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Täglich verschwinden Menschen

In Mexiko ist der Staat in die Kultur der Gewalt maßgeblich verstrickt *


Seit der mexikanische Präsident Felipe Calderón 2006 begann, die Drogenkartelle mit Soldaten und Paramilitärs zu bekämpfen, ist in Mexiko ein brutaler Krieg ausgebrochen, in dem fast 50 000 Menschen umgebracht wurden. Astrid Schäfers sprach für »nd« mit dem Journalisten und Experten auf dem Gebiet des organisierten Verbrechens José Reveles und der Menschenrechtlerin Martha Durán de Huerta über die Hintergründe des Terrors in Mexiko.


nd: Wie erklären sie die massive Zunahme an Verschwundenen in Mexiko, die nichts mit dem Drogenkrieg zu tun haben?

Reveles: Seit ein paar Jahren verschwinden täglich wahllos Menschen in Mexiko, Bürger, Arbeiter. Es werden Entführungen durchgeführt, um Lösegeld zu erpressen. Aber neuerdings handelt es sich häufig um Entführungen, bei denen kein eindeutiges Motiv erkennbar ist. Ich kann aus dem Gedächtnis mindestens zwanzig solcher Fälle aufzählen. Da sind Farbenverkäufer aus Mexiko-Stadt im Norden des Landes verschwunden oder neun Telefontechniker aus Senaloa. Sie waren auf Montage in Nuevo Laredo und wurden entführt, als sie schliefen.

Laut der Regierung entführen kriminelle Banden ihre Feinde. Oder es handelt sich um unschuldige Opfer, die auf Drogentransportwegen reisen, auf denen es sehr viel Gewalt gibt. Aber wir müssen auch annehmen, dass die Regierung über paramilitärische Gruppen eine Art soziale Reinigung vornimmt. Die Zahl der Verschwundenen ist seit 2006 enorm angestiegen, nachdem die Regierung die Armee, die Bundespolizei und die Marine gegen die eigene Bevölkerung einsetzte. Aber die Verschwundenen sind ja nur ein Teil der Gewalt, denn da sind ja noch die Toten. Nach offiziellen Angaben sind bis 2010 35 000 Menschen ermordet worden. Die Wochenzeitung »Seta« aus Tijuana spricht von mehr als 50 000 Morden. Es handelt sich um Exekutionen, um schmerzhafte Morde. Mexiko ist heute eines der gewalttätigsten Länder der Welt. Und jeder kann in dieses Meer der Gewalt hineingezogen werden.

Der Titel ihres 2011 erschienenen Buches lautet: »Erhebungen, Narcogräben und falsche Positive«? Was meinen Sie mit falschen Positiven?

Reveles: Der Begriff »Falsche Positive« stammt aus Kolumbien und bezieht sich auf Morde an Unbeteiligten, die »positiven« Statistiken über die Drogenbekämpfung dienen. Dies können auch Morde sein, die darauf abzielen, »Unbequeme« aus dem Weg zu räumen oder soziale Bewegungen zu kriminalisieren. Da ja so viele umkommen, kann man es leicht so darstellen, als stünden die Narcos hinter allen Morden.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Reveles: Im August 2010 wurden 230 vergrabene Körper zentralamerikanischer Migranten ohne Papiere in San Fernando im Bundesstaat Tamaulipas gefunden. Der Regierung zufolge wurden sie umgebracht, weil sie sich dem Drogenkartell Zetas nicht anschließen wollten. Aber so einfach ist das nicht. »Die Narcos verstecken die toten Körper nicht«, erklärte mir Emílio Álvarez Icaza, von der »Bewegung für Frieden, Gerechtigkeit und Würde«, einer Organisation von Angehörigen von Ermordeten und Verschwundenen um den Dichter Javier Sicilia.

Warum gibt es kaum Daten über die Ermordeten und Verschwundenen?

Durán de Huerta: Die meisten Familienangehörigen zeigen die Verbrechen nicht an. Weil die Gefahr besteht, dass die Polizei mit den Entführern oder Mördern unter einer Decke steckt. Die Regierung gibt auch keine Daten über die Morde heraus, die verschiedenen Behörden schicken einen hin und her oder sagen, dass die Daten in Bearbeitung sind. Es ist absurd, dass es in einem Land mit soviel Gewalt keine Statistiken gibt. Es gibt nur Zahlen, aber diese haben keine Vor- und Nachnamen. Es ist notwendig, die Fälle wirklich aufzuklären, mit Daten über Personen, die gestorben sind oder verschwunden sind.

Gibt es Beweise für Verbrechen von Seiten der Regierung?

Durán de Huerta: Viele Verbrechen sind offen angezeigt und bewiesen worden, Verbrechen von Gouverneuren, die mit Amtsmissbrauch und schlimmen Menschenrechtsverletzungen zu tun haben. Da gibt es das Beispiel des Gouverneurs Ulyses Ruiz in Oaxaca [setzte Militär gegen streikende Lehrer ein, es gab Tote und Verschwundene]. Es gab politische Verhandlungen und er wurde trotz massiver Menschenrechtsverletzungen nicht bestraft.

November 2011 hat eine Gruppe von Rechtsanwälten und sozialer Aktivisten eine Klage gegen die gesamte Staatsklasse wie Präsident Calderón und seinen Sicherheitssekretär Garcia Luna beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag eingereicht. Sie richtet sich auch gegen die Bosse der Drogenkartelle wie Chapo Guzmán. Damit der Gerichtshof etwas macht, denn in Mexiko geschieht nichts, obwohl offensichtlich ist, dass sie Mörder und Räuber sind.

Wie organisieren sich die Familien der Opfer?

Durán de Huerta: Die Familien der Opfer organisieren Proteste, wie die Bewegung für »Bewegung für Frieden, Gerechtigkeit und Würde« von Javier Sicilia. Als sein Sohn ermordet wurde, prangerte er die Regierung und das ganze korrupte System an. Daraufhin trafen sich einige Angehörige von Opfern mit ihm. Sie fingen an, ihre Geschichten zu erzählen. Sie fordern von der Regierung Aufklärung über die Toten und Gerechtigkeit.

Die Bewegung von Sicilia verlangt, dass die Ursachen des organisierten Verbrechens bekämpft werden, die Armut, das Fehlen von Möglichkeiten, von Schulen, die Arbeitslosigkeit. Aber nicht mit Soldaten, sondern durch die Schaffung von Schulen und Möglichkeiten. Denn man kann die Korruption nicht mit Maschinengewehren bekämpfen.

* Aus: neues deutschland, 27. Dezember 2011


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