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Ende der Straflosigkeit

Mexiko: Armeeangehörige müssen sich vor Zivilgerichten verantworten

Von Andreas Knobloch *

In einer historischen Entscheidung hat das Oberste Gericht Mexikos (Suprema Corte de Justicia de la Nación – SCJN) am Dienstag bestimmt, daß Menschenrechtsverletzungen durch die Armee künftig nicht mehr nur vor Militärgerichten, sondern vor jedem zivilen Gericht des Landes verhandelt werden können. Nach dem einstimmigen Urteil der zehn anwesenden Richter ist es nun die Aufgabe der Legislative, die nötigen Justizreformen in die Wege zu leiten, um Artikel 57 des Código de Justicia Militar (CJM), der Militärgesetzgebung, an die Amerikanische Menschenrechtskonvention anzupassen.

Die bisherige Regelung wurde wiederholt kritisiert, da die Verhandlung von Menschenrechtsverletzungen durch Armeeangehörige vor Militärtribunalen vor allem zu Straflosigkeit führte. Mit der Ausweitung des Drogenkrieges durch die aktuelle Regierung und den massiven Einsatz der Armee war keine adäquate Stärkung der zivilen Kontrollen einhergegangen. Im Gegenteil. Die wenigen Mechanismen zur Durchsetzung der Rechenschaftspflicht von Armee und Marine wurden noch weiter torpediert. Das Urteil des SCJN versucht, dies etwas zu korrigieren.

Die Entscheidung des SCJN geht weit über die Initiative der Regierung Felipe Calderón hinaus, die zur Abstimmung im Kongreß liegt. Diese begrenzt die Delikte von Soldaten, die vor zivilen Gerichten verhandelt werden können, auf Vergewaltigung, Folter und Entführung. Andere schwere Verbrechen wie Mord dürften danach nicht vor ordentliche Gerichte gebracht werden.

Das Urteil folgt einer Maßgabe des Interamerikanischen Gerichtshofes für Menschenrechte (CIDH) im Fall Rosendo Radilla, daß ordentliche Gerichte verantwortlich seien, wenn Militärs im Dienst involviert sind. Der bekannte Aktivist Rosendo Radilla Pacheco war 1974 an einem Armee-Checkpoint im Bundesstaat Guerrero im Süden Mexikos »verschwunden«. In einem Urteil im Dezember 2009 machte der CIDH den mexikanischen Staat dafür das und für die systematischen Menschenrechtsverletzungen in Mexiko während des »schmutzigen Krieges« zwischen PRI-Regierungen und linken Studenten- und Guerillagruppen in den 1960er und 1970er Jahre verantwortlich.

Bereits im September vergangenen Jahres hatte das Oberste Gericht in einer ersten Auseinandersetzung mit dem Urteil des CIDH festgelegt, daß alle Richter des Landes beweisen müssen, daß die ihren Urteilen zugrunde liegenden Gesetze der Verfassung, aber auch internationalen Verträgen über Menschenrechte entsprechen. Die sogenannte »Kontrolle der Konventionalität« sieht vor, daß alle Regeln im mexikanischen Recht, die internationalen, von Mexiko ratifizierten Verträgen widersprechen, nicht mehr zur Anwendung kommen.

Die jetzige Entscheidung des SCJN ist im Kontext der gerade verabschiedeten Verfassungsreform zu sehen, die am 10. Juni in Kraft trat. Sie setzt von Mexiko unterzeichnete internationale Abkommen rechtlich mit der Verfassung gleich und führt in das juristische System das Prinzip »pro persona« ein. Dieses besagt, daß bei einem Widerspruch zwischen Rechten dasjenige angewendet werden soll, das für den Bürger vorteilhafter ist.

* Aus: junge Welt, 14. Juli 2011


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