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Keiner vertraut keinem

Reportagen über Mexikos durch den »Drogenkrieg« traumatisierte Bevölkerung

Von Wolf-Dieter Vogel *

Die Journalistin Jeanette Erazo Heufelder widmet sich in ihrem Buch »Drogenkorridor Mexiko« in Reportageform den Hintergründen des Drogenhandels und Drogenkrieges.

Wenn heute von Mexiko die Rede ist, geht es meist um grausame Leichenfunde, um Massaker und Massengräber. Das Land ist zum Synonym geworden für ein Gewaltniveau, das niemand wirklich nachvollziehen kann. Von 50 000 Toten seit 2006 ist die Rede, von 230 000 Vertriebenen - unglaubliche Zahlen, hinter denen die sozialen Verhältnisse verschwinden, in denen der »Drogenkrieg« zwischen den Killern der Kartelle, Polizisten und Soldaten stattfindet

Kaum ein Bericht kann vermitteln, was in den Mikrokosmen der mexikanischen Gesellschaft passiert: Wie leben die Menschen in den Gemeinden, die von der Mafia kontrolliert werden? Warum protestiert keiner, wenn in Bussen Balladen gespielt werden, die Massenmörder wie den Chef des Sinaloa-Kartells Joaquín »Chapo« Guzmán huldigen?

Jeanette Erazo Heufelder hat sich diesen Fragen gestellt. Die Autorin und Ethnologin ist in jene Orte des mexikanischen Nordens gereist, in denen die Kartelle schon lange regieren: nach Culiacán, Badiraguato, Ciudad Juárez. Es sind die Hot Spots des »Narco«, in denen Kleinbauern seit Jahrzehnten Marihuana und Opium anbauen oder Jugendliche für ein paar Pesos die illegale Ware in die USA schmuggeln. »Drogenkorridor Mexiko« nennt Erazo Heufelder deshalb ihr Buch. Sie beschreibt, wie skrupellose Kriminelle, korrupte Beamte und die Kultur der Mafia den Alltag der Menschen komplett durchdringen. Die spannend aufgeschriebenen Reportagen zeichnen ein Bild der ständigen Angst und Unsicherheit, in der die mexikanische Gesellschaft gefangen ist. Keiner vertraut keinem. In einem Land, in dem ein erheblicher Teil der Polizisten für die Kartelle arbeitet, zerbricht jede Norm, die richtiges von falschem Handeln unterscheiden könnte. Wer würde einen Mord anzeigen, wenn der zuständige Beamte für jene tätig sein könnte, die die Tat zu verantworten haben, fragt Erazo Heufelder. »Von allen Problemen, die es hier im Ort gäbe, sei die Polizei das größte«, zitiert sie ein Gespräch mit einer Ticketverkäuferin.

Erazo Heufelder besucht die Kultstätten der Narcos, zum Beispiel die fulminanten Gräber, die sich die Drogenbosse schon zu Lebzeiten erstellen lassen. Und sie beschreibt das Ansehen, das diese bei manchem Jugendlichen genießen. Dennoch verfällt sie nicht in eine Sozialromantik, die versucht, die Herrschaft der Mafia zu verklären, etwa, weil die Kriminellen gelegentlich Kindergärten, Schulen oder Straßen finanzieren. Sie verweist auf einen Satz, den sie immer wieder gehört habe: »Wir müssen mit den Narcos paktieren, damit sie uns wenigstens das Leben lassen«. Andere greifen zur Selbstjustiz. »Gebt uns Waffen«, zitiert sie einen Dorfbewohner, »denn die Politik verteidigt uns nicht.«

Die Autorin schreibt über eine traumatisierte Bevölkerung, über Kinder, deren Berufsziel es ist, einmal wie Chapo Guzmán zu werden. Doch sie trifft auch Menschen, die Wege suchen, um die Verhältnisse zu ändern: Pfarrer, Anwälte, Aktivisten. Zum Beispiel Julian Lebaron. Seit einer seiner Brüder entführt und ein anderer ermordet wurde, kämpft der 36-Jährige für die Aufklärung der Verbrechen. »Es waren die üblichen Verdächtigen aus der Gegend. Allerorts bekannte Handlanger der Narcos.« Die Täter sind bis heute auf freiem Fuß. Lebaron ist trotzdem optimistisch. »Die Mexikaner haben die politische Klasse abgeschrieben«, sagt er. »Vielleicht ist jetzt die Zeit reif für eine echte Zivilgesellschaft.«

Jeanette Erazo Heufelder: »Drogenkorridor Mexiko«. Transit Verlag, Berlin 2011, 240 Seiten, 19,80 Euro

* Aus: neues deutschland, 1. November 2011


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