"Der Sturz des Tyrannen bleibt auf der Tagesordnung"
Ein Jahr nach dem Aufstand im südmexikanischen Bundesstaat Oaxaca ist die Opposition noch lange nicht am Ende
Der mexikanische Bundesstaat Oaxaca machte vor einem Jahr Schlagzeilen, als sich die Bevölkerung gegen das Regime des Gouverneurs Ulises Ruiz erhob. Den Beginn machte die Lehrergewerkschaft mit einem Streik. Ruiz ist heute noch im Amt. Die Lehrer streiken wieder. Kein Problem ist gelöst.
Im Folgenden erinnern wir mit der Dokumentation eines Artikels und eines Interviews an die nach wie vor angespannte Situation im südlichen Mexiko.
Oaxaca: Kessel unter Druck
Ein Jahr nach dem Aufstand im mexikanischen Bundesstaat: Lehrer streiken wieder
Von Gerold Schmidt (npl), Mexiko-Stadt *
Vor genau einem Jahr begann im südmexikanischen Bundesstaat Oaxaca mit einem breit angelegten Streik der örtlichen Lehrergewerkschaft für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen der Aufstand gegen die Willkürherrschaft des Gouverneurs Ulises Ruiz. Mit Unterstützung der Zentralregierung ist der Gouverneur nach wie vor im Amt, und im Innenministerium in Mexiko-Stadt wird der soziale Konflikt inzwischen trotz zahlreicher unaufgeklärter Morde an Mitgliedern der außerparlamentarischen Oppositionsbewegung und immer noch mehr als 40 inhaftierten Gegnern von Ruiz als »gelöst« angesehen. Nicht wenige verweigern sich dieser Sichtweise jedoch.
Ein Indiz sind die permanenten kleinen Proteste der Volksversammlung der Bevölkerung Oaxacas (APPO). Diese Aktionen haben nach dem massiven Einsatz von mehr als 4500 Bundespolizisten im Oktober und November 2006 die früheren Großdemonstrationen und Barrikadenbauten in der gleichnamigen Hauptstadt des Bundesstaates abgelöst. Die APPO hatte sich kurz nach Beginn des Lehrerstreiks gegründet, als der Gouverneur mit Gewalt gegen die Proteste der Pädagogen vorging. Innerhalb weniger Wochen entstand ein Zusammenschluß von etwa 350 linken und indigenen Organisationen, der über Monate eine Art Parallelregierung bildete. Die Grundstruktur der APPO ist intakt geblieben. Über ein mehrstufiges System von »Volksversammlungen« reicht ihr Einfluß nach wie vor auch in entlegene Gemeinden.
Gleichzeitig scheint sich die Lehrergewerkschaft wieder zu radikalisieren. Die von der regierungsnahen Führung der Dachgewerkschaft geförderte Gründung einer Konkurrenzorganisation im Bundesstaat hatte die Lehrerbewegung vorübergehend ebenso geschwächt wie der Rückzug ihres örtlichen Vorsitzenden. Nun gibt sie sich wieder kämpferisch. Am vergangenen Wochenende beschloß sie, wie im Vorjahr eines der wichtigsten von Oaxacas Regierung veranstalteten »Volksfeste« zu boykottieren und eine Gegenveranstaltung zu organisieren. Im Rahmen landesweiter Proteste gegen die jüngst verabschiedete Reform des Sozialversicherungsgesetzes für die Staatsbeschäftigten befindet sich seit Montag ein Zehntel der Lehrer Oaxacas im Ausstand.
Gouverneur Ruiz gibt unterdessen seit Monaten viel Geld für eine Imagekampagne in den Medien aus. Nicht erwähnt werden dabei die über 20 Toten, die in den vergangenen zwölf Monaten von mit Ruiz' Regierung in enge Verbindung gebrachten paramilitärischen Kommandos umgebracht wurden. Der Gouverneur gibt sich ganz zukunftsgewandt. Er arbeitet gezielt auf die Abgeordnetenwahlen in Oxaca im August und die Kommunalwahlen im Oktober hin. Ein desaströses Ergebnis könnte ihn politisch doch noch den Kopf kosten. Da die parteipolitisch organisierte Opposition aber schwach und in Teilen vereinnahmt worden ist, kann er sich berechtigte Hoffnungen machen.
Was sich abseits der Parteipolitik in Oaxaca ergeben wird, ist schwer vorherzusehen. Der in Oaxaca lebende Intellektuelle Gustavo Esteva verglich die Situation jüngst mit einem unter hohem Druck stehenden Schnellkochtopf, der jederzeit wieder explodieren könne. Die Erfahrungen des vergangenen Jahres hätten sich im Alltag vieler Menschen auf eine Weise niedergeschlagen, daß sie nie wieder zur vorherigen »Normalität« zurück kehren würden. Andererseits hat die Zentralregierung Anfang dieses Monats gezeigt, wie sie auf regionale Proteste mit überregionalem Potential zu reagieren bereit ist. So verurteilte ein Richter Mitglieder einer militanten Bauernorganisation aus dem Bundesstaat Mexiko zu 67 Jahren Haft wegen »Entführung«, weil sie vor über einem Jahr staatliche Funktionäre mehrere Stunden festgehalten hatten.
* Aus: junge Welt, 22. Mai 2007
In Oaxaca ist die Angst besiegt
Gespräch mit Menschenrechtlern über die Lage in dem mexikanischen Krisenstaat **
Vor einem Jahr machten der Widerstand gegen den korrupten Gouverneur des mexikanischen Bundesstaates Oaxaca und die brutalen Repressalien gegen die Bevölkerung Schlagzeilen. Über die heutige Situation sprach mit Sara Méndez, Koordinatorin des Menschenrechtsnetzwerkes RODH, und Alejandro Cruz López, Mitbegründer der indianischen Basisorgansation zur Verteidigung der Menschenrechte OIDHO, ND-Mitarbeiter Albert Sterr.
ND: Hat die autoritär-neoliberale Regierung unter Felipe Calderón ihr Ziel erreicht, die Rebellion niederzuschlagen?
Méndez: Die Lage in Oaxaca ist nur scheinbar ruhig. Die Touristen sind zurückgekehrt, und es mag für sie so aussehen, als sitze der Gouverneur Ulises Ruiz wieder fest im Sattel, nachdem die Armee im vergangenen November mit einem massiven Militäreinsatz die Kontrolle übernommen hatte. Es folgte eine der schlimmsten Repressionswellen in der Geschichte Mexikos mit illegalen Massenverhaftungen, Misshandlungen und Folter, Verschwindenlassen und politischen Morden. Zur Zeit sind noch 33 Personen aus der Oppositionsbewegung im Gefängnis, davon mehrere in weit entfernten Regionen. Dort sind sie zusammen mit den schlimmsten Verbrechern des Landes in Hochsicherheitsgefängnissen inhaftiert.
Dank dessen Paktes mit dem Präsidenten konnte der Gouverneur sich halten. Ist die Massenbewegung auch mit ihrer Forderung nach Freilassung der politischen Gefangenen gescheitert?
Méndez: Nein. Ursprünglich waren über 350 Personen willkürlich verhaftet worden. Viele wurden misshandelt. Grundlegende juristische Rechte wurden ihnen nicht gewährt. Durch unsere Mobilisierung und die Intervention nationaler und internationaler Organisationen wurde nach und nach ihre vorläufige Freilassung erreicht.
Was heißt vorläufig?
Cruz López: Sie wurden gegen Kaution auf freien Fuß gesetzt. Die Verfahren sind noch nicht abgeschlossen. Die Lage ist kurios: Die Entlassung war, legt man rechtsstaatliche Kriterien an, genauso illegal, wie es die Inhaftierung gewesen ist. Die Regierung hält sich nicht einmal an die eigenen Gesetze. Gleichzeitig bezahlte sie in vielen Fällen die vom Gericht festgesetzte Kaution, weil die politischen Häftlinge die nötige Summe nicht aufbringen konnten. Dass der Gouverneur dies tut, zeigt, dass er weiterhin unter dem Druck der Massenbewegung steht. Wenn eine soziale Bewegung wie unsere über eine reale soziale Verankerung verfügt, dann kann sie auch mit der Regierung verhandeln, Paragraphen hin oder her.
Sind denn grundlegende Menschenrechte Verhandlungsmasse?
Méndez: Auf keinen Fall. Wir kämpfen als Menschenrechtsnetzwerk RODH dafür, die Fälle genauestens zu dokumentieren, juristisch zu überprüfen und für Anklagen auf internationaler Ebene vorzubereiten. Nur so können wir rechtsstaatliche Verfahrensweisen stärken.
Cruz López: Natürlich sind Menschenrechte nicht verhandlerbar. Aber was tun, wenn die Regierenden permanent außerhalb der Legalität agieren? Oaxaca ist zu 70 Prozent von Indígenas geprägt, ebenso die Oppositionsbewegung, die jetzt in der »Volksversammlung Oaxacas« (APPO) gebündelt ist. Ich selbst bin Zapoteke, war drei Mal im Gefängnis und wurde gefoltert. Auf meine Familie wurde im Sommer 2006 ein Brandanschlag verübt, ich erhielt monatelang Todesdrohungen. Wie haben wir Indígenas die jahrhundertelange Repression überstanden? Wir haben mit den Mächtigen häufig über ungerechtfertigte Strafen verhandelt. Wenn der Kazike willkürlich eine Strafe von 100 Stockschlägen verfügte, dann haben wir verlangt, dass wir nur 50 bekamen. So haben wir überlebt.
Am Beispiel der Antirepressionsarbeit deutet sich ein unterschiedliches Selbstverständnis an.
Méndez: Wenngleich unsere Ansichten verschieden sein können, so sehen wir sie in unserer Praxis doch nicht als Widerspruch, sondern als Ergänzung. Als Bewegung sagen wir: Jeder Tropfen zählt, kein Fünkchen Kraft darf vergeudet werden.
Was sind derzeit ihre größten Probleme?
Cruz López: Es gibt eine Strategie, die sozialen Bewegungen zu schwächen. Dabei spielt die Kriminalisierung etwa der APPO oder der Lehrergewerkschaft eine wichtige Rolle. Außerdem kann man von einem Medienkrieg sprechen. Die Massenmedien variieren zwei Hauptvorwürfe: Sie bringen unsere Bewegung mit Kriminellen in Verbindung sowie mit einer angeblichen Stadtguerilla. Beides, um ein Klima des Terrors und der Einschüchterung zu erzeugen.
Ist diese Strategie erfolgreich?
Méndez: Nach einigen Wochen des Rückzugs und nach dem Abtauchen vieler Aktivisten konnten wir die Straße wieder zurückerobern. Nach kleineren Aktionen und Demonstrationen in den letzten Monaten kam es am 1. und 2. Mai wieder zu einer Massenmobilisierung. So demonstrierten am Maifeiertag 100 000 Menschen in Oaxaca. Erneut wurden Dutzende öffentliche Einrichtungen besetzt, wenn auch nur vorübergehend. Die Angst wurde besiegt.
Cruz López: Die Radiostation der Universität wurde erneut besetzt. Die regionale Sektion der Lehrergewerkschaft beteiligt sich im Rahmen einer mexikoweiten Mobilisierung mit einem zweitägigen Ausstand an Aktionen gegen die Privatisierung der Sozialversicherung. Demnächst gibt es eine Urabstimmung zu einem erneuten unbefristeten Lehrerstreik in Oaxaca. Der Sturz des Tyrannen bleibt auf der Tagesordnung.
** Aus: Neues Deutschland, 23. Mai 2007
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