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Opfer der NAFTA

Mexiko erlebt "schlimmste Krise seit 60 Jahren". Extreme Abhängigkeit von US-Wirtschaft verschärft ökonomisches Desaster

Von Raoul Rigault *

Kurz nach seinem Amtsantritt im Dezember 2006 hatte Mexikos Präsident Felipe Calderón von der konservativen Partei der Nationalen Aktion (PAN) vollmundig versprochen, bis zum Jahr 2050 werde sein Land zu den fünf größten Wirtschaftsnationen der Welt gehören. In seinem letzten Rechenschaftsbericht mußte er zähneknirschend eingestehen: »Die Bürger sind nicht zufrieden.« Tatsächlich billigen laut einer am 1. Dezember veröffentlichten Umfrage der PAN-nahen Tageszeitung Reforma nur noch 52 Prozent der Mexikaner die Arbeit ihres Staatschefs. Vor drei Monaten waren es noch 68 Prozent. Der Grund dafür liegt neben der aufgrund der ungebrochenen Macht der Drogenkartelle katastrophalen Sicherheitslage vor allem im ökonomischen Bereich.

Lateinamerikas zweitgrößte Volkswirtschaft schrumpfte in den vergangenen zwölf Monaten um fast zehn Prozent. Auf dem übrigen Subkontinent liegt das Minus im Schnitt nur bei 1,9 Prozent. Ursache ist die enorme Abhängigkeit Mexikos vom großen Nachbarn USA. Dorthin gingen im vergangenen Jahr 80 Prozent aller Exporte. Besonders betroffen von der Rezession waren Schlüsselsektoren wie Automobilindustrie und Tourismus. Doch auch die Transport- und Logistikbranche sowie die Bauindustrie erwischte es hart. Der Vorzeigekonzern Cemex, mit 57000 Beschäftigten weltweit drittgrößter Zementhersteller und Branchenführer in der Produktion von Beton, Kies und Asphalt, konnte nach der Übernahme des australischen Konkurrenten Rinker Anfang September nur mit Mühe vor der Pleite bewahrt werden. Noch immer drücken ihn, bei einem Umsatz von 7,8 Milliarden Dollar im ersten Halbjahr, Nettofinanzschulden von 18,3 Milliarden Dollar.

Obendrein werden die Überweisungen der Arbeitsemigranten in diesem Jahr voraussichtlich um 16 Prozent auf 21,1 Milliarden Dollar sinken. Sie sind traditionell die zweitwichtigste Devisenquelle. Auch vom Erdöl ist keine Rettung zu erwarten, denn aufgrund ineffizienter Fördermethoden, zur Neige gehender Altquellen und mangelnder Investitionen in die Erschließung neuer ist die durchschnittliche Tagesproduktion von 2004 bis Oktober 2009 um fast ein Viertel von 3,4 auf 2,6 Millionen Barrel gefallen. Daß die Öleinnahmen immer noch 35 Prozent der Staatseinnahmen ausmachen, liegt nur daran, daß die Steuerquote bei nur elf Prozent liegt – gerade halb soviel wie im neoliberalen Musterland Chile.

Die offizielle Erwerbslosenquote stieg binnen Jahresfrist von 3,5 auf 6,5 Prozent, während der durchschnittliche Stundenlohn von 4,70 auf 3,80 Dollar sank. Nach Untersuchungen der Weltbank hat die Zahl der Mexikaner, die mit weniger als vier Dollar am Tag auskommen müssen, von 2006 bis 2009 um zehn Millionen zugenommen. Damit liegt der Anteil der Armen inzwischen bei über 60 Prozent.

Nach Ansicht von Rodolfo Navarrete, Chefvolkswirt der Investmentbank Vector, erlebt Mexiko »die schlimmste Krise seit 60 Jahren«. Noch gravierender sei aber, daß man »auch weltweit zu den am härtesten betroffenen Staaten gehört«. Er macht dafür nicht zuletzt die »wirkungslose Wirtschafts- und Steuerpolitik« der Regierung verantwortlich. Aus Angst vor einer Erhöhung der Inflation, die gegenwärtig bei gut fünf Prozent stagniert, habe die Zentralbank die Zinsen nicht gesenkt und damit die Tätigkeit der Unternehmen zusätzlich gedrosselt.

Navarrete hält die Aufnahme neuer Auslandsschulden zunächst für die einzige Möglichkeit, die Haushaltslöcher zu stopfen. Das dürfte allerdings teuer werden, denn die internationale Ratingagentur Fitch hat die Bonität des Schwellenlandes Ende November weiter herabgestuft, obwohl die öffentliche Verschuldung erst 43 Prozent des Bruttoinlandsproduktes beträgt und damit deutlich unterhalb der in der EU angestrebten Maastrichtschwelle liegt. Der Geschäftsführer der Deutsch-Mexikanischen Handelskammer Camexa, Giselher Foeth, sieht für die nähere Zukunft schwarz: »Es gibt nichts, was das Land jetzt aus dem Schlamassel herausziehen könnte«, sagte er – und forderte »Strukturreformen« insbesondere bei der Ölförderung und Stromerzeugung. Im Klartext bedeutet das eine Öffnung dieser relativ sicheren Sektoren für ausländische Investoren.

Das britische Wirtschaftsmagazin The Economist hingegen kritisierte Mitte November offen die Abhängigkeit von der Nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA, die eine »strukturelle Schwäche« darstelle. Sie habe »Mexiko hochgradig vom Gesundheitszustand der amerikanischen Wirtschaft abhängig gemacht und insbesondere von einigen wenigen Sparten des grenzüberschreitenden Geschäftes« wie der Automobilindustrie, dem Baugewerbe und dem Tourismus. Die Botschaft, sich verstärkt in andere Richtungen zu orientieren und dabei die EU nicht zu vergessen, ist unüberhörbar. Unterdessen setzt der Harvard-Absolvent Calderón auf Bewährtes: Steuererhöhungen und massive Einsparungen im öffentlichen Sektor. Als erstes wurde die Mehrwertsteuer auf 16 Prozent angehoben.

* Aus: junge Welt, 5. Dezember 2009


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