"Wir leben weiter im Krieg"
Polizei und Militär treiben die Gewalt im mexikanischen Ciudad Juárez auf die Spitze
Von Kathrin Zeiske, Ciudad Juárez *
Seit vier Jahren leben die Menschen in Ciudad Juárez im Ausnahmezustand. Nachdem Mexikos Präsident Felipe Calderón den Drogenkrieg ausgerufen hatte, begann am 28. März 2008 der Militäreinsatz in der Stadt. Die Anwesenheit von Militär und Polizei hat indes Übergriffe und Menschenrechtsverletzungen noch häufiger werden lassen.
Zehn Polizeiwagen rasen durch die Stadt. Eine Szene wie im Film. Über die Schnellstraßen preschen sie in den Westen, in die Armenviertel, wo die Straßen steiler, enger und staubiger werden. Irgendwann verschwindet der Asphalt. In den Hügeln oberhalb des Viertels Galeana stoppen die glänzenden Geländewagen abrupt. Rund 50 maskierte, schwer bewaffnete Polizeibeamte springen herunter, umstellen Häuser, sichern Dächer, sperren einen Straßenzug. Neugierig sammelt sich eine Gruppe Jugendlicher am Absperrband. »Nehmen Sie jemanden fest?« Die Vermummten bleiben stumm.
Zehn Minuten später zieht sich die Polizei zurück, drei Personen werden mit Handschellen auf die Ladefläche eines Pick Ups gekettet. Die Kolonne setzt sich mit quietschenden Reifen in Bewegung und verschwindet in einer Staubwolke.
Nur in Bagdad wird noch mehr gemordet
»In Ciudad Juárez befinden wir uns im Auge des Wirbelsturms«, konstatiert Gerardo Rodríguez, Direktor der Tageszeitung »El Diario de Juárez«. »Schon 2006 sandte Calderón 10 000 Bundespolizisten nach Ciudad Juárez, das als Brennpunkt der Kämpfe verfeindeter Kartelle gilt.« 2008 ließ er das Militär einmarschieren. In den folgenden Monaten nahm die Gewalt in der Stadt ungeahnte Ausmaße an. »Entführungen, Erpressungen, Morde und Vergewaltigungen wurden alltäglich.«
Im Jahr 2010 wurden in Ciudad Juárez insgesamt 3117 Menschen getötet; eine höhere Mordrate pro 100 000 Einwohner wies weltweit lediglich Bagdad auf. Im vergangenen Jahr sank die Zahl der Toten knapp unter 2000. Vor dem Einmarsch der Truppen im März 2008 waren jährlich »nur« rund 300 Menschen gewaltsam zu Tode gekommen.
Der »Diario de Juárez« ist eine der wenigen Zeitungen in Mexiko, die die Unterzeichnung eines Abkommens mit der Regierung verweigerten, im Drogenkrieg stets regierungstreu zu berichten. Angesichts der zahlreichen Todesopfer muss Präsident Calderón viel in das öffentliche Ansehen seiner Regierung investieren. Das Sicherheitsministerium bezahlte im Rahmen ihrer Werbekampagne »Bundespolizei - Anonyme Helden« zehn Millionen Dollar für die Telenovela »Das Team«. Der Fernsehsender Televisa bezeichnet die Serie als »Bildungsmaterial«. »In Ciudad Juárez ist die Bundespolizei mit Raub und Erpressungen zur Geißel der Bevölkerung geworden«, konstatiert dagegen Zeitungsdirektor Rodríguez. »An zahlreichen Kontrollposten der Innenstadt werden von korrumpierten Beamten Autos beschlagnahmt und Löhne gestohlen. Oft fragen die Polizisten Anwohner nach ihrer Adresse. Abends stehen sie dann in Zivil vor der Tür und erpressen große Geldbeträge.« Bewaffnet sind die Funktionäre nicht selten mit dem Sturmgewehr G36 der deutschen Firma Heckler & Koch.
Sicherheitsminister Genaro García und seiner Bundespolizei wird nachgesagt, sie stünden dem Sinaloakartell nahe und wollten das ortsansässige Juárezkartell aus der Stadt verdrängen. »Man muss davon ausgehen, dass rund ein Viertel der Beamten infiltriert sind«, schätzt Gerardo Rodríguez. »Angst und Terror sind unsere ständigen Begleiter geworden, seit Präsident Calderón die Büchse der Pandora geöffnet hat. Um seine schwache Regierung zu stabilisieren, holte er das Militär an seine Seite. Der Krieg gegen die Drogen hat sich jedoch längst zum Krieg gegen die eigene Bevölkerung entwickelt. Vor allem die Armen sind in Ciudad Juárez Opfer der Gewalt. Die Reichen gehen über die Grenze ins Exil.«
Die Zwillingsstadt von Juárez auf der US-amerikanischen Seite der Grenze, El Paso, gilt zynischerweise als eine der sichersten Städte der Vereinigten Staaten. Dort ereignen sich ganze fünf Morde im Jahr. Für die Bewohner der marginalisierten Viertel von Ciudad Juárez wäre das ein Traum. Zahllose Menschen werden dort von Polizei oder Militär entführt und »verschwinden«. Um sie kümmert sich der bundesstaatliche Ombudsmann für Menschenrechte, Gustavo de la Rosa. Und nur um sie. »Es gibt so viele Menschenrechtsverletzungen in Ciudad Juárez. Ich kann mich nur noch um die schwersten Fälle kümmern.« Das sind die »Verschwundenen«.
De la Rosa versucht sie innerhalb von 24 Stunden ausfindig zu machen, da sie später in der Regel nur noch tot aufgefunden werden. »Die schlimmste Menschenrechtsverletzung sind die Hinrichtungen, die ohne Strafe bleiben. Straflosigkeit ist in Mexiko kein Versagen des Systems, sondern dient höheren Interessen. Rund 96 Prozent der Verbrechen bleiben ohne juristische Ahndung.«
Der Ombudsmann streicht sich durch seinen dichten weißen Vollbart. »Wir versuchen, die Zahl der Toten gering zu halten, je schneller wir handeln, desto besser sind die Chancen, dass jemand lebend nach Hause zurückkehrt. Diejenigen, die unter Folter sterben, werden von der Polizei selbst ins Leichenschauhaus gebracht. Die Beamten gehen davon aus, dass sie eh nicht belangt werden.«
Doch auch der 65-jährige Menschenrechtsverteidiger hat keinen einfachen Stand in Ciudad Juárez. »In Mexiko-Stadt ärgert man sich über mich. Man wirft mir vor, ich überträte meine bundesstaatlichen Kompetenzen, wenn ich Bundespolizei und Militär angehe. Die sind aber nun mal die größten Aggressoren gegen die Menschenrechte.«
Politik und Medien begehen Rufmord
Die Generäle verstanden nicht, warum De la Rosa sie dazu anhalten wollte, die Menschenrechte zu achten, wo der Präsident selbst ihnen doch sämtliche Freiheiten zugesteht. De la Rosa musste 2009 seinen Wohnort sechs Monate nach El Paso verlegen. Heute begleitet ihn eine Polizeieskorte. »Die meisten Opfer dieses Krieges sind einfache Menschen«, schließt er. »Nur die allerwenigsten sind Angehörige der organisierten Kriminalität. Deren Familien würden niemals Anzeige erstatten, denn sie begreifen es als Geschäftsrisiko, unter brutalen Umständen zu sterben. Wenn jemand zu mir kommt, dann weiß ich sicher, dass Unschuldige in Lebensgefahr schweben. Medien und Politik begehen schnell Rufmord. In Juárez stirbt man mindestens zweimal.«
Heute trifft es einen Jugendlichen und einen jungen Mann, die der Presse von der Polizeibehörde präsentiert werden. Ihre Gesichter sind von Schlägen so entstellt, dass sie kaum aus ihren verschwollenen Augen sehen können, ihre Hemden sind blutgetränkt und zerrissen. »Diese beiden Subjekte haben im Viertel Postales einen Minderjährigen umgebracht und dann versucht, in einem Lieferwagen zu fliehen«, sagt Adrian Sánchez Contreras, Polizeisprecher von Ciudad Juárez, selbstsicher in die Kameras. Die Presse dürfe den beiden Fragen stellen. Er sei 24 Jahre alt sei und arbeite in einer Maquila (Billiglohnfabrik), antwortet Luis E. mit verhaltener Stimme auf Fragen der Journalisten. Juan Carlos R. ist erst 16 Jahre alt und arbeitet an einem Imbissstand. Einen Mord leugnen beide. Sie hätten lediglich den Lieferwagen stehlen wollen; eine spontane Aktion, der Schlüssel steckte. Dass es der Fluchtwagen von Auftragskillern war, hätten sie erst bemerkt, als die Sirenen der Polizei hinter ihnen aufheulten. Die Uniformierten warteten mit ihrer Selbstjustiz nicht einmal bis zur Bestandsaufnahme des Falls.
Regierung erklärt die Opfer zu Tätern
»Menschen werden der Presse ohne Verfahren in entwürdigender Art und Weise als ›Drogenhändler‹ und ›Killer‹ präsentiert. Die Medien machen sich zu Mittätern, denn sie übersehen die Übergriffe der Polizei«, sagt Leobardo Alvarado, Gründer der Internetzeitung »CiudadJuarezDialoga«. »Der Sinn für Menschlichkeit geht verloren unter einem autoritären Regime.« Die Militarisierung führe den Terror als Strategie der Kontrolle über die Bevölkerung mit sich. Ciudad Juárez gilt als eine der gewalttätigsten Städte der Welt. »Es sollte besser heißen: eine der Städte, der am meisten Gewalt zugefügt wurde«, konstatiert der Künstler und Aktivist. Mehrere seiner Familienangehörigen gelten seit zwei Jahren als ›verschwunden‹. Augenzeugen berichteten von ihren Verhaftungen durch das Militär.
Mit seiner Internetzeitung hofft Alvarado die Zivilgesellschaft zu stärken, die sich in Ciudad Juárez gegen die Militarisierung stellt. Im vergangenen Jahr wurden Proteste gegen den Drogenkrieg und die Explosion der Gewalt in Mexiko auch auf nationaler Ebene laut. »Die Regierungsaussage in Bezug auf die Opfer des Krieges lautet: ›Sie bringen sich gegenseitig um.‹ Calderón diffamiert die Toten summarisch als Angehörige der Drogenmafia. Doch die Menschen haben das Schweigen durchbrochen.« Gegen Felipe Calderón wurde im November eine Anklage wegen Völkermords vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag eingereicht. Juristisch könnte dies schwer zu belegen sein, doch in jedem Fall ist es ein politisches Zeichen. »Währenddessen leben wir weiter im Krieg«, schließt Leobardo Alvarado.
* Aus: neues deutschland, 28. März 2012
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