Rappen aus der Gewaltspirale
In der mexikanischen Stadt Ciudad Juárez tobt der Drogenkrieg. Pädagogische Angebote für Jugendliche sind rar
Von Knut Henkel *
Gitarren, Comicfiguren, Fernseher und allerlei andere Statussymbole prangen an der tristen grauen Betonwand des Kindergartens von El Noveno. »Morgens sind hier die kleinen Steppke unterwegs, nachmittags bin ich hier und versuche etwas mit den Jugendlichen aus dem Stadtviertel auf die Beine zu stellen«, erklärt Gustavo Salas. Der 22-Jährige ist Dichter, Rapper, Musiker und seit kurzem auch Sozialarbeiter in einer Person. Mit den Halbwüchsigen hat er als Erstes Schablonen gebastelt und die triste graue Wand des Innenhofs des Kindergartens ein wenig aufgepeppt. Seit ein paar Monaten arbeitet Gustavo mit den Teenagern aus El Noveno, einem einfachen Arbeiterviertel von Ciudad Juárez.
Der 22-jährige Rapper Gustavo Salas, alias MC Chave Underground, engagiert sich seit zwei Jahren in der Jugendarbeit seiner nordmexikanischen Heimatstadt. Sein Freund Daniel Mundo hat über Rap und die Hip-Hop-Kultur den Absprung aus dem Bandenmilieu geschafft.
Nur wenige Kilometer entfernt von der Grenze zu den USA liegt die verlängerte Werkbank, wo Elektroartikel zusammengebaut, Autoteile produziert und Motoren für den US-Markt zusammengesetzt werden. Für ihre Kinder bleibt den Arbeitern oft kaum Zeit, und so will Gustavo den Kindergarten als Anlaufpunkt etablieren. Tischfußball, Rap, Reimen oder einfach nur ein offenes Ohr bietet Gustavo. Das ist mehr als die allermeisten Jugendlichen gewohnt sind.
Im Stadtteil EL Noveno, im zumeist von einstöckigen Backsteinbauten geprägten Stadtbezirk Poniente, leben vor allem Zugewanderte. Wegen der Jobs in den Fabriken, Maquiladora genannt, sind sie in die Wüstenstadt an der US-Grenze gekommen. Am Nachmittag röhren die ausrangierten US-Busse mit dem Hinweisschild »Transporte de Personal« durch die Stadtviertel wie El Noveno, um die ausgepowerten Leute vor der Haustür oder zumindest nah dran abzusetzen. Alltag in Ciudad Juárez.
Die Banden rekrutieren Nachwuchs in Schulen
»Die Jobs sind meist so schlecht bezahlt, dass beide Elternteile malochen müssen«, erklärt Gustavo. Viele der Kids aus den Vierteln wie El Noveno kennen den stämmigen jungen Mann im Kapuzenpullover als MC Chave Underground. Allein oder gemeinsam mit den Kollegen von »Filos Clandestinos«, seiner Rap-Formation, singt er über die triste Realität in den Barrios, den Stadtteilen, von Ciudad Juárez. Im melodiösen Sprechgesang warnen sie vor dem schnellen Geld und dem schnellen Tod, der mit der Karriere in den Banden droht.
Banden gibt es nahezu in jedem Stadtviertel der Millionenstadt, die durch den Grenzfluss, den Rio Grande, von El Paso, der Zwillingsstadt auf US-Grund, getrennt ist. Über Ciudad Juárez wird das Gros des Drogenschmuggels in die USA abgewickelt und als Brückenkopf ist die Stadt unter den mexikanischen Kartellen umkämpft. Zu denen gehören auch die Banden auf Stadtviertelebene, die Kokain, Heroin und synthetische Drogen in Umlauf bringen und sich gegenseitig bekämpfen. »Schon in den Schulen der einfachen Stadtbezirke, wo es kaum ein Angebot für die Jugend gibt, rekrutieren sie den Nachwuchs«, nennt MC Chave einen Grund für die Spirale der Gewalt, die Ciudad Juárez seit Jahren in Atem hält. Über 3000 Mordopfer wurden im vergangenen Jahr in der mitten in der Wüste gelegenen Stadt registriert. »Viele davon waren jung, oftmals jünger als ich selbst«, erklärt der Rapper und schließt das stabile Metalltor zum Kindergarten von El Noveno ab.
Heute war kaum etwas los und die letzten vier Halbwüchsigen haben gerade dem Tisch-Kicker adiós gesagt und sind gegangen. Gleich um die Ecke des Kindergartens wohnt der sympathische Rapero im Hause der Oma. Ein paar Blocks weiter nördlich befindet sich die Casa Promoción Juvenil – das einzige Jugendzentrum weit und breit.
Für und mit den Leuten der Casa, die auch den Kindergarten El Noveno betreiben, arbeitet MC Chave seit knapp zwei Jahren. Ehrensache für den Rap-Poeten, der im Viertel aufgewachsen ist und die Realitäten kennt. Zwei Verwandte von ihm wurden exekutiert, weil sie sich am Drogenschmuggel und -verkauf beteiligt hatten. Schnell kann man da angesichts fehlender Perspektiven reinrutschen und die Wirtschaftskrise der letzten drei Jahre hat ein Übriges getan.
Die Stadt Ciudad Juárez liegt an der Grenze zur USA. Sie ist im besonderen Maß vom Drogenkrieg in Mexiko betroffen. Die bewaffneten Konflikte unter den sogenannten Drogenkartellen und zwischen ihnen und Polizei- bzw. Militäreinheiten, forderten mexikoweit in den Jahren 2007 bis 2010 mehr als 34 000 Tote. Über ein Fünftel dieser Todesfälle wurden aus Ciudad Juárez gemeldet. Die Einwohnerzahl der Stadt wuchs in den vergangenen Jahren aufgrund der Maquiladoras, den neuen Montagebetrieben im Norden Mexikos, stark an. Am Ende des Arbeitstags werden die Arbeiterinnen und Arbeiter mit Bussen aus den Fabriken in ihren Vierteln – wie z.B. El Noveno – abgesetzt.
»Mindestens achtzigtausend Jobs hat die US-Krise allein in den Fabriken von Ciudad Juárez vernichtet, annähernd die gleiche Menge in Einzelhandel, Gastronomie und Tourismus«, erklärt María Teresa Almada, Pädagogin und Leiterin der Casa Promoción Juvenil (Haus der Jugendförderung). Das Zentrum arbeitet mit mehr als fünfzig Schulen zusammen, bietet Kurse, entwickelt Jugendprogramme und setzt auf Prävention in der Jugendarbeit. Es ist zum Anlaufpunkt für Kinder und Jugendliche geworden und liegt gegenüber einem der typischen Spiel- und Sportplätze. Ein paar Schaukeln, Rutschen und Wippen für die Kleinen und daneben ein Bolzplatz mit den darüber schwebenden Basketballkörben für die Großen hat die Stadtverwaltung montiert.
Das Ensemble aus Metall, Beton und Kunststoff ist umgeben von einigen verdorrten Laubbäumen und einer an Trockenheit gewöhnte Agavenart, Lechuguilla genannt. Für die Dekoration sorgen einige bunte Pinselstriche. »Mehr haben die Stadtpolitiker für die Jugend nicht übrig«, erklärt Frau Almada, die von allen nur Tere genannt wird, mit bitterer Mine. Nur wenige Blocks vom Jugendzentrum entfernt wohnt sie.
Kollege Jorge Burciaga, Koordinator der Jugendarbeit der Casa, pendelt hingegen zwischen dem Norden der Stadt, wo die Schuldichte höher und die Infrastruktur besser ist, und dem Bezirk Poniente. Pendeln müssen viele in der weitläufigen Industriestadt, die von Schnellstraßen, Fast-Food-Restaurants, Industrieparks und den staubigen Backsteinsiedlungen der Arbeiter geprägt ist. Wer es sich leisten kann, zieht in die mit Stacheldraht und Wachmännern gesicherten Wohnanlagen, Residenciales genannt. Wer richtig Geld hat, fährt nach Feierabend ins sichere El Paso, auf der anderen Seite des Grenzflusses. Dort werden im ganzen Jahr so viel Menschen ermordet wie in Ciudad Juárez an einem Tag. Siebzehn, achtzehn Tote sind es manchmal. »Früher war das unvorstellbar – heute wachsen die Kinder mit dem Tod auf«, sagt Jorge Burciaga.
Die nackten Zahlen geben ihm recht: »Noch 2006 war die Mordquote in Juárez nicht viel höher als in anderen Grenzstädten. 2007, nach der Stationierung der ersten Militärs, kletterte sie auf 300 Tote. In den nächsten beiden Jahren waren es dann 1600 und über 2600 Tote und im vergangenen Jahr über 3000«, so Tere Almada. Sie lehrt an der autonomen Universität der Stadt und gibt Jugendlichen aus den marginalisierten Vierteln eine zweite Chance.
Eric ist einer von ihnen. Der 24-jährige Lockenkopf, dessen obere Schneidezähne mit Gold eingefasst sind, hat Drogen- und Bandenerfahrung. Seit mehreren Jahren kommt er zum Jugendzentrum Casa, um an Angeboten wie Musik- und Kunstkursen teilzunehmen. Reimen, Rappen, Dichten ist sein Steckenpferd. Ganz langsam ist er ins Team gerutscht, arbeitet nun mit Kindern und Halbwüchsigen und studiert parallel Pädagogik an der Universität. »Ohne die Hilfe der Casa wäre das kaum möglich«, erklärt Eric. Der fährt oft mit Tere zur Uni, wenn sie Vorlesung hat. Sie ist zum Vorbild für den jungen Mann geworden, der ähnlich wie MC Chave auch zum Mikrofon greift und über Polizeiübergriffe und die Misere in den Barrios rappt. »Mera Clase« heißt sein Trio, dass auf Youtube zu sehen ist.
Brücken bauen für einen alternativen Weg
»Rap ist eine der wenigen Möglichkeiten etwas rauszulassen«, erklärt er und reibt sich den spärlich sprießenden Kinnbart. Für das Zentrum sind die jungen Männer, die den Bandillas den Rücken kehren, Multiplikatoren, um an die Jugendlichen aus dem Bandenmilieu heranzukommen, erklärt Jorge Burciaga. »Sie bauen die Brücken, um den Halbwüchsigen den Absprung aus dem Kreislauf der Gewalt zu ermöglichen«. Burciaga ist schon 15 Jahre an der Casa, gehört fast zum Gründungskreis. Das Zentrum wurde 1994 gegründet und im letzten Jahr wäre beinahe Schluss gewesen. »Es gab keine Finanzierung«, sagt Tere Almada lapidar. Typisch für Mexiko, das seitdem Präsident Felipe Calderón den Drogenkrieg 2006 proklamierte, alle Ressourcen kanalisiert.
Dabei setzt die Regierung vor allem auf das Militär, das – so die Annahme – mit den Kartellen schon fertig werden würde. Das Gegenteil ist der Fall, wie das Beispiel von Ciudad Juárez zeigt. »Wir Jugendlichen werden als potenzielle Bedrohung und als Drogenkonsumenten angesehen, eine echte Chance kriegen wir nicht«, kritisiert MC Chave. Willkür von Armee und Polizei sind deshalb wiederkehrende Themen in den Reimen von MC Chave oder Mera Clase.
Gustavo und Eric träumen von einem eigenen Studio, um Songs mit den Halbwüchsigen aufzunehmen. »Das ist wie ein Ventil, man muss etwas machen, produktiv werden«, so Gustavo alias MC Chave. Nur zu gern würde er mit den Kids aus dem Kindergarten etwas auf die Beine stellen. Dafür reichten die spärlichen Mittel der Casa bisher nicht. Deren Arbeit wird bisher nur über Programme der Nationalregierung partiell unterstützt – bei der Lokalregierung und beim Bürgermeister stehen Jugendprogramme nicht gerade hoch im Kurs.
* Aus: Neues Deutschland, 23. Juli 2011
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