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"Wir werden unseren Weg weiter gehen"

Das Komitee Cerezo setzt in Mexiko trotz Todesdrohungen seine Arbeit für die Menschenrechte fort

Von Wolf-Dieter Vogel *

Wer in Mexiko gegen die strukturelle Gewallt rund um den sogenannten »Krieg gegen die Drogen« aufbegehrt, lebt gefährlich. Das »Komitee Cerezo« setzt sich gegen die Kriminalisierung politischer Proteste und sozialer Bewegungen und für die Rechte politischer Gefangener ein. Dafür wurde das Komitee 2012 mit dem Aachener Friedenspreis ausgezeichnet.

Wer Alejandro, Antonio und Hector Cerezo sucht, geht am besten in die UNAM, jene Universität in Mexiko-Stadt, in der so viele Rebellionen des Landes ihren Anfang nahmen. Dort, im Gebäude der Fakultät für Philosophie und Geisteswissenschaften, hinter dem Flur mit den unzähligen Aufrufen zu Demonstrationen und Versammlungen, in der Nähe des Kiosks der Zapatisten, betreiben die drei Männer und ihre Mitstreiter das »Café Cerezo«. Der kleine Kaffeestand soll ein paar Pesos in die Kasse bringen. Ob es zum Leben reicht? »Nicht wirklich«, sagt der 34-jährige Antonio Cerezo, »aber wir überleben«. Seine Hose, seine Jacke sowie sein Hemd haben ihm Freunde geschenkt, und mit den umgerechnet 130 Euro, die sie sich monatlich auszahlen, kommt er knapp über die Runden. Aber ums Geld geht es dem linken Aktivisten nicht. »Viele arbeiten in Nichtregierungsorganisationen, verdienen dort nicht schlecht und hoffen, irgendwann in einer Partei oder einer Institution Karriere zu machen.« Nicht, dass ihn das besonders stören würde, aber seine Sache ist das nicht. Jedenfalls scheint allein die Überzeugung zu zählen, wenn er und seine Brüder über den Kampf ihres »Komitee Cerezo« berichten, über ihren Einsatz gegen die vielen von Soldaten sowie Polizisten verübten Menschenrechtsverletzungen und für eine Gesellschaft, in der alle Mexikanerinnen und Mexikaner in Würde leben können.

Die drei Brüder Cerezo haben bereits die härteste aller Schulen hinter sich. Im August 2001, Alejandro war gerade einmal 19 Jahre alt, wurden sie und ihr indigener Mitstreiter Pablo Alvarado Flores verhaftet. Der Vorwurf: Die UNAM-Studenten sollten einen Sprengstoffanschlag in Mexiko-Stadt verübt haben, zu dem sich die »Revolutionären Bewaffneten Volkskräfte« bekannt hatten. Jahrelang saßen sie im etwa 80 Kilometer westlich der Metropole gelegenen Hochsicherheitsgefängnis Altiplano. Beweise habe es nicht gegeben, sagt Alejandro Cerezo. Ganz ruhig, so als ob Gefühle immer der Analyse nachzustehen hätten, spricht der junge Mann mit dem kleinen Ziegenbart von den Tagen in Gefangenschaft: »Wir wurden nicht nur widerrechtlich verhaftet, sondern auch gefoltert.« Außerhalb der Gefängnismauern gründeten die Geschwister Emiliano und Francisco sowie Freunde das »Komitee Cerezo«. Die Gruppe konnte ein Berufungsverfahren erstreiten, in dem Alejandro freigesprochen wurde. Die anderen blieben bis 2009 in Haft, obwohl ihre Schuld nie bewiesen werden konnte. Seit ihrer Freilassung arbeiten auch sie im Komitee mit, das zu einer der wichtigsten Menschenrechtsorganisationen im Lande geworden ist. Wo sich etwas bewegt, kümmern sie sich um den Schutz der Aktivistinnen und Aktivisten, in regelmäßigen Berichten informiert die Gruppe über die vielen Angriffe von Sicherheitskräften auf die Zivilbevölkerung.

In der Friedensbewegung, die gegen den 2006 von Präsident Felipe Calderón erklärten »Drogenkrieg« mobilisiert, unterstützt das Komitee eine Initiative, die mit den Angehörigen der Opfer arbeitet. Mit den Studenten der Bewegung » yo soy 132« gehen »die Cerezos« gegen Medienmacht sowie Wahlbetrug auf die Straße und bilden deren Mitglieder als Menschenrechtsverteidiger aus. Für ihren unermüdlichen Einsatz erhielten Alejandro Cerezo sowie das Komitee am 1. September den Aachener Friedenspreis, der von etwa 50 kirchlichen, gewerkschaftlichen sowie parteipolitischen Organisationen ausgelobt wird.

Zweifellos wird man den Gebrüdern Cerezo nicht gerecht, wenn man ihre Aktivitäten auf die Verteidigung der politisch-bürgerlichen Menschenrechte reduziert. Frieden ist mehr als die Abwesenheit von Krieg, betonte Alejandro Cerezo bei der Preisverleihung, den die Mexikaner gemeinsam mit der Flüchtlingsinitiative »Borderline Europe« bekamen. Und so sprach er nicht nur von den 70 000 Toten, den 250 000 Vertriebenen und den Tausenden von Verschwundenen, die der Krieg in seiner Heimat gekostet hat. Der 30-Jährige verwies auch auf Aspekte, die man »allgemein nicht als Krieg versteht und oft unterschätzt«: die extrem ungleiche Verteilung des Reichtums, das Elend, die Armut. Im Gegensatz zu manchen Mitstreitern vertritt das Komitee eine Analyse, die das komplexe Geflecht von Gewalt, Politik und Mafia auf einen verdächtig einfachen Nenner bringt: Die militärische Mobilmachung hat vor allem den Zweck, sozialen Protest zu kontrollieren und Oppositionelle auszuschalten. »Man hat sich mit dem Organisierten Verbrechen einen internen Feind geschaffen, den es zu vernichten gilt - und dies kann überall und zu jeder Zeit auf jeden Bürger zutreffen«, erklärt Alejandro.

Diese These vermag sicher nicht all die Aspekte erklären, die sich hinter der gewalttätigen Eskalation verbergen. Doch eines hebt das Komitee zurecht hervor: Seit Calderón die Armee mobilisiert hat, haben die Angriffe staatlicher Kräfte auf Menschenrechtsverteidiger und soziale sowie indigene Aktivisten extrem zugenommen. Auch die Cerezos selbst sind ins Fadenkreuz geraten. Immer wieder werden sie und ihre Angehörigen mit dem Tod bedroht. »Dahinter steckt der Staat«, ist sich Antonio sicher. Dieser Regierung sei jeder Angriff zuzutrauen, ergänzt sein Bruder Alejandro mit einer Überzeugung, die keinen Zweifel zulässt. Dennoch ist er überzeugt: »Wir werden unseren Weg weiter gehen.«

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 25. September 2012


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