Mexikos Regierung fürchtet Volksvotum
Präsident Calderón will Initiative der Opposition in Sachen Ölindustrie ignorieren
Von Gerold Schmidt, Mexiko-Stadt *
Die Partei der Demokratischen Revolution (PRD) fordert mit einer Volksbefragung über die Zukunft
des staatlichen Ölkonzerns Pemex und der mexikanischen Erdölindustrie die Regierung von Felipe
Calderón heraus.
Marcelo Ebrard wusste genau um den Effekt seiner Initiative. Ende Mai kündigte der oppositionelle
Bürgermeister von Mexiko-Stadt, Mitglied der gemäßigt linken Partei der Demokratischen Revolution
(PRD), eine Volksbefragung über die Zukunft des staatlichen Ölkonzerns Pemex und der
mexikanischen Erdölindustrie an. Seitdem gibt es zum Teil wütende und zunehmend nervöse
Reaktionen der konservativen Zentralregierung unter Präsident Felipe Calderón und der regierenden
Partei der Nationalen Aktion (PAN). Ebrard und die PRD strebten »Chaos und Gewalt« an, klagte
der PAN-Vorsitzende Germán Martínez. Der Vorstoß sei verfassungswidrig, heißt es aus dem
Innenministerium. Und der von der Regierung eingesetzte Pemex-Direktor erklärt, das Thema sei zu
kompliziert, als dass die Bevölkerung darüber eine Meinung abgeben könne.
Hintergrund des heftigen Echos: In der seit Monaten andauernden öffentlichen Debatte um eine
weitere Öffnung der mexikanischen Erdölindustrie gegenüber dem Privatkapital gerät die Regierung
derzeit zunehmend in die Defensive.
Im Frühjahr brachte Präsident Calderón eine im Stillen vorbereitete Energiereform im Parlament ein,
die von seinen Gegnern als »verschleierte Privatisierung« von Pemex und der nationalen
Erdölvorkommen interpretiert wird. Der Präsident setzte offenbar darauf, die Reform ohne größere
Verzögerung zusammen mit der Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI), der zweiten großen
Oppositionspartei, auf deren Stimmen er angewiesen ist, durchzuziehen. Durch eine wochenlange
Besetzung der Tribünen in Senat und Abgeordnetenhaus erreichte die PRD jedoch das
Zugeständnis einer zweimonatigen öffentlichen Diskussion und einer Expertenanhörung im
Parlament.
Diese begann Mitte Mai. Dabei gelang es dem Regierungslager bisher nicht, mehr Anhänger für ihre
Privatisierungsreformen zu gewinnen. Im Gegenteil: Auch in der PRI mehren sich Stimmen, die auf
Distanz zum Entwurf des Präsidenten zu gehen. Angesichts von Erdöleinnahmen, die derzeit mehr
als das Doppelte der im Staatshaushalt dafür angesetzten Summe betragen, bekommt zudem das
Argument der PRD-Opposition, der zweifellos marode Staatskonzern Pemex könne aus eigener
Kraft saniert werden, verstärktes Gewicht.
Auch für den Bau neuer Raffinerien und teure, technisch aufwendige Hochseebohrungen brauche
man keine Kapazitäten der Privatwirtschaft, argumentieren die Gegner von Präsident Calderón.
Die Bevölkerung interessiert sich, wie von der PRD beabsichtigt, in zunehmendem Maße für die
Diskussion. Nach wie vor ist die 1938 verstaatlichte Erdölindustrie für die Mehrheit der Mexikaner ein
Symbol nationaler Souveränität, das in seinen Grundfesten nicht angerührt werden darf.
Die Nervosität in der PAN forderte ein erstes politisches Opfer. Vor einer Woche zwang die
Parteiführung den Vorsitzenden ihrer Senatsfraktion zum Rücktritt. Unter anderem hieß es, dieser
habe die PAN-Positionen zur Energiereform nicht ausreichend in der Öffentlichkeit darstellen
können. Unterdessen geht die Vorbereitung der für den 27. Juli vorgesehenen Volksbefragung
weiter. Die PRD will sie nicht nur auf ihre Hauptstadt-Bastion beschränken, sondern zumindest auf
alle von ihr regierten Kommunen im ganzen Land ausdehnen. In einigen mexikanischen
Bundesstaaten könnte sie dabei auch mit PRI-Regierungen zusammenarbeiten. Damit gewinnt der
Vorschlag von Bürgermeister Ebrard an Dynamik. Formalrechtlich ohne Bedeutung, könnte die
Befragung am Ende mitentscheidend dafür sein, die Regierung zumindest zu einem
vorübergehenden Rückzug bei ihren Privatisierungsbestrebungen zu zwingen.
* Aus: Neues Deutschland, 17. Juni 2008
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