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"Das Organisierte Verbrechen ist Teil des Staates"

Imelda Marrufo und Andrea Medina über die Frauenmorde im mexikanischen Ciudad Juárez *


Seit über zwanzig Jahren werden an der Nordgrenze Mexikos Frauen gezielt ermordet. Mit steigender Tendenz: Allein 2010 wurden 304 Morde an Frauen gezählt, mehrere Tausend sind verschwunden. Angesichts der allgemeinen Straflosigkeit in Mexiko ist es nicht der Staat, sondern eine starke Frauenbewegung, die sich für Aufklärung einsetzt. Mit Imelda Marrufo, Menschenrechtsaktivistin aus Ciudad Juárez, und der Anwältin Andrea Medina sprach für "Neues Deutschland" (ND) Georgina Fakunmoju.

ND: Erst seit 1993 werden in Ciudad Juárez Gewalttaten gegen Frauen systematisch erfasst. Handelt es sich bei den Feminiziden um individuell motivierte Straftaten oder um ein strukturelles Phänomen?

Medina: Wir verstehen Feminizide als strukturelle Diskriminierung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts. Das heißt nicht, dass es zum Mord kommen muss, sondern dass das Leben der Frauen in Gefahr gebracht wird. Die Gewalt äußert sich zwar auch auf individueller Ebene. Aber in erster Linie existieren Strukturen, die die Morde nicht nur erlauben, sondern begünstigen.

Welche sozialen und politischen Strukturen sind das?

Marrufo: Bei den Opfern handelt es sich meist um junge Fabrikarbeiterinnen. Der Staat hat in den letzten vierzig Jahren im Norden zugunsten der ausländischen Exportindustrie investiert, die Arbeitsbedingungen der oft armen Migrantinnen sind schlecht. Auf der anderen Seite existiert eine Zusammenarbeit zwischen Regierungs- und Kommunalpolitik, die von der Exportindustrie, aber auch vom Drogen-, Waffen- und Menschenhandel profitiert.

Kaum ein Mordfall wird strafrechtlich verfolgt.

Marrufo: Das Organisierte Verbrechen ist Teil des Staates. Es existiert ein hoher Grad an Straflosigkeit, in nur vier Prozent der Fälle wird ein Urteil gesprochen. Meist werden nicht einmal die ersten Untersuchungsschritte eingeleitet.

Wie effektiv ist dagegen die Arbeit der Frauenorganisationen?

Marrufo: Die Frauenbewegung von Ciudad Juárez ist aus dem Verfahren entstanden, über zwanzig Jahre hinweg die Verbrechen zu dokumentieren und anzuprangern. Diese Art der Intervention gibt es woanders nicht.

Medina: Ciudad Juárez ist nicht deshalb bekannt, weil es dort die meisten Morde an Frauen gibt, andernorts ist die Situation sogar noch schlimmer. Die internationale Beachtung für Ciudad Juárez ist vielmehr ihrer Bürgerbewegung und der jahrzehntelangen Arbeit zu danken. Ohne eine starke Zivilgesellschaft gäbe es diese Solidarität nicht.

Aktivistinnen und Anwältinnen werden immer wieder bedroht, im letzten Jahr wurden drei Menschenrechtlerinnen aus Ciudad Juárez ermordet.

Medina: Die Forderung nach Gerechtigkeit macht die Arbeit der Aktivistinnen besonders gefährlich. Der Staat fühlt sich davon angegriffen. Dadurch, dass er über unsere Lage Bescheid weiß und uns keine Sicherheit garantiert, erlaubt er den anonymen Tätern, diese Morde zu begehen.

Marrufo: Die Kriminalität in Mexiko und speziell in Ciudad Juárez hat sich verselbstständigt. Es gibt keinen Schutz, niemand weiß, wer als nächstes getötet wird. Aber wir wissen, dass der mexikanische Staat in Komplizenschaft mit den Morden steht. Wir haben keinen Zweifel daran, dass der Staat die Verantwortung dafür trägt.

Am 6. November 2009 hat der Interamerikanische Gerichtshof, vergleichbar mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, den Tatbestand des Feminizids als Menschenrechtsverbrechen zum ersten Mal in einem Urteil anerkannt und den mexikanischen Staat in drei Fällen schuldig gesprochen.

Medina: Ja, Mexiko wurde schuldig gesprochen, die Sicherheit, Integrität und Freiheit der drei ermordeten Frauen sowie ihrer Mütter und Familienangehörigen nicht garantiert zu haben.

Auch dieses Urteil hat nicht zur Erfassung der Täter geführt. Warum?

Medina: Die Internationalen Gerichtshöfe ermitteln nicht gegen die individuellen Täter, sie prüfen die Verantwortung des Staates in Bezug auf die Verletzung von Menschenrechten. Mexiko wurde aufgefordert, unmittelbar die Ermittlungen gegen die tatsächlichen Täter einzuleiten. Auf der internationalen Bühne tut Mexiko so, als würde das Urteil umgesetzt. Wir im Lande sehen aber, dass das nicht wahr ist. Der erste Indikator für eine tatsächliche Strafverfolgung wäre die Verringerung der Mord- und Entführungsraten von Frauen. Aber im Gegenteil: Ein Jahr nach der Urteilsverkündung sind die Zahlen weiter gestiegen. Deshalb brauchen wir die Unterstützung der Internationalen Gemeinschaft.

Inwiefern kann das Urteil im Fall »Campo Algodonero« helfen, die Menschenrechte der mexikanischen Bevölkerung in Zukunft durchzusetzen?

Medina: Schon vor dem Urteil haben Vertreter internationaler Organisationen Ciudad Juárez besucht. Es gibt Hunderte Empfehlungen, um Mexiko zur Erfüllung der Auflagen zu bewegen. Mit dem Urteil des Interamerikanischen Gerichtshofs haben wir nun zum ersten Mal ein konkretes Werkzeug zur Hand, um die Menschenrechte in Mexiko einzuklagen. Aber noch einmal: Das wird nur mit internationalem Druck möglich sein.

Detaillierte Fallanalyse unter: www.campoalgodonero.org.mx auf Spanisch und Englisch.

* Aus: Neues Deutschland, 3. Mai 2011


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