Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Mexiko: Das Rätsel der Regierbarkeit

Von Anne Huffschmid *


Nach dem Wahlsieg des Rechtskandidaten steckt die Politik in einer Vertrauenskrise. Die Linke muss von moralischer auf politische «Opposition» umschalten. Am 16. September treffen die beiden Lager aufeinander.

Ob Andrés Manuel López Obrador um das Präsidentenamt betrogen wurde, wie er selbst und Millionen MexikanerInnen glauben, wird man wohl nie wissen. Das zweimonatige Nachwahlgefecht ist beendet. Seit dem Spruch des Wahlgerichts vom 5. September hat das Land einen designierten Präsidenten, den Rechtspolitiker Felipe Calderón. Doch in Mexiko gibt es derzeit wohl niemanden, der Calderón um seinen Job wirklich beneidet. Schon bei der ersten Tour als deklarierter Wahlsieger musste er in seiner Heimatprovinz Michoacan den Auftritt nach drei Minuten abbrechen. «Estamos encabronados», wir sind sauer, brachte ein Transparent die Stimmung auf den Punkt. Und das gilt längst nicht nur für Michoacan.

Das Wahlprozedere ist abgeschlossen, der Kandidat der rechten Partei der Nationalen Aktion (PAN) hat eine offizielle Mehrheit von 233 000 Stimmen oder 0,56 Prozent errungen. Damit ist auch die Option eines möglichen Interimspräsidenten vom Tisch. Berufung ist nicht vorgesehen, den Massenprotesten sind alle institutionellen Türen vor der Nase zugeschlagen. Das «Rätsel der Regierbarkeit», wie der Kolumnist Jaime Aviles schrieb, ist aber alles andere als gelöst. Und das geht nicht primär auf das Konto der mit Zorn, Enttäuschung und Kampfgeist aufgeladenen Resistencia, der neuen Protestbewegung um López Obrador, kurz AMLO genannt. Sondern zuallererst auf das Konto von Rechten und RichterInnen - und zwar mit oder ohne Betrug. Sicher ist, dass es eine monatelange Angstkampagne gegen den linken Kandidaten gab. Auch kleinere Betrügereien am Wahltag wurden allerorten konstatiert. Wenn es darüber hinaus auch eine zentrale Manipulation gab, hätte die Rechte natürlich guten Grund gehabt, sich so vehement gegen die Neuauszählung aller Stimmzettel - für die Umfragen zufolge die Mehrheit der Mexikaner-Innen plädiert hatten - zu stellen. Und dann wäre, wie AMLO und die Resistencia nicht müde werden zu verkünden, tatsächlich ein «politischer Bastard» im Amt und der Widerstand legitim.

Verpasste Chance

Im zweiten möglichen Fall - ein knapper, aber realer Vorsprung für die PAN - zeugt die Verweigerung der Neuauszählung vor allem von Borniertheit. Natürlich hatten RichterInnen und nicht PolitikerInnen zu entscheiden, und womöglich gab es keine zwingenden legalen Gründe für das erneute Öffnen sämtlicher Wahlurnen. Doch gegen das Votum beider Kandidaten hätte das Wahlgericht nichts anderes beschliessen können. So aber hat Felipe Calderón seine historische Chance auf Doch-noch-Legitimierung seines Wahlsiegs verspielt. Dabei ging es nicht nur um die Glaubwürdigkeit der eigenen Partei und Person, sondern zugleich um jene der politischen Institutionen des Landes. Den MexikanerInnen ist aufgrund eines fast siebzig Jahre währenden Machtmonopols der Partei der Institutionellen Revolution (PRI) «das Misstrauen gegenüber der Regierung in die DNA geschrieben», sagt der Kommentator Jorge Chabat. Dieses Misstrauen aber richtet sich heute nicht mehr nur gegen Parteien und Regierung, sondern gleich gegen das gesamte institutionelle Gefüge. So sind die Institutionen, ausgerechnet in den ersten «freien» Wahlen nach dem Ende des PRI-Monopols, in ihre heftigs-te Krise gestrudelt. Regierbar war Mexiko, auch zu den turbulentesten Zeiten des PRI-Autoritarismus, noch stets gewesen. Doch wie Felipe Calderón ab dem 1. Dezember regieren will, ist unklar.

Offen ist auch, was die Linke mit dem gewaltigen politischen Kapital anfängt, das sie zunächst aus ihrem - allzu - siegesgewissen Wahlkampf und heute aus der Resistencia gewinnt. Nie war die Linke populärer in Mexiko: 35 Prozent Wählerstimmen sind ein historischer Rekord, im Parlament stellt die Partei der Demokratischen Revolution (PRD) mit 159 von 500 Abgeordneten die zweitstärkste Fraktion. Dennoch herrscht neben dem moralischen Aufruhr auch eine gewisse Ratlosigkeit. «Und was nun?», titelte die Tageszeitung «La Jornada» nach dem Richterspruch. Erst wenige Tage zuvor hatten die PRD-ParlamentarierInnen ihren ersten «Sieg» gefeiert: Als Präsident Fox am 1. September im Kongress seinen Rechenschaftsbericht vorstellen wollte, hatten die Abgeordneten kurzerhand die Rednertribüne besetzt, und Fox musste ohne Rede den Saal verlassen. Die Zwickmühle für die PRD-Fraktion und ihre verbündeten kleineren Parteien aber bleibt. Einerseits wollen sie sich um den Vorsitz von Ausschüssen und Kommissionen bemühen. Andererseits soll bis auf Weiteres jeder Kontakt zur gegenwärtigen und künftigen Regierung unterbleiben.

Verführer gegen Vernunft

Der mediale Soundtrack zu der aktuellen Polarisierung hat sich nicht wesentlich verändert, nur die Tonlage: Stand vor dem Wahltag noch die Warnung vor dem «Volksverführer» AMLO im Raum, so überwiegt heute die Häme über den «schlechten Verlierer». Doch noch immer wird in einem Grossteil der wirtschaftsliberalen Medien im In- und Ausland das Feindbild des «Linkspopulisten» beschworen. Der «Volkstribun» wird als verführerischer Irrer und Demagoge dargestellt; seine AnhängerInnen werden zu primitivem Fussvolk degradiert, zu einer verführbaren Masse von «PolitpilgerInnen». Dagegen steht dann die marktliberale «Vernunft» von Calderón, der «Verantwortung» zeigt und «Stabilität» garantiert.

Beunruhigend ist aber auch, wie López Obrador inzwischen argumentiert. Hatte er im Wahlkampf noch ein solides sozialdemokratisches Programm mit moralischem Pathos verbunden, überschlägt sich heute zuweilen seine Rhetorik. Da werden die Institutionen kurzerhand als «überflüssig» erklärt, die Rechte als «faschistisch» und der vermutete Wahlbetrug als «Staatsstreich» gebrandmarkt. An die Stelle der «simulierten Republik» habe die «wahre Souveränität des Volkes» zu treten. Wer aber ist das Volk? Dass sich selbst nach den offiziellen Zahlen mehr als ein Drittel der WählerInnen für die «linke Gefahr» entschieden hat, zeugt zweifellos von einer grossen Popularität. Ebenso die Tatsache, dass seit über zwei Monaten Abertausende Menschen regelmässig zum Zócalo marschieren, dem zentralen Platz vor dem Präsidentenpalast, um den «Informationsversammlungen» des PRD-Führers beizuwohnen. Allerdings ist die Strasse nicht einfach gleichzusetzen mit «Volkes Stimme». Es gibt auch eine Menge sogenannter kleiner Leute, die PAN gewählt haben.

Gespaltenes Land

Mexiko ist gespaltener denn je. Auf den ersten Blick natürlich in links und rechts. Aber auch in die 35 Millionen MexikanerInnen, die nach Uno-Statistiken an und unter der Armutsgrenze leben, und die wenigen BestverdienerInnen und in die vielen Mittelschichten. Die Spaltung verläuft zwischen dem ökonomisch halbwegs dynamischen Norden des Landes und dem teilweise stagnierenden Süden. Zwischen den vielen Ungläubigen, die sich nach der Wahl betrogen fühlen, und den - relativ wenigen -, die gegen die Protestierenden neuerdings Menschenketten «für Frieden und Einheit» organisieren. Zwischen jenen Kulturschaffenden, die AMLO noch immer unterstützen, und jenen, die sich öffentlich distanzieren. Und dann sind da wie immer die schweigenden Mehrheiten, die entnervt, ängstlich und besorgt am Rande stehen.

Ein Trugschluss aber ist die Vorstellung, López Obrador könne die Proteste nach eigenem Gutdünken einfach an- und ausknipsen. Denn der Oppositionsführer ist weder Heilsbringer noch Volksverführer, sondern zuallererst ein Produkt enormer gesellschaftlicher Erwartungen - und Enttäuschungen. Bemerkenswert ist, dass es bei allem aufgestauten Zorn bisher keinerlei Vandalismus gegeben hat. So beschwört López Obrador nicht, wie die konservative Presse - etwa der italienische «Figaro» - unbeirrt behauptet, die «alten Dämonen politischer Gewalt».

Für die Linke gilt es, aus dem moralisch motivierten Protest politische Perspektiven und Strategien zu entwickeln. Dabei stellen sich komplexe Fragen: Wie die ausser- und innerparlamentarische Opposition organisieren, wie Prinzipientreue und Pragmatismus verknüpfen, wie mit dem Blockade-, wie mit Mobilisierungspotenzial umgehen? Zunächst soll bei einer Nationalen Demokratischen Konvention (CND) am kommenden Wochenende eine «Widerstandsregierung» beschlossen werden. Worin genau deren Mandat und Mission liegen soll, ist offen. Und die mögliche Ernennung AMLOs zum «Gegenpräsidenten» ist umstritten. «Auch wenn das nur symbolisch ist, verstösst es gegen die Verfassung», warnt der Anthropologe Luis Villoro. Er plädiert für die Erneuerung einer legalen Linken, die sich vor allem der Arbeit an Gesetzesreformen - etwa für die Rechte der indigenen Bevölkerung und gegen Privatisierung und Ungleichheit - widmen soll.

Forderungen «von unten»

Vieles an dem, was sich die CND vorgenommen hat, erinnert an die «andere Kampagne» der zapatistischen EZLN, der Guerillabewegung aus dem südlichen Bundesstaat Chiapas. Man wolle in einer Tour durch das Land die Forderungen «der Leute von unten» aufnehmen, sich den Massnahmen der regierenden Rechten entgegenstellen und eine «neue Verfassung» erarbeiten.

Allerdings hatten die Zapatistas dem Linkskandidaten stets seinen Mangel an antikapitalistischer Entschlossenheit vorgehalten und ihn als Statthalter des Establishments attackiert. Und anders als AMLO haben die Maskierten aus dem Süden schon seit einiger Zeit ihre Wirkung auf die Massen verloren. Ihre Überlebenschance als radikale Minderheit dürfte darin bestehen, eine libertäre Linke zu bündeln, die den politischen Raum jenseits von Partei- und Regierungspolitik erweitert. Ob und welche Überschneidungspunkte sich zur Resistencia ergeben, wird abzuwarten sein. Doch schon jetzt ist klar, dass selbst innerhalb der PRD die Reihen nicht fest geschlossen sind. Einerseits wurde die Losung ausgegeben, dass alle sechs von der PRD regierten Bundesstaaten, darunter der mächtige Hauptstadtbundesdistrikt, in den «Widerstand» gehen sollen. Doch andererseits scheren die Ers-ten bereits aus. So sagte etwa Lázaro Cárdenas Batel, Gouverneur von Michoacan, vor kurzem: «Wir müssen eben mit Calderón arbeiten.»

Über die Monate bis zu Calderóns Amtsantritt lässt sich bislang nur begründet spekulieren. Ein Volksaufstand ist, wenigstens in der Hauptstadt, ebenso wenig zu erwarten wie die blutige Niederschlagung der Resistencia. Ob es so etwas wie eine zivile, wenn schon nicht friedliche Koexistenz der Kräfte geben kann, entscheidet sich womöglich am 16. September. Am Feiertag der mexikanischen Unabhängigkeit ist auf dem Zócalo eine symbolpolitische Schlacht programmiert. Dann soll nämlich dort jene CND stattfinden, auf der sich AMLO zum «Widerstandspräsidenten» oder wenigstens «Koordinator» ausrufen lassen wird. Zu der Kundgebung werden bis zu einer Million Delegierte aus allen Teilen des Landes erwartet. Zeitgleich will Nochpräsident Vicente Fox hier wie jedes Jahr den Unabhängigkeitstag zelebrieren. Zum Programm gehört eine Militärparade auf der Plaza. Um einen Zusammenstoss mit dem Militär zu vermeiden, verkündete AMLO letzten Sonntag zur allgemeinen Erleichterung, werde man das Protestcamp in der Nacht vorher räumen. So wird man sich den Platz aufteilen: vormittags die Parade, nachmittags der linke Massenkonvent. Umkämpft aber bleibt die nationale Symbolik. Den «grito», den traditionellen Ruf im Gedenken an die Unabhängigkeitskämpfe vor zweihundert Jahren, darf nur das Staatsoberhaupt ausstossen. Diesmal wird es wohl zwei «gritos» geben.

* Aus: Wochenzeitung WOZ (Schweiz), 14. September 2006;
Internet: www.woz.ch



Zurück zur Mexiko-Seite

Zurück zur Homepage