbaum
kritisierte die seiner Meinung
nach irreführende Wortwahl
»schmutziger Krieg« für eines der
sieben Themen. Es handele sich
nach dem Gehörten vielmehr um
Aktionen eines Staates gegen eine
wehrlose Bevölkerung. Für die
Gesamtheit der in Mexiko ausgeübten
Gewalt zögerten er und seine
Kollegen nicht, von »Staatsterrorismus
« zu sprechen. Dies bedeute
nicht, dass der mexikanische Staat
für alle Menschenrechtsverletzungen
verantwortlich sei. Er habe
aber immer mehr die Rolle eines
Wächters von Privatinteressen
übernommen. Recht müsse jedoch
anders gedacht und konstruiert
werden, so dass es den Völkern
gerecht werde.
Diesen kollektiven Rechtscharakter
betonte auch der Universitätsprofessor
Andrés Barreda, der
zu den treibenden Kräften gehörte,
das Tribunal nach Mexiko zu bringen.
Das Tribunal sei »ein Raum,
unsere kollektiven Rechte zu diskutieren.
Denn das ganze Institutionenwesen
ist so angelegt, dass
den Leuten vermittelt wird: ihr
könnt eure Rechte nur individuell
einklagen.«
In Ciudad Juárez zeigten die
Reaktionen vieler Teilnehmer, wie
wichtig es für sie war, ihre individuellen
Erfahrungen erlittener
Menschenrechtsverletzungen in
einen kollektiven und übergeordneten
Kontext einordnen zu können.
Das Permanente Völkertribunal
ist eine Initiative, die in der ausdrücklichen
Nachfolge der Russell-
Tribunale steht. Letztere arbeiteten
von 1966 bis 1967 die US-Verbrechen
im Vietnamkrieg auf und
hielten von 1974 bis 1976 über die
lateinamerikanischen Diktaturen
Gericht. Das Völkertribunal hat seit
1979 in verschiedenen Ländern
und zu verschiedenen Themen fast
40 Sitzungen durchgeführt. Ihm
gehören 130 angesehene und oft
hochrangige Persönlichkeiten aus
aller Welt an. Da seine Urteile keinen
rechtlich bindenden Charakter
haben, setzt das Tribunal auf seine
moralische Autorität und seine
Wirkung in der Öffentlichkeit.
* Aus: neues deutschland, Dienstag 5. Juni 2012
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