Was ist eigentlich Chiapas?
Zum historisch-geographischen Milieu einer Rebellion*
Von Margarete Tjaden-Steinhauer und Karl Hermann Tjaden*
Der folgende Beitrag besteht im wesentlichen aus einem Text, der 2004 in einem Sammelband
von U. Sperling, M. Tjaden-Steinhauer, L. Lambrecht u. a. mit dem Titel „Gesellschaft von
Tikal bis irgendwo, Europäische Gewaltherrschaft, gesellschaftliche Umbrüche, Ungleichheitsgesellschaften neben der Spur“ (Verlag Winfried Jenior, Kassel) erscheinen soll.
Wir haben ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion der Zeitschrift Marxistische Erneuerung entnommen.
Frank Deppe hat in Z 54 (Juni 2003) die Vielfalt der Widerstandsbewegungen
im aktuellen globalen Kapitalismus erwähnt, die Vorboten zukünftiger gesellschaftlicher
Konflikte der verschiedensten Art sein könnten, und dabei auch auf
den zapatistischen Aufstand im mexikanischen Chiapas hingewiesen, der seit
dem Jahresbeginn 1994 andauert. (Deppe 2003, 91ff) Dieser Hinweis ist so berechtigt
wie erforderlich, wenn man etwa bedenkt, daß in der letzten Neujahrsnacht,
gelegentlich des neunten Jahrestags des Beginns dieser Erhebung, zehntausende
Indigenas in der chiapanekischen Stadt San Cristóbal demonstrierten,
ohne daß man hierzulande viel davon erfuhr. Allerdings: Wenn man „linke“
Debatten verfolgt, drängt sich zuweilen der Eindruck auf, daß die Stichworte
„Zapatistas“ und „Chiapas“ als „filigrane“ Schmuckstücke wenig konturierter
Theorien fungieren, wenn auch anzuerkennen ist, daß Chiapas zu jenen Orten
gezählt wird, bei denen es darauf ankomme, „genau hin[zu]schauen, wo sich
dort an verwundbaren Punkten, an ernst zu nehmenden Punkten, an Punkten, die
Veränderungen möglich machen, etwas konstelliert, [...] um Chiapas etc.“ (Türcke
in Haug/Haug u.a. 2002, 169). Schauen wir also diesen Ort genauer an.
Die Regionen Chiapa und Soconusco, östlich des Isthmus von Tehuantepec
zwischen dem Pazifischen Ozean und dem Río Usumacinta gelegen, schlossen
sich nach Erklärung ihrer Unabhängigkeit von Spanien (1821) nach einigem
Hin und Her als Staat Chiapas dem neuen Bundesstaat México an. In
Chiapas, nahe der Grenze zu Guatemala, liegen die Ruinen bedeutender Maya-
Zentren, z.B. die von Toniná, Palenque und Yaxchilán. Hauptstadt war zunächst
San Cristóbal de las Casas. Der Beiname erinnert an den Missionar und
Anwalt der Eingeborenen Bartolomé de Las Casas, der hier 1545/46 als Bischof
gewirkt hat. Hier befindet sich das Rathaus, das am 1. Januar 1994
durch die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) besetzt wurde,
deren Vertreter „Subcomandante Marcos“ am Tag danach die „Erste Erklärung
aus dem Lacandonischen Urwald“ verlas, die mit den Worten beginnt:
„Heute sagen wir: es reicht!“
Die Unabhängigkeit der hispanoamerikanischen Länder war vor allem von
den herrschenden kreolischen Gruppen betrieben worden. Die Indigenas hatten
meist wenig Neigung gezeigt, sich für die Sache von Großgrundbesitzern
und Bergwerksunternehmern einzusetzen, wenn sie nicht sogar für ein Königtum
eintraten, das sie zuweilen vor ihren unmittelbaren Herren geschützt hatte. Dieser – wie sehr auch unvollkommene – Schutz fiel in den neuen Republiken
fort. Deren liberalistische Politik gegenüber den Indigenas, insbesondere
die Umwandlung von indigenem Gemeineigentum in frei verkäufliches
Privateigentum, überließ diese Mitbürger ihrem individuellen Schicksal. Die
indigenen Gemeinschaften oder Gemeinden („comunidades“) und – soweit
noch vorhanden – ihre Kulturen galten als Hemmschuh wirtschaftlichen Fortschritts.
Das blieb auch noch so, nachdem der mexikanische Staat – im Gefolge
der Revolution 1910-1917, vor allem in den späten dreißiger Jahren – vielen
Indigenas (und anderen landlosen „campesinos“) Genossenschaftsland in
staatlichem Eigentum zur individuellen Nutzung („ejido“) zugeteilt oder gelegentlich
auch Gemeinschaftsland rückerstattet hatte – in der Absicht, diese
Bürger in die moderne Gesellschaft zu integrieren. Gegen diese Politik des
„indigenismo“ richten sich – nicht nur in Mexiko – seit mehr als drei Jahrzehnten
starke Bewegungen von Indigenas mit dem Ziel, die Anerkennung ihres
„estado étnico“, ihrer je eigenen Kultur sowie ihrer Verfügung über den
jeweiligen Lebensraum zu erreichen. So auch – und besonders – in Chiapas.
(Tobler in Bernecker u.a. III 1996, 308f, 313f; Vos 1997, 157-178, 191-196;
König, in: König 1998, 18-27; Haudry de Soucy, in: ebd., 99-107)
Politisch wurde Chiapas durch staatliche und kirchliche Amtsträger verwaltet,
die ihren Sitz in San Christóbal, in den „Altos“ im zentralen Hochland von
Chiapas, hatten; erst 1892 wurde das im Grijalvatal gelegene Tuxtla die Hauptstadt.
Die wirtschaftliche Macht lag lange Zeit vor allem bei den Großgrundbesitzern
oder „hacenderos“. Deren Besitztümer waren auch in den Altos, vor
allem aber in der Grijalvasenke, an der Pazifikküste in Soconusco oder in den
Tälern von Ocosingo gelegen, wo bis zur Enteignung kirchlichen Grundbesitzes
1856 (über 30% der landwirtschaftlichen Nutzfläche in Chiapas) die Dominikaner
viele Güter hatten. Diese Täler liegen am Rande der „Selva Lacandona“
– ein vielgestaltiges, ehemals völlig bewaldetes Bergland im westlichen
Wassereinzugsgebiet des oberen Río Usumacinta, das von langgestreckten Tälern
durchzogen ist und das sich östlich des Río Usumacinta in Guatemala
fortsetzt. Die chiapanekische Selva Lacandona war im 19. Jh. eine biogeographisch
sehr vielfältige Landschaft und nahezu menschenleer. Es gab nur wenige
kleine Gruppen von Indigenas, darunter die unzutreffend als Lacandonen
bezeichneten Gruppen, die während der Kolonialzeit aus dem Petén zugewandert
waren. Sehr große Gruppen von Indigenas, die meist ebenfalls eine
Mayasprache hatten, lebten und leben vor allem in den Landschaften des Nordens,
des Zentrums und des Südens von Chiapas. Nach ihren Sprachen heißen
sie „Choles“, „Tzeltales“, „Tzotziles“ und „Tojolabales“. Im Westen des Staates
leben nicht-mayasprachige „Zoques“. Einige Siedlungen der Maya, so Zinacantán
in den Altos, gingen auf vorspanische Zeiten zurück, andere, wie
z.B. das heutige Ocosingo, waren durch Umsiedlungsmaßnahmen in der Kolonialzeit
entstanden. (Vos 1996a, 54f, 212-231; Vos 1996b, 38ff; Köhler
2000; Köhler in Hostettler/Restall 2001, 192)
Zu Beginn der Unabhängigkeit verfügten die Comunidades der Indigenas noch
über Selbstverwaltungsrechte. Diese wurden ihnen zwei Jahrzehnte später durch
einen Umbau der Gebietsverwaltung genommen. Die Comunidades verfügten
anfangs auch noch über Ländereien in Gemeinschaftseigentum. Aber die Bodengesetzgebung
des mexikanischen Bundesstaates und vor allem die des
Staats Chiapas wurde in den kommenden Jahrzehnten so gestaltet, daß mehr
und mehr Gemeinschaftsland als brachliegend oder als Niemandsland erklärt
werden konnte. Solche Ländereien wurden zunehmend von Hacenderos aufgekauft,
was durch eine Siedlungsgesetzgebung gefördert wurde, die manche
Indigenas dazu zwang, ihre Dörfer zu verlassen. Andere, die auf ihren Grundstücken
wohnen bleiben und hier ihren Unterhalt erwirtschaften konnten,
mußten dem neuen Eigentümer, dem Hacendero, drei, vier oder fünf Tage in
der Woche unentgeltliche Arbeits- und Dienstleistungen erbringen (sogenannte
Arbeitspacht). Zusammen mit anderen von der Hacienda abhängigen und
auf deren Gebiet siedelnden Indigena-Gruppen erwirtschafteten sie die Agrarprodukte
einer „finca“ bzw. eines „rancho“ (Landgut), die Bestandteile einer
während des 19. Jahrhunderts zunehmend am Export orientierten Landwirtschaft
wurden. Diese wurde teilweise von Ausländern betrieben, so die deutschen
Kaffeeplantagen in Soconusco und in der Region Palenque. Neben dem
Kaffee wurde Zuckerrohr ein wichtiges Produkt, auch die Rindviehhaltung
gewann an Bedeutung. Viele Indigenas gerieten in diese sklavereiähnlichen
Arbeitsverhältnisse der großen Haciendas. Doch gab es auch noch solche, die
weiterhin in ihren Dörfern lebten und ihre Parzellen bearbeiteten. Sie waren
zwar frei, konnten aber auf die Dauer auf ihren Böden ihren Lebensunterhalt
kaum noch bestreiten. (Wasserstrom 1992, 130f, 143; Vos 1997, 160-172;
Zebadúa 1999, 115-123) Der Sklaverei ähnlich waren auch die Arbeits- und
Lebensverhältnisse der indigenen und anderen Holzarbeiter, die seit den
1870er und vor allem 1880er Jahren in den Holzfällerlagern („monterías“) in
der Selva Lacandona schufteten. Diese Verhältnisse sind zuerst durch die kaum
übertriebenen literarischen Schilderungen von B. Traven, die in den 1930er
Jahren erschienen, bekannt geworden. Die Monterias wurden von Holzunternehmen
aus dem Staat Tabasco unter Beteiligung ausländischen Kapitals betrieben,
die Mahagonie- und Zedernbäume fällten und die Stämme exportierten.
(Traven 1983a, b, c; Vos 1996b) Auch Kautschukplantagen wurden hier
angelegt. Diese Ausbeutungen der landwirtschaftlichen Böden und der Wälder,
eine chiapanekische Ausprägung des Neokolonialismus, reichten weit über
das 19. Jahrhundert hinaus.
Das Schicksal der chiapanekischen Maya im 19. und früheren 20. Jh. war unterschiedlich,
je nachdem, wo sie lebten und wie vor Ort die Arbeits- und die
Bodenverfassung beschaffen waren. Im Hochland nördlich von San Christóbal
gab es traditionelle indigene Gemeinschaften, die schon gegen Ende der Kolonialzeit
unter der Kargheit ihrer Böden litten und Landaneignungen seitens
der „ladinos“ (Nicht-Indigenas) hatten hinnehmen müssen (Zinacantán) oder
wegen ihrer abseitigen Lage damals davon verschont geblieben waren (Chamula).
In dieser Situation verdingten sich schon zu jener Zeit viele Zinacanteken
im nahegelegenen Grijalvatal als Knechte („peones“) oder Tagelöhner
(„jornaleros“) auf neu gegründeten Fincas oder wurden dort Teilpächter („a-parceros“) oder Pächter („arrendatarios“), wobei auch Auslegersiedlungen
entstanden. Die Maya von Chamula versuchten dagegen ihren Lebensunterhalt
dadurch aufzubesssern, daß sie neben ihrer traditionellen Landwirtschaft
vermehrt Gartenbau oder Kleinhandel betrieben. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts
wurde die Produktion von Zuckerrohr, aber auch von Baumwolle im
Grijalvatal gesteigert, dehnten sich die Kaffeeplantagen in Palenque und Soconusco
aus und wurden Zinacantán und andere Hochlandorte verstärkt dem
Druck oder der Drohung von Landenteignungen ausgesetzt. Die Mayafamilien
in diesen Orten wurden zu einem Reservoir von Arbeitskräften für jene Regionen
gemacht, wobei die Machthaber in San Christóbal sich am Arbeitsvermittlungsgeschäft
bereicherten. Die Maya in Chamula und anderen Hochlandorten
erlitten infolge der Bodengesetze Mitte des 19. Jh. große Landverluste
und sollten zudem erhöhte Abgaben an die enteignete Kirche zahlen. Hier
kam es Ende 1867 zu einer Auflehnung gegen die Kirche in Form der Einführung
eigener religiöser Kultstätten und -handlungen, die zweieinhalb Jahre
dauerte. Von der Obrigkeit provozierte Gewalttätigkeiten dienten dazu, die
Auflehnung in einen Aufstand von Barbaren gegen die Zivilisation umzudeuten.
Sie wurde durch den Staat blutig niedergeschlagen. Diese Auflehnung
wird als Wiedergewinnung einer eigenen Kultur und eines Wir-Bewußtseins
der Maya von Chamula gedeutet werden können.
Gegen Ende des 19. und im 20. Jahrhundert konnten einige Indigenas in Hochlandorten,
so in Chamula und Zinacantán, die wirtschaftsliberalen Bereicherungsmöglichkeiten
der neokolonialen Gesellschaftsordnung für sich nutzen,
so daß ein markanter Gegensatz von Armut und Reichtum und von politischer
Macht und Ohnmacht innerhalb der Gemeinden entstand und sich in politischreligiösen
Hierarchien ausprägte. Diese dienten u.a. auch als Schutz gegen staatliche
Eingriffe in das kommunale Leben. Solche Hierarchien haben sich bis in
die Gegenwart erhalten, und ihre Praktiken haben verschiedentlich extrem repressive
Akte gegen Nonkonformisten, wie Gefangensetzungen und Vertreibungen,
eingeschlossen. (Tejera 1991; Wasserstrom 1992, 108-128, 133-186,
244-249, 281, 287; Vos 1997, 171-182; Köhler, in: Hostettler/Restall 2001, 191-
200) – Am Rande der Selva Lacandona waren schon während der Kolonialzeit
Haciendas angelegt worden, und hier bildete sich im Lauf des 19. Jh. ein „Finca-
Streifen“ aus, der von Palenque über Ocosingo bis Comitán reichte. Die
Fincas, hier und anderswo, betrieben zunächst traditionelle Mischwirtschaft
(Pflanzenanbau und Viehhaltung), entwickelten sich aber vielfach, insbesondere
im frühen 20. Jh., zu spezialisierten Landgütern, so zu nahezu reinen Viehwirtschaften
oder Kaffeepflanzungen. Viele Indigenas, die fast wie Sklaven
als Knechte, Tagelöhner und Arbeitspächter auf diesen Gütern gelebt hatten,
wurden nun überflüssig. Nachdem sich zuvor manche Indigenas diesen Arbeitsbedingungen
durch Flucht entzogen hatten, wurden nun viele zwangsweise
freigesetzt. Viele der ehemaligen Fincaarbeiter zogen in die Selva und suchten
dort eine neue Lebensgrundlage. So wurde insbesondere der Finca-Streifen
am Rande der Selva seit Ende der 1930er Jahre zu einer „zona de expulsión“
von Landarbeitern, die in die Wälder Lacandoniens eindrangen, zuweilen mit Hilfe der Holzarbeiter, die es dort noch gab. Die Einwanderung in die
Selva Lacandona und deren Besiedlung verstärkten sich in den folgenden Jahrzehnten
– nicht zuletzt auch infolge eines starken Bevölkerungswachstums.
Viele Indigenas, aber auch landlose Ladinos, aus dem übrigen Chiapas sowie
anderen Staaten Méxicos, wanderten ein. Die Comunidades, die so entstanden,
waren daher der Herkunft, Sprache und Religion ihrer Mitglieder nach mehr oder
minder heterogen und somit soziokulturell divers. Seit Anfang der 1980er
Jahre kamen zu dieser einheimischen Bevölkerung Zuzüge von Flüchtlingen aus
Guatemala, von denen ein Teil bis heute in der Selva verblieb. (Vos 2002, 25f,
138-180, 287-321; vgl. Leyva/Ascencio 1996, 40-94, 96-103, 127-147, 171f)
Im Gefolge der mexikanischen Revolution, die Chiapas zunächst wenig berührt
hatte, kamen seit den 1930er Jahren auch in diesem Staat wichtige politische
und wirtschaftliche Entwicklungen in Gang. So wurde in der Absicht, nationale
Ressourcen einheimisch zu nutzen, 1949 der Export des Rundholzes
von Edelhölzern verboten, was der Aktivität der holzexportierenden Unternehmen
in der Selva ein Ende setzte und vielfach zur Enteignung ihrer dortigen
Ländereien führte. Unter der Präsidentschaft von Lázaro Cárdenas (1934-
1940) wurde eine integrationistische Politik der Zuteilung von Ejidoland an
Indigenas betrieben, die auch in Chiapas zögerlich, aber in großem Umfang
erfolgte. So wurde der Anteil der Haciendas und überhaupt des Großgrundbesitzes
an der land- und forstwirtschaftlichen Fläche stark verringert, und viele
Indigenas, so auch viele Einwanderer in die Selva, erhielten Ejidoparzellen,
wenn auch oft in sehr langwierigen Verfahren. Als eine Maßnahme im Rahmen
dieser Politik galt auch die populistische Entscheidung des mexikanischen
Präsidenten Echeverría, den Familien der Lacandonen, die in drei kleinen
Dörfern in der Selva lebten, mit umstrittenen gesetzlichen Mitteln 1972 das
Eigentum an einem über 600.000 ha großen Gebiet im Südosten der Selva zuzusprechen.
Diese Maßnahme wurde bald darauf durch die Einrichtung eines
Biosphärenreservats ergänzt, das großenteils innerhalb dieses Gebiets der Lacandonen
liegt. Das geschah ohne Rücksichtnahme auf die Indigena-Familien,
die hier schon eingewandert waren, seit längerem siedelten und z.T. bereits
über Ejidotitel verfügten. So führte diese Politik zu schweren Konflikten zwischen
den wenigen Lacandonen mit riesigem Landbesitz und den vielen Indigena-
Siedlungen mit sehr geringen Landressourcen – Konflikte, die teilweise
geschlichtet wurden und teilweise bis heute andauern. Die seit Ende der 1930er
Jahre eingewanderten Indigenas und armen Ladinos passten sich oft den gesamtwirtschaftlichen
Entwicklungen an und pflanzten nicht nur Mais und
Bohnen, sondern betrieben auch Viehwirtschaft und Kaffeepflanzungen. Indem
sie für den Vertrieb des Kaffees und der Jungtiere auf große Handelsunternehmen
und Mastbetriebe angewiesen waren, gerieten sie gegen Ende des
20. Jh. in neue ökonomische Abhängigkeiten. Der Schutz der noch verbliebenen,
verhältnismäßig intakten Kernlandschaften der Selva Lacandona ist äußerst
unsicher. Konkrete Gefahren zeichnen sich u.a. ab in den Explorationen
der Erdölwirtschaft im Norden und Südosten der Selva Lacandona, in den Planungen
riesiger hydroelektrischer Projekte am Río Usumacinta sowie in den
Bauvorhaben zur infrastrukturellen Erschließung, welche für die Realisierung
jener Projekte nötig wären – alles dies Vorhaben, die Komponenten des internationalen
Plans Puebla- Panama (PPP) sind. (Leyva/Ascencio 1996, 40-94, 127-
147, 148-173; Vos 1996b, 258-261; Vos 2002, 109-131, 148-173; PPP 2002)
Die verschiedenen Interessen der Neusiedler in der Selva in der zweiten Hälfte
des 20. Jahrhunderts, die vielfach konfligieren, wurden und werden durch
von ihnen selbst gegründete Bauernorganisationen, durch die der Befreiungstheologie
verpflichtete chiapanekische Kirche und durch politische Bewegungen
vertreten, unter denen die EZLN – Sprachrohr vieler, aber keineswegs aller
Indigenas – hervorzuheben ist. Diese Bewegung, die sich mit ihrem Namen
auf den Bauernführer der mexikanischen Revolution Emiliano Zapata beruft,
geht auf eine Gruppe mexikanischer Intellektueller zurück, die Ende der
1960er und Anfang der 1970er Jahre in der Selva ein politisches Wirkungsfeld
suchte. Die Gruppe wurde durch das mexikanische Militär weitgehend
aufgerieben. Im Gedenken an einen der getöteten Guerrilleros trägt der heutige
Außenvertreter der EZLN, Subcomandante Marcos, dessen Namen, wobei
der militärische Titel ironisch gemeint ist. In den 1970er Jahren entwickelte
sich in einigen neu gegründeten Comunidades der Selva, die sich durch die
Territorial- und Reservatspolitik des Staates bedroht sahen, mit Unterstützung
von Indigenas aus dem Hochland die Idee einer bewaffneten Gegenwehr. Aus
all dem ging 1983 eine Guerrillagruppe aus Indigenas und Ladinos hervor.
Diese entwickelte sich in zumindest zeitweiligem Austausch mit Kirchenleuten
und Bauernvertretern bis 1993 in den Altos, vor allem aber in der Selva als
eine geheime militärische Widerstandsorganisation von Männern und Frauen.
Seit der Besetzung einer Reihe von Hauptorten in Chiapas in der Nacht zum
1. Januar 1994 durch EZLN-Truppen, die zeitgleich mit dem Inkrafttreten des
Freihandelsabkommens zwischen México, USA und Canada erfolgte, wird die
Forderung öffentlich vorgetragen, die „pueblos indígenas“ (indigene Völker/Gemeinwesen)
als rechtlich autonome Kollektive und Elemente einer plurikulturellen
mexikanischen Gesellschaft anzuerkennen. Nach ersten Versuchen, die
EZLN militärisch niederzuschlagen, ließ sich die mexikanische Regierung auf
politische Verhandlungen ein, die 1996 in den Abkommen von San Andrés
Larráinzar mündeten, die ein verfassungsänderndes Gesetzgebungsprogramm
für eine „Ley Indígena“ enthielten. Im übrigen war die Zeit von 1994 bis zur
zweiten Jahrtausendwende einerseits durch Mobilisierungen demokratischer
Öffentlichkeiten, andererseits durch militärische Auseinandersetzungen niedriger
bis mittlerer Intensität zwischen mexikanischem Staat, praramilitärischen
Gruppen und EZLN gekennzeichnet. Die EZLN und ihr politischer
„Frente“-Arm, FZLN, festigten in dieser Zeit, der militärischen Repression
seitens der Regierung zum Trotz, ihre Präsenz in Gebieten der Selva und der
Altos. (Topitas 1994; Díaz-Polanco, in: González/Roitman 1996, 169-175;
Vázquez 2000; Vos 2002, 213-243, 245-285, 323-390; López 2002, 78-90)
Die Hauptinhalte der zapatistischen Forderungen bewegen sich im Rahmen
der allgemeinen Forderung nach Anerkennung autonomer Pueblos indígenas,
die sich auf Bestimmungen der Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation stützt. In ökonomischer Hinsicht werden für die Gesamtheit des
Lebensraumes eines Pueblo („totalidad del hábitat“) indigene Gemeineigentumsrechte
am Boden einschließlich der Bodenschätze gefordert. Des weiteren
werden Erziehungs- und Bildungsmaßnahmen gefordert, welche die Interessen
der Frauen in Sachen Sexualität, Reproduktion und Gesundheit respektieren
und der Gewalt in der Familie entgegenwirken. In politischer Hinsicht
sind die Hauptforderungen die Anerkennung der Comunidades indígenas als
Körperschaften öffentlichen Rechts und ihres Selbstbestimmungsrechts sowie
die Bildung autonomer Munizipien und Regionen. Diesen Forderungen stehen
gesellschaftliche Gewaltverhältnisse entgegen, insbesondere die Dominanz
transnationaler und nationaler Konzerne mit ihren Ressourceninteressen in der
mexikanischen Wirtschaft, die herrschenden patriachal-familialen Gewaltverhältnisse
in der Gesamtgesellschaft und bei Indigenas selber sowie die mexikanische
Staatsgewalt mit ihren nationalstaatlichen Souveränitätsansprüchen.
Diese Forderungen enthalten auch in rechtlicher Sicht nicht unbedeutende Probleme.
Die Hauptschwierigkeit ist, daß der Begriff „pueblo indígena“ nicht territorial
definiert, dieses selbst aber mit territorialen Rechten ausgestattet sein
soll. Eine kulturelle Definition dieses Pueblo ist aber theoretisch wie praktisch
schwierig, vor allem in Chiapas wegen der Heterogenität der Gemeinwesen
und Gruppen. Sowohl diese rechtlichen Schwierigkeiten als auch – und vor allem
– die gegebenen Gewaltverhältnisse und Ressourceninteressen haben verhindert,
daß die Inhalte des Gesetzesprogramms von San Andrés ohne wesentliche
Abstriche in die Ley Indígena aufgenommen wurden, deren endgültige
Fassung 2002 höchstrichterlich bekräftigt wurde. (Tobler, in: Bernecker III
1996, 346ff; Sánchez in González/Roitman 1996, 93-123; Haudry de Soucy in
König 1998, 99ff; Carlsen 1999, 45-48; López 2002)
Die zapatistische Forderung nach Selbstbestimmung der Bewohner der Selva
Lacandona über ihre Lebensräume wird in einer Situation erhoben, in der die
Selva-Bevölkerung auch ohne weitere Zuwanderungen wächst und die von ihr
bewirtschafteten Böden bereits übernutzt sind und nicht mehr vermehrt werden
können, wenn die gesamte ursprüngliche Lebewelt der Selva nicht schwer
beschädigt oder zerstört werden soll. Die selbstbestimmten Indigena-Gemeinwesen
müßten Lösungen für ein Problem finden, für das es kaum eine Lösung
gibt. Die Menschen in der Selva scheinen am Beginn einer Sackgasse, einer
„callejón sin salida“ zu stehen und sich in naher Zukunft nicht mehr reproduzieren
zu können. Das zapatistische Programm muß daher, was auch ansatzweise
geschieht, Vorstellungen über eine nachhaltige Bewirtschaftung der bereits
genutzten Gebiete in der Selva (ebenso wie in den Altos) aufnehmen, Vorstellungen,
welche nicht ohne gesamtgesellschaftliche Unterstützung verwirklicht
werden können. Diese Notwendigkeiten haben vermutlich das Engagement
der EZLN für eine Demokratisierung und Dezentralisierung der politischen
Ordnung Mexikos verstärkt. (Leyva/Ascencio 1996, 178; vgl. Vos 2002, 175-180)
Die maya-sprachigen Idigenas, die, zusammen mit anderen Indigenas und armen
Ladinos, heute in der Selva Lacandona von Chiapas siedeln, leben meist
in Comunidades von großer soziokultureller Diversität. Diese versuchen, wenngleich sie oft durch starke innere Spannungen gekennzeichnet sind, sich trotz
des Landmangels und der Bodenarmut am Leben zu erhalten sowie gegen die
Angriffe der Staatsgewalt zu wehren. Es gibt auch Versuche, herkömmliche
patriarchale Gewalt einzudämmen. In solchen gemeinsamen Anstrengungen
der Mitglieder dieser Siedlungsgemeinschaften wirkt ein Wir-Bewußtsein und
entsteht aus einer Diversität kultureller, darunter religiöser und sprachlicher,
Elemente eine gemeinsame Kultur. In ihr wirken kulturelle Traditionen aus
den alten Maya-Gesellschaften auf vielfache Weise gebrochen nach, ohne daß
von irgendeiner historisch begründeten Identität dieser Comunidades gesprochen
werden könnte. Eine Verwirklichung des zapatistischen Ziels „autonome
Pueblos“ und die Durchsetzung der damit verbundenen politischen, wirtschaftlichen
und sozialen Forderungern der EZLN aber ist nicht in Sicht.
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* Prof. Dr. Margarete Tjaden Steinhauer, Kassel, Sozialwissenschaftlerin
Prof. Dr. Karl Hermann Tjaden, Kassel, Sozialwissenschaftler
Dieser Beitrag erschien in: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 55, September 2003
Die Zeitschrift Z erscheint vier Mal im Jahr und ist zu beziehen bei:
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