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Mexikos Justiz kennt keine Gerechtigkeit

Indigenen-Aktivist Alberto Patishtán klärt Präsident Enrique Peña Nieto und Innenminister über die Verhältnisse auf

Von Andreas Knobloch *

Im mexikanischen Bundesstaat Chiapas sitzen rund 300 Gefangene aus politischen Motiven im Gefängnis. Der jüngst entlassene Indigenen-Aktivist Alberto Patishtán Gómez setzt sich für sie ein.

Alberto Patishtán Gómez weiß aus eigener Erfahrung, wovon er spricht: Bei einem Treffen mit Mexikos Präsidenten Enrique Peña Nieto und Innenminister Miguel Ángel Osorio Chong in der vergangenen Woche hat sich der Indigenen-Aktivist für die Freilassung in Chiapas einsitzender indigener Gefangener stark gemacht. Bei dem fast einstündigen Gespräch, zu dem Patishtán von seinen Söhnen begleitet wurde, ging es um die Situation in den Gefängnissen in dem südmexikanischen Bundesstaat. »Ich habe ihnen die Situation vieler indigener und nicht-indigener Gefangener verdeutlicht, deren Rechte nicht respektiert wurden, bei denen es wie in meinem Fall einige größere Mängel gab«, sagte Patishtán anschließend.

Patishtán, der in einem Prozess voller Unregelmäßigkeiten wegen Mordes an sieben Polizisten zu 60 Jahren Haft verurteilt worden war, war Ende Oktober nach 13 Jahren Gefängnis von der mexikanischen Regierung begnadigt worden. Seine Freilassung war möglich geworden durch ein am selben Tag in Kraft getretenes neues Strafrecht und eine darin festgeschriebene spezielle Begnadigung durch den Präsidenten. Diese markiere ein »Davor und Danach in Mexikos Rechtsgeschichte«, schrieb die spanische Tageszeitung »El País« und sprach von einer Lex Patishtán. Leute seines sozialen Ranges könnten in Mexiko in der Regel nicht mit Gerechtigkeit rechnen.

»Man wollte meinen Kampf beenden, aber er ist vervielfacht worden«, sagte Patishtán in der Pressekonferenz nach seiner Freilassung. Mit seiner Beharrlichkeit hat er die Ungerechtigkeit, mit der das mexikanische Justizsystem die Armen und besonders Indigene behandelt, in den Fokus gerückt und schließlich wohl auch die Entscheidung von Präsident Peña Nieto beeinflusst, bei der Strafrechtsreform ein Instrument zu schaffen, das eine präsidiale Begnadigung für in irregulären Prozessen verurteilte Personen erlaubt und somit einen Ausweg aus dieser unsäglichen Geschichte bot.

Jahrelang hatte Patishtán, der immer seine Unschuld beteuerte, durch alle Instanzen bis hin zum Verfassungsgericht versucht, eine Wiederaufnahme seines Falles zu erreichen – ohne Erfolg. Erst Mitte September hatte ein Geschworenengericht in Chiapas die vorgelegten Beweise für seine Unschuld abgewiesen und die Haftstrafe des 42-Jährigen bestätigt.

Im Jahr 2000, als er festgenommen wurde, arbeitete er als Lehrer und setzte sich sich in seiner Gemeinde El Bosque in Chiapas für die Rechte der Tzotzil ein, einer Ethnie, der er selbst angehört. Aus San Cristóbal de las Casas wurde eine Polizeieinheit in die Region verlegt, um eine eventuelle Erhebung im Keim zu ersticken. Bei einer Patrouille in den Bergen von Chiapas, im Zentrum der zapatistischen Erhebung, wurden die Polizisten von einer schwer bewaffneten Gruppe überfallen. Es gab sieben Tote, nur zwei überlebten: ein Polizist und der Sohn des Bürgermeisters. Beide versicherten, Patishtán erkannt zu haben; später erklärten sie jedoch, die Angreifer seien vermummt gewesen. Neben diesen und anderen Widersprüchen tauchten in dem Prozess illegale Beweismittel auf, wurde die Unschuldsvermutung verletzt und Zeugen, die bestätigten, dass Patishtán zum Zeitpunkt des Geschehens Unterricht gegeben habe, vom Gericht nicht berücksichtigt.

Während seiner Haftzeit in San Cristóbal ist Patishtán, der mit der EZLN sympathisiert, zu einer Ikone für die Alphabetisierung der Armen in Mexikos Gefängnissen geworden. Zahlreichen Mitgefangenen brachte er Lesen und Schreiben bei; anderen leistete er juristischen Beistand und war so an der Freilassung von insgesamt 22 Gefangenen beteiligt: »Diejenigen, die im Gefängnis sitzen bezeichnen wir immer als Verbrecher, aber nicht alle sind es. Die Hälfte hat verbrochen, was ihnen vorgeworfen wird, die andere Hälfte ist unschuldig, und büßt für das kaputte Geschirr, das eigentlich andere bezahlen müssten.«

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 10. Dezember 2013


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