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"Frauen gelten als verzichtbar"

Norma Andrade über den Mord an ihrer Tochter und das Verschwindenlassen von jungen Frauen in Mexiko


Die Mexikanerin Norma Andrade ist Gründerin der Organisation »Nuestras hijas a casa ya« (etwa: »Unsere Töchter sollen nach Hause kommen«) und setzt sich gegen Gewalt gegen Frauen ein. Dafür wurde sie in Berlin mit dem Alice Salomon Award der Alice Salomon Hochschule ausgezeichnet. Mit der Frauenrechtlerin sprach Johanna Treblin über den Mord an ihrer Tochter.


Noch 2003 wurde zehn Jahre nach den ersten Entführungen und der Ermordung junger Frauen in einem Artikel im »nd« über die Gründe spekuliert. Weiß man heute mehr?

Früher hat man die Frauen ein oder zwei Wochen nach ihrer Entführung aufgefunden – mit Spuren von Folter und Vergewaltigung. Seit 2008 werden sie in der Regel erst zwei oder drei Jahre später gefunden. Wir, die Mütter, glauben, dass seitdem eine organisierte Bande hinter den Entführungen steckt, um die Frauen zu prostituieren.

Anfangs hieß es noch, die Täter seien Psychopathen, später, Drogenhändler seien darin verstrickt.

Das konnten wir bisher nicht beweisen, nehmen es aber an. Die Drogenkartelle haben zunehmend Probleme bekommen, ihre Ware in die USA zu schmuggeln. Deshalb haben sie ihre Strategie geändert und junge Frauen als Kuriere eingesetzt. Wir wissen zumindest von einer Mexikanerin, die in den USA in die Prostitution gezwungen wurde und sich befreien konnte.

Der Frauenhandel ist also in der Regel grenzüberschreitend?

Ja, vor allem in die USA. Vor kurzem ist dort – ich glaube, es war in New York – auch eine Bande aufgeflogen, die Mexikanerinnen in die Prostitution gezwungen hat. Einige der Bandenmitglieder sind tatsächlich ins Gefängnis gekommen.

Auch Ihre Tochter wurde 2001 entführt und ermordet. Sie haben daraufhin die Organisation »Unsere Töchter sollen nach Hause kommen« gegründet. Ihre Tochter lebt allerdings nicht mehr – was wollen Sie dennoch erreichen?

Ich bin in erster Linie eine Mutter, und ich will Gerechtigkeit. Ich habe mich zunächst einfach mit anderen Müttern zusammengetan, um gegen die Zustände zu protestieren und eine Verurteilung der Mörder zu fordern. Der Staat hat uns dann dazu gedrängt, eine Organisation zu gründen. Anders als Alice Salomon, die aus Überzeugung für ihre Ideale gekämpft hat, hat uns die Realität überwältigt. Unser Ansatz ist ein persönlicher.

Aber Sie verfolgen auch ein politisches Ziel?

Nein. Unser Kampf wird von der Politik selbst politisiert. Wir wollen einzig wissen, was mit unseren Töchtern passiert ist, und dass deren Mörder ins Gefängnis gehen. Außerdem sollen sich Frauen frei auf der Straße bewegen können.

Sind das keine politischen Forderungen?

Eigentlich nicht. Das sind unsere fundamentalen Rechte – die eines jeden Menschen. Klar kann man es als politische Aktion ansehen, wenn wir demonstrieren. Aber genau genommen ist es ein juristischer Kampf.

Trotzdem stellen Sie explizite Forderungen an die Regierung?

Ja. Ich beispielsweise klage gegen die Verletzung meiner Menschenrechte und der meiner Tochter Alejandra und ihrer Kinder – weil die Regierung uns Gerechtigkeit verweigert: Sie weiß genau, wer der Mörder meiner Tochter ist, hat ihn aber wieder freigelassen. Das Verschwindenlassen von Frauen gilt nicht als Straftat.

Es ist kein Verbrechen, Frauen verschwinden zu lassen?

Nein. Das ist auch eine unserer Forderungen: dass das endlich als Straftat auf Bundesebene anerkannt wird und nach den Tätern gesucht wird, ohne dass wir die Regierung um einen Gefallen bitten müssen.

Woher wissen Sie, dass der Mörder Ihrer Tochter bekannt ist?

Durch die DNA-Analyse. Man hat die DNA des Vergewaltigers von Alejandra mit der offiziellen Datenbank verglichen und Übereinstimmungen gefunden. Wenn man darum bittet, lässt der Staat die DNA-Analysen durchführen – aber er hat kein Interesse daran, auch Konsequenzen daraus zu ziehen.

Was ist das für eine Datenbank?

Es gibt seit 2006 oder 2007 eine DNA-Datenbank für die Opfer und seit 2009 auch eine für die Täter.

Vor 20 Jahren gab es noch ungefähr einen Mord pro Woche in Ciudad Juárez, mittlerweile ist es einer pro Tag. Haben Sie trotzdem das Gefühl, dass Ihre Organisation Erfolge erzielt hat?

Wir erzielen immer wieder Fortschritte, aber mit jedem Regierungswechsel müssen wir praktisch wieder von vorne anfangen. Die DNA-Datenbanken sind einer unserer Erfolge. Außerdem haben wir erreicht, dass die Staatsanwaltschaft eine Abteilung bekommen hat, die sich explizit mit dem Thema befasst.

Aber warum werden es immer mehr Frauen und nicht weniger?

Bis heute sind rund 190 000 Frauen verschwunden und 36 000 ermordet worden – die meisten in Ciudad Juárez. Wie man sieht, werden nur ganz wenige gefunden und nur, wenn jemand zufällig am Leichnam vorbeiläuft und ihn sieht. Die Regierung ist nicht daran interessiert, etwas an der Situation zu verändern. Frauen gelten als verzichtbar.

Sie haben Schüsse abbekommen und wurden mit einem Messer attackiert. Haben Sie keine Angst?

Doch, ich habe viel Angst. Aber ich habe nichts verbrochen und weigere mich, mich wie eine Maus in ihrem Loch zu verstecken. Und das will ich auch nicht für meine Enkel.

Sie haben kürzlich einen Preis von der Alice Salomon Hochschule in Berlin erhalten. Gehen Sie davon aus, dass dieser für Ihr Engagement hilfreich sein wird?

Ich denke, dass es ein Druckmittel für die Regierung ist, wenn wir internationale Unterstützung erhalten – allein dadurch, dass unsere Arbeit anerkannt wird. Die Regierung kann so nicht mehr behaupten, dass es diese Frauenmorde gar nicht gibt.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 7. August 2013


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