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"Volkseigene" Polizisten in Guerrero

Autonome Bürgermilizen schützen die Bevölkerung im ärmsten mexikanischen Bundesstaat

Von Wolf-Dieter Vogel *

Sie haben die Hoffnung aufgegeben, dass der Staat sie schützt: Seit sechs Wochen gehen im südmexikanischen Bundesstaat Guerrero selbst ernannte Polizisten gegen die zunehmende Gewalt in der Region vor.

Bewaffnet mit Macheten und Gewehren patrouillieren sie in den Gemeinden, errichten Kontrollstellen und nehmen Personen fest, die sie für Mitglieder krimineller Organisationen halten. 54 Verdächtige haben die »Polizisten« in ihrer Gewalt, elf übergaben sie den staatlichen Behörden. Die Milizen sind zum ersten Mal in Erscheinung getreten, nachdem Anfang Januar der Bürgermeister einer Gemeinde entführt worden war. Innerhalb kürzester Zeit bauten mehrere hundert Dorfbewohner Barrikaden und zwangen die Entführer mit Waffen dazu, den Politiker freizulassen. Inzwischen haben sich mindestens 800 Menschen der »Union der Völker und Organisationen von Guerrero« (UPOEG) angeschlossen. Sie schützen die Bevölkerung in den Regionen Costa Chica und La Montaña vor Entführungen, Überfällen und Mord. Während die staatliche Operation »Sicheres Guerrero« überhaupt nichts gebracht habe, sagt Rosa Rodríguez von der regionalen Bauernorganisation Ocamt, seien die Milizen der UPOEG sehr effektiv. »Sie haben unsere volle Unterstützung.«

Die stark indigen geprägte Gegend zählt zu den ärmsten des ohnehin ärmsten mexikanischen Bundesstaates. In der Provinzhauptstadt Ayutla de los Libres leben 88 Prozent der Menschen in Armut, die Hälfte der Einwohner hat nicht genug zu essen. Schon lange dominieren hier die Kartelle das tägliche Leben, in enger Zusammenarbeit mit lokalen Politikern und Polizisten terrorisieren sie die Bevölkerung. Deshalb hat sich schon vor 17 Jahren eine Autonome Gemeindepolizei (CRAG) gegründet, die nach indigenen Regeln in der Region ihren Dienst versieht und staatliche Sicherheitskräfte nicht respektiert. »Angesichts der Angriffe des Organisierten Verbrechens gegen die indigene Bevölkerung lässt die Regierung den Menschen keinen anderen Weg, als den Schutz ihres Lebens und ihre Sicherheit selbst in die Hand zu nehmen«, erklärt die in La Montaña ansässige Menschenrechtsorganisation Tlachinollan.

Auch einige Aktivisten aus der jetzt entstandenen Bürgerwehr stammen aus der CRAG. Die aber steht den Milizen etwas zurückhaltend gegenüber. Staatliche Vertreter haben dagegen ungewöhnlich hilfsbereit und offen auf die »volkseigenen« Polizisten reagiert. Wenige Tage nach deren Erscheinen traf sich der Gouverneur Àngel Aguirre Rivero mit den Milizen. Er bot der UPOEG Unterstützung in Form von Fahrzeugen, Uniformen und Sprechfunkgeräten an. »Wir sollten eine Verfassungsreform vorschlagen, die eine Beteiligung der Gemeindepolizei vorsieht«, meinte er. Und Innenminister Miguel Àngel Osorio Chong ließ wissen: »Wir verstehen euch, und deshalb müssen wir alle Kraft des Staates aufwenden, um euch zu schützen.«

Solche Erklärungen stimmen die Aktivisten vor Ort skeptisch, zumal die CRAG nie von föderalen Behörden anerkannt wurde. Sie befürchten eine Vereinnahmung der Bürgerwehr und rechnen damit, dass im Windschatten vermeintlicher staatlicher Hilfe verstärkt Soldaten in die Dörfer einrücken und damit die Angriffe der Uniformierten auf Zivilisten zunehmen. Dennoch spricht etwa Tlachinollan von einem »emanzipatorischen Kampf« und erklärt unmissverständlich: »Die bundesstaatlichen und föderalen Regierungen müssen verstehen, dass der Kampf für die Rechte der Bevölkerung grundlegender Teil eines alternativen Projektes ist, das eine antikoloniale und antikapitalistische Ausrichtung hat.«

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 20. Februar 2013


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