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Wassertropfen in der endlosen Wüste

An der Grenze USA – Mexiko versuchen "Border Angels", Menschenleben zu retten

Von Kerstin Zilm, Los Angeles

Die Temperaturen an der Grenze zwischen Mexiko und den USA steigen bis über 45 Grad. Trotzdem und trotz Grenzkontrollen machen sich täglich tausende Menschen auf den Weg. Eine Organisation aus San Diego deponiert Wasser und rettet damit Leben.

12 Uhr mittags auf einem Friedhof 200 Kilometer östlich San Diegos. Gleißende Sonne. Kein Schatten. Auf roter, ausgetrockneter Erde liegen ein paar Backsteine. Hinter manchen sind schlichte Holzkreuze aufgebaut. Ein kräftiger Mittfünfziger in schwarzen Jeans und schwarzem T-Shirt liest den Brief einer Mutter, deren Sohn beim Überqueren der Grenze von Mexiko in die USA in der Wüste starb. Sie schreibt: »Er war fleißig, ehrlich und wollte etwas erreichen. Der Schmerz wird nie mein Herz und meine Seele verlassen.«

Enrique Morones ist Gründer der Hilfsorganisation »Border Angels« (Grenzengel). Er erklärt den freiwilligen Helfern, die mit ihm an die Grenze zu Mexiko gekommen sind, dass sie vor einem Massengrab stehen. Mehr als 700 Menschen sind hier begraben, gestorben beim Versuch, die USA zu erreichen. »Niemand von denen, die hier begraben sind, hat damit gerechnet, auf dem Weg gen Norden zu sterben. Ihre Familien warten noch auf Nachricht, sie wissen nicht, ob sie leben oder tot sind«, sagt er und fordert seine Begleiter auf, frische Holzkreuze aufzustellen, die er mitgebracht hat.

Laut US-Statistikbüro versuchen täglich mehr als 2000 Menschen, die Grenze zwischen Mexiko und den USA illegal zu überqueren. Viele unterschätzen die Risiken, die sie in der Wüste erwarten. Sie wissen nicht, dass bei der beschwerlichen Reise täglich zwei Menschen sterben.

Enrique Morones und seine Helfer wollen weiteres Sterben verhindern. Die Politikstudentin Cynthia hilft zum dritten Mal dabei, Wasserkanister in der Wüste zu deponieren. »Wir bekommen einen kleinen Eindruck davon, was die Einwanderer auf ihrer Wüstendurchquerung erleben«, erzählt sie, während sie schwitzend ein Kreuz in die harte Erde drückt. »Ich kann mir jetzt vorstellen, wie sie da draußen langsam das Bewusstsein verlieren.«

Morones reist oft in mexikanische Dörfer und warnt vor den Gefahren der Grenzüberquerung. Doch den meisten sei die Hoffnung auf eine bessere Zukunft das Risiko wert. »Die Bewohner sehr armer Regionen hören Erfolgsgeschichten. Jemand aus dem Nachbardorf hat in den USA ein Restaurant eröffnet. Sie denken: Das kann ich auch!«, erzählt er von typischen Gesprächen. »Wenn sie hören, dass jemand gestorben ist, sagen sie: Die waren nicht vorsichtig!« Morones aber weiß: Sie waren vorsichtig! Es ist sehr leicht, in der Grenzwüste zu sterben.

Die Autofahrt der »Border Angels« endet an einer vier Meter hohen Mauer aus verschweißten Metallplatten. Daneben steht über einem plattgewalzten Sandweg flimmernde Hitze. Unweit steht ein Kleinlaster der Grenzpatrouille. Beobachtet von den Polizisten, tragen die »Border Angels« Wasserkanister aus dem Kofferraum zu Felsen und Dornenbüschen. Morones warnt vor Schlangen, Skorpionen und Spinnen. Angesichts der endlosen Steinwüste vor ihnen scheinen die Kanister nur der berühmte Tropfen auf den heißen Stein zu sein. Cynthia und der Ernährungswissenschaftler Ryan sind trotzdem überzeugt davon, dass es sich lohnt. Ryan wischt sich den Schweiß von der Stirn. »Wenn du schon mal richtig durstig warst, dann weißt du, wie wichtig etwas Wasser sein kann. Hier kann es über Leben und Tod entscheiden.« Und Cynthia ergänzt: »Es ist wahr, wir können nicht die ganze Wüste abdecken. Aber der Gedanke, dass ein Mensch dieses Wasser findet und ich dadurch ein Leben retten kann, inspiriert mich.«

Eine Stunde später fahren sie zurück nach San Diego, dankbar für die kühle Luft aus der Klimaanlage. Eine Weile führt die Straße parallel zum Metallzaun, der die USA von Mexiko trennt. Irgendwo unter der flimmernden Hitze zwischen Dornenbüschen verstecken sich Immigranten, die auf ein besseres Leben hoffen.

* Aus: Neues Deutschland, 17. Mai 2011


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