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Die Bühne, auf der die Zukunft geprobt wurde

Mexiko, Zufluchtsort deutscher Hitlergegner - Ein vergessenes Kapitel Geschichte?

Von Hans Modrow *

Was ist in dem »kurzen« 20. Jahrhundert geschehen und steht als Herausforderung für die Zukunft eigentlich vor uns?

In den Jahren 1929/31 wurde die kapitalistische Welt von ihrer bis dahin größten Wirtschaftskrise erschüttert. Es begann die Suche nach Auswegen. In den USA kam es zum »New Deal«, heute wird nach einem neuen »New Deal« gerufen. In Europa kam damals der Faschismus an die Macht - in Italien und Deutschland.

Die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise ist wie damals eine Krise des globalen kapitalistischen Systems. Bekanntlich stürzten damals die faschistischen Mächte die Welt in einen erneuten Krieg, den mörderischsten aller Zeiten. Hunderttausende wurden zur Flucht aus ihren Heimatländern gezwungen. Mexiko war ein Land, in dem sie Zuflucht fanden. Anna Seghers, Bodo Uhse, Ludwig Renn und andere prominente deutsche Schriftsteller und Intellektuelle fanden ein Exil. Genaue Angaben gibt es leider nicht, aber es kann davon ausgegangen werden, dass 1942/43 etwa 100 deutsche Kommunisten in Mexiko angelandet waren, etwa 70 Prozent von ihnen waren jüdischer Herkunft. Sie gründeten im Januar 1942 die Bewegung »Freies Deutschland« - über ein Jahr vor Gründung des »Nationalkomitees Freies Deutschland« in Krasnogorsk bei Moskau.

Deren Leitung wurde Ludwig Renn angetragen. Er besaß großes Vertrauen unter den Exilanten und auch die Fähigkeit, einer solchen Bewegung Richtung und Kraft zu geben. Der ehemalige Offizier hatte im spanischen Bürgerkrieg sein strategisches und taktisches Talent bewiesen. Der Schriftsteller arbeitete jedoch zugleich als Wissenschaftler an der Universität Morelia. Die Initiatoren der Bewegung »Freies Deutschland« in Mexiko wählten Renn im Februar 1942 zum Vorsitzenden und baten ihn, nach Mexiko City zu übersiedeln. Im März kam er dieser Aufforderung nach, obwohl ihm der Abschied von seinen Studenten in Morelia, die er in Deutsch, Englisch, Französisch und in europäischer Geschichte unterrichtete, schwer fiel.

Geistige Basis für die Arbeit der Bewegung war die schon seit Herbst 1941 herausgegebene Zeitschrift »Freies Deutschland«. Sie sollte im Sinne der Beschlüsse der Berner und Brüsseler Konferenzen der KPD der Entwicklung einer Volksfront gegen den deutschen Faschismus und dessen »fünften Kolonnen« in den Ländern Lateinamerikas dienen. Anfang 1942 wird Alexander Abusch Chefredakteur der Zeitschrift. Schon die erste Ausgabe bringt einen Bericht von Friedrich Wolf von der Front vor Moskau. Von Lion Feuchtwanger, Jürgen Kuczynski, Pablo Neruda erscheinen Artikel. Hilfe gab es auch von der sowjetischen Botschaft. Durch die große Zahl der Beiträge namhafter Autoren wie Heinrich Mann aus den USA, Bredel, Wolf, Becher aus Moskau sowie Seghers, Uhse, Kisch und viele andere aus Mexiko war »Freies Deutschland« die wohl bedeutendste literarisch-politische Zeitschrift des deutschen antifaschistischen Exils überhaupt. »Freies Deutschland« wurde nicht nur in Ländern Lateinamerikas gelesen, sondern gar in Shanghai.

Mit Paul Merker und Alexander Abusch hatte Ludwig Renn erfahrene Politiker an seiner Seite. Gemeinsam gelang es ihnen, in vielen Ländern Lateinamerikas Gruppen des Bundes »Freies Deutschland« ins Leben zu rufen. Es galt, in den Reihen der Exilanten zu wirken und deutsche Ansiedler dem Einfluss der Nazis zu entziehen, was zum Teil auch gelang. Dennoch bleibt festzuhalten, dass nach Ende des Zweiten Weltkrieges viele Faschisten in Lateinamerika untergekrochen sind und sich ihrer Strafe entzogen.

Als Nazideutschland geschlagen und der Krieg beendet war, brauchte es noch einige Zeit bis zum endgültigen Ende des Exils. Manche Flüchtlinge blieben in ihren Exilländern, aber viele strebten zurück in die Heimat nach Deutschland.

Anfang 1946 löste sich der Heinrich-Heine-Club in Mexiko, dem Anna Seghers vorstand, auf. Und auch der Bund »Freies Deutschland« stellte seine Arbeit ein. In einer Schrift des Heinrich-Heine-Clubs von 1946 sind unter dem Titel »Heines Geist in Mexiko« Abschiedsgedanken veröffentlicht, die noch heute tief bewegen. Anna Seghers schrieb: »Heine hat alle Stadien der Emigration mit uns geteilt. Die Flucht und die Heimatlosigkeit und die Zensur und die Kämpfe und das Heimweh. Wir sind jetzt auf einem Punkt angelangt, wo er uns allein weiterfahren lässt: die endgültige Heimkehr.« Und die Schauspielerin Steffi Spira, die ebenfalls in mexikanischer Emigration war, äußerte: »Mein Wunsch ist es, dass wir, nach Deutschland oder Österreich zurückgekehrt, eine so kunst- und theaterfreudige Gemeinschaft wiederfinden, die uns - wie in Mexiko der Heinrich-Heine-Klub - mit Freude und Begeisterung hilft, eine Bühne, auch ohne Kulissen, hervorzuzaubern, eine Bühne, auf der wir am Aufbau einer neuen Gegenwart und einer besseren Zukunft mithelfen können.« Viele Gedanken und Wünsche für die Zukunft sind letztlich trotz aller Mühe nicht Realität geworden.

Merker und Abusch gelangten im Juli 1946 über Wladiwostok nach Berlin. Anna Seghers kehrte erst 1947 zurück. Der Kalte Krieg hatte schon begonnen. In der sowjetischen Besatzungszone hatte sich die Vereinigung von KPD und SPD vollzogen, Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl führten den Vorsitz, Walter Ulbricht war der Mann im Hintergrund. Die Städte lagen in Trümmern und die geistigen Trümmer waren wie hohe Berge. Vor allem die Jugend wanderte zwischen den beiden Welten, der faschistischen Ideologie und der nun angestrebten antifaschistisch-demokratischen Ordnung. Der Aderlass unter den Funktionären von KPD und SPD war groß. Für politische Emigranten gab es viel Raum zur Mitarbeit.

Noch bevor Merker in Deutschland ankam, war er in den Parteivorstand der SED gewählt worden. Abusch nahm sofort in der Führung des neu gegründeten Kulturbundes seine Tätigkeit auf. Doch das Jahr 1950 brachte eine Überprüfung aller Mitglieder der SED, einige tausend Mitglieder wurden aus der Mitgliederliste gestrichen, Hunderte Parteiverfahren eröffnet. Eine Gruppe von Emigranten wurde vor besondere, voreingenommene Kommissionen geladen,. Die Geheimdienste der Sowjetunion und der anderen volksdemokratischen Länder gingen davon aus, dass Noel Field, ein Vertrauter des sowjetischen Geheimdienstes, zugleich ein Agent westlicher Dienste gewesen sei. Jeder Kontakt mit ihm, der in Prag, Paris oder in Südfrankreich entstanden sein konnte, wurde als Verrat ausgelegt. In Ungarn und der Tschechoslowakei führten Schauprozesse zu Todesurteilen. In der DDR wurde Merker zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Auch gegenüber Abusch gab es Misstrauen, er musste seine Ämter niederlegen. Das Ministerium für Staatssicherheit suchte Kontakte zu ihm, um Auskünfte über eventuelle trotzkistische Einflüsse unter den Exilanten zu erfahren.

Abuschs Karriere setzte sich 1952 fort. Er wurde Staatssekretär und später Minister für Kultur, schließlich auch Stellvertreter des Ministerpräsidenten. Merker wurde vorzeitig entlassen und rehabilitiert.

Verbindend für die Exilanten in Mexiko waren die Bestrebungen der Bewegung »Freies Deutschland« für ein neues Deutschland mit einer sozialistischen Zukunft gewesen. Diese Orientierung war es, die sie nach Deutschland zurückkehren ließ, in die SBZ/DDR führte und an der sie auch in Konfliktsituationen festhielten. Merker bekundet auch nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis seine unerschütterliche Verbundenheit mit der Sowjetunion als Vorsitzender der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft im Kreis Königswusterhausen.

Literatur und Kunst sahen die Kommunisten im mexikanischen Exil auf das Engste mit Politik verbunden. Die Weltfriedensbewegung war eng mit dem Wirken von Anna Seghers, Ilja Ehrenburg und anderen Schriftstellern verbunden. Sie trennten ihre literarischen Werken nicht von ihrem persönlichen politischen Handeln. Wenn Anna Seghers noch in Mexiko sagte, sie wolle an der Umerziehung des deutschen Volkes und des »verlorenen Sohnes« teilnehmen, dann spricht dies für ein großes humanistisches Selbstverständnis und für die Hoffnung, die Köpfe junger Deutscher von der faschistischen Ideologie zu befreien. Das war nach dem Sieg der Alliierten über das faschistische Deutschland eine historische Herausforderung.

Es gibt keinen einfachen Mechanismus zwischen Literatur und politischer Überzeugung. Aber das gesellschaftliche Klima, in dem politisches Denken und Verhalten entsteht, wird durch Literatur und Kunst beeinflusst. Antifaschistische Literatur und Bühnenstücke haben das Denken und Fühlen meiner und späterer Generationen erreicht und beeinflusst. Jeder Versuch eines, wie heute behauptet, »verordneten Antifaschismus« wäre fehlgeschlagen.

Wo Kriegsdarstellungen in so genannten »Landserheften« als Lesestoff in der Nachkriegszeit dienten, blieb der Geist der faschistischen Wehrmacht in den Köpfen. Der antifaschistische Geist des Heinrich-Heine-Klubs und der Bewegung »Freies Deutschland« wirkten weit über die Zeit des Exils in Mexiko hinaus und haben in der DDR Generationen beeinflusst. Und bis zum Ende der DDR war das antifaschistische Exil in Mexiko ein Fundament der guten Beziehungen zwischen beiden Staaten.

Migration und Engagement

Wie wichtig die Erinnerung an die antifaschistische Tradition Kontinente übergreifend ist, machte vor einigen Wochen ein Internationales Symposium der Friedrich-Ebert-Stiftung zum Thema »Migration und politisches Engagement: Deutsche Aktivisten in Lateinamerika« deutlich. In der Ankündigung dazu hieß es: »Im Gegensatz zu den Auslandsaktivitäten des Nationalsozialismus scheint das politische Engagement deutscher Aktivisten anderer politischer Richtungen eher in Vergessenheit geraten zu sein.«
In der Tat geht es darum, gegen dieses Vergessen zu arbeiten. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat mit einer Konferenz im November vergangenen Jahres in Mexiko einen richtigen Schritt in diese Richtung unternommen.



* Aus: neues deutschland, 7. Januar 2012


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