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Mexiko hat die "Schnauze voll"

Massenproteste gegen den Drogenkrieg von Präsident Felipe Calderón

Von Luz Kerkeling *

Mehr als 100 000 Menschen demonstrierten in Mexiko-Stadt gegen den »Krieg gegen die Drogen« von Präsident Felipe Calderón. 20 000 Zapatisten forderten in Chiapas »Kein Blutvergießen mehr!«

Am vergangenen Sonntag endete ein viertägiger Friedensmarsch gegen den »Krieg gegen die Drogen«, den die konservative Regierung von Präsident Felipe Calderón seit 2006 führt, mit einer Großdemonstration auf dem Hauptplatz von Mexiko-Stadt. »Wir haben die Schnauze voll!« und »Kein Blutvergießen mehr!« waren die dominierenden Parolen der rund 100 000 Teilnehmer der Kundgebung, die durch eine enorme soziale Vielfalt geprägt war. Unter den Unterstützern der Proteste befanden sich sowohl Unternehmer, Studierende, Kirchenvertreter, Aktivisten von Gewerkschaften, kleinbäuerlichen und indigenen Verbänden sowie Frauen- und Menschenrechtsorganisationen als auch Angehörige des bürgerlichen Mittelstandes.

Zur Mobilisierung hatte eine Gruppe um den Schriftsteller Javier Sicilia aufgerufen, dessen Sohn zusammen mit sechs weiteren Personen vermutlich von Drogenhändlern Ende März brutal ermordet worden war. Sicilia hatte daraufhin einen empörten öffentlichen Brief verfasst, der eine enorme Mobilisierung in der mexikanischen Bevölkerung nach sich zog.

Mehr als 35 000 Menschen sind seit Dezember 2006 getötet worden, nachdem Präsident Calderón massive Polizei- und Militäreinsätze im gesamten Land angeordnet hatte, um die Drogenkartelle zu bekämpfen.

Die zentralen Forderungen der sich zunehmend organisierenden Zivilgesellschaft wenden sich nicht nur gegen die Banden des organisierten Verbrechens, sondern auch gegen korrupte Funktionäre und Sicherheitskräfte des mexikanischen Staates, die auf sämtlichen Ebenen mit den Drogenkartellen verwoben sind. Javier Sicilia betonte den am Allgemeinwohl orientierten Charakter der Bewegung: Es ginge um »eine Suche, damit wir wieder gesunde Institutionen haben und nicht mehr unter dem Verbrechen leben«. Die »Bewegung für Frieden mit Gerechtigkeit und Würde«, in der über 100 Organisationen vereint sind, schlägt eine umfangreiche Strategie vor, um »das Land neu aufzubauen«: Die Täter und Hintermänner der Verbrechen sollen festgenommen, die Militarisierung des Landes beendet, die Korruption und die Straflosigkeit bekämpft und die ökonomischen Aktivitäten des organisierten Verbrechens endlich verfolgt werden.

Die Bewegung zeichnet sich durch eine große Skepsis gegenüber der etablierten politischen Klasse aus. Sie fordert, dass durch die Einführung einer partizipativen Demokratie und durch die Demokratisierung der Medienoligopole das soziale Miteinander wieder hergestellt werden soll. Durch Investitionen in Bildung und die Schaffung von Arbeitsplätzen soll der Drogenmafia die Rekrutierung von Handlangern erschwert werden. Liefert die Regierung keine Ergebnisse, will die Bewegung Maßnahmen des zivilen Widerstands ergreifen. Um die Aktivitäten der Staatsfunktionäre zu überprüfen und gegebenenfalls Rücktrittsforderungen zu artikulieren, werden sich Anfang Juni zivilgesellschaftliche Kommissionen treffen, die von »Spezialisten und ehrenhaften Personen« gebildet werden sollen.

Die alte Kolonialstadt San Cristóbal de las Casas wurde am vergangenen Samstag von rund 20 000 Unterstützern der Zapatistischen Befreiungsarmee EZLN regelrecht überflutet. Ein beeindruckender Schweigemarsch, eine der größten Demonstrationen in der Geschichte der außerparlamentarischen linken Bewegung, verwandelte den Hauptplatz in ein Meer von vermummten Rebellen, deren zentrale Forderung »Schluss mit dem Krieg von Calderón!« lautete. Die schon lange rein zivil agierende Bewegung hatte sich dem Aufruf Sicilias gegen den Drogenkrieg angeschlossen und so eine ganze Welle von Unterstützung durch viele Basisorganisationen in ganz Mexiko ausgelöst.

In der zentralen Botschaft der EZLN prangerte Comandante David die gescheiterte Strategie von Präsident Calderón und allen Regierungsebenen an: »Die schlechten Regierungen haben das Problem geschaffen, und sie haben es nicht nur nicht gelöst, sondern noch erweitert und vertieft. Wir sind auf die Straße gegangen, weil wir uns aufgerufen fühlten, durch die würdevolle Wut von Müttern und Vätern von Jugendlichen, die durch kriminelle Banden und durch den Zynismus der Regierung umgebracht wurden.«

Die Demonstranten unterstrichen die Komplexität der aktuellen mexikanischen Realität. Sie forderten nicht nur die Entmilitarisierung des Landes, sondern auch eine Abkehr von der fatalen neoliberalen Wirtschaftspolitik sowie Autonomie für die mehr als 60 indigenen Bevölkerungsgruppen im Land.

Comandante David betonte, dass die Angehörigen der Opfer des Drogenkrieges nicht allein seien und dass die Zapatisten mit ihnen solidarisch sind. Er beendete die Rede mit folgenden Worten: »Heute sind wir hier, um dem Aufruf jener zu antworten, die für das Leben kämpfen. Und denen die schlechte Regierung mit Tod antwortet. Es geht um einen Kampf für das Leben und gegen den Tod. Es lebe das Leben, die Freiheit, die Gerechtigkeit und der Frieden! Tod dem Tod! Für alle alles, für uns nichts!«

* Aus: Neues Deutschland, 10. Mai 2011


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