Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Eroberungskrieg der Eliten

Mexiko: Kampf gegen Drogenkartelle richtet sich auch gegen soziale Bewegungen. Militarisierung dient der Aufstandsbekämpfung

Von Luz Kerkeling *

Der vielzitierte »Krieg gegen die Drogen« in Mexiko, der seit dem Amtsantritt der Regierung von Felipe Calderón von der konservativ-neoliberalen Partei der Nationalen Aktion (PAN) Ende 2006 über 60000 Tote, Tausende Verschwundene und rund 250000 Vertriebene verursacht hat, geht weit über die Auseinandersetzungen zwischen kriminellen Kartellen und Staat hinaus. Freilich kämpft ein Teil der staatlichen Sicherheitskräfte gegen Elemente des organisierten Verbrechens – gleichzeitig gibt es Hunderte von Beweisen, daß Armee, Polizei und weitere Staatsorgane häufig in kriminelle Handlungen verstrickt sind oder sie zumindest dulden.

Javier Sicilia, prominenter Dichter und Journalist, der die mexikoweite »Bewegung für den Frieden mit Gerechtigkeit und Würde« mitinitiiert hat, qualifizierte im Juni 2012 die Administration von Calderón als »Horror, Verbrechen und Zerstörung des politischen Lebens«. Die linksgerichtete Zapatistische Armee zur nationalen Befreiung (EZLN) diagnostizierte gar eine Verwahrlosung des Sozialen im Land. Bereits 2011 beschrieb Subcomandante Marcos, Militärchef und Sprecher der zapatistischen Bewegung, den »Drogenkrieg« als eine »nationale Katastrophe« und »Eroberungskrieg« im Interesse der mexikanischen Eliten und des ausländischen Kapitals. Gleichzeitig werde dieser »Krieg von oben« von Repressionen gegen soziale Bewegungen und einem »Krieg gegen würdige Arbeit und gerechte Löhne« begleitet. Der Bevölkerung würden Angst, Unsicherheit und Verwundbarkeit durch Waffengewalt aufgezwungen.

Proteste kriminalisiert Längst nicht alle Toten sind Soldaten, Polizisten oder Angehörige des organisierten Verbrechens. Es gibt eine unbekannte Anzahl völlig unbeteiligter Menschen, die nicht selten durch die Hand der staatlichen Sicherheitskräfte ums Leben kommen. Eine Reihe von Menschen wird jedoch nicht zufällig angegriffen: Die von Menschenrechtsorganisationen häufig angeprangerte Kriminalisierung und Verfolgung der sozialen Proteste im gesamten Land geht weiter. Beunruhigend sind darüber hinaus die Angriffe gegen Menschenrechtsaktivisten, die in den letzten Jahren drastisch zugenommen haben. Nach Analysen des Hochkommissariats der UNO für Menschenrechte von 2010 fanden die meisten derartigen Vorfälle in den Bundesstaaten Chihuahua, Chiapas, Oaxaca und Guerrero statt, wobei 91 Prozent der Übergriffe straflos blieben. In der Amtszeit von Felipe Calderón sind mindestens 61 Menschenrechtsaktivisten umgebracht worden. Skandalöserweise vertritt die mexikanische Regierung die Auffassung, die Menschenrechtsorganisationen seien »ein Risiko für die Stabilität des Landes«, da sie Delinquenten schützten.

Die Brüder Alejandro und Antonio Cerezo, deren Menschenrechtsorganisation »Komitee Cerezo« im September 2012 mit dem Aachener Friedenspreis ausgezeichnet wurde, betonen den direkten Zusammenhang zwischen den sozialen Protestbewegungen und der Militarisierung im Land. Diese diene vor allem der Aufstandsbekämpfung und richte sich gegen Menschen, die gegen die extreme soziale Ungleichheit protestieren. »Wenn sie Angst haben, können die Leute noch weglaufen, doch der Terror in unserem Land paralysiert die Menschen«, so Antonio Cerezo im Interview.

Kampf um Ressourcen Die Militarisierung ist nur ein Aspekt eines größeren Projektes: der kapitalistischen Inwertsetzung und Ausbeutung von Mensch und Natur. Beispiele dafür finden sich auch in den südlichen Bundesstaaten Chiapas, Oaxaca und Guerrero, denn dort stehen die organisierten kleinbäuerlich-indigenen Gemeinden den ehrgeizigen Projekten von Regierung und Privatwirtschaft im Wege. Die Deutsche Menschenrechtskoordination Mexiko kam nach eingehender Analyse zu dem Schluß, daß die Menschenrechtsverletzungen in Südmexiko »überwiegend aus Interessenkonflikten um Land und Ressourcen« resultieren. Zu den zerstörerischen Vorhaben zählen neue Schnellstraßen, Großstaudämme, Bergwerke, Monokulturen, die Ausbeutung der Biodiversität und Tourismusanlagen, die in der Regel mit öffentlichen und privaten Mitteln vorangetrieben werden. Wehrt sich die von den Projekten betroffene Bevölkerung, reagieren die Eliten mit lang erprobten und immer weiter ausdifferenzierten Werkzeugen der Unterdrückung: Von aufgestachelten Regierungsanhängern jedweder Partei reicht die Palette der repressiven »Exekutive« über Paramilitärs, korrupte Funktionäre und Richter, die unterschiedlichen Polizeieinheiten bis hin zu der Bundesarmee, die in Mexiko seit 2000 Polizeitätigkeiten übernimmt, die eindeutig der Verfassung widersprechen.

Erst im September 2012 wurden in Chiapas die zwei paramilitärische Gruppen reaktiviert, um den zivilen Widerstand der zapatistischen Bewegung und der Organisation »Las Abejas« (Die Bienen) einzudämmen. So wurden in Nordchiapas zwei Gemeinden, die Unterstützungsbasen der EZLN sind, mit Hilfe des chiapanekischen Innenministers Noé Castañon vertrieben, ihre Ernten und ihr Land wurden geraubt.

In den USA werden nach wie vor weltweit die meisten Drogen konsumiert, doch die gewaltsamen Konflikte um Herstellung, Vertriebswege und Marktanteile sollen möglichst außerhalb des Landes bleiben. Gleichzeit ermöglicht die Militarisierung Mexikos eine verstärkte Abwehr der migrierenden Menschen aus Mexiko und Zentralamerika, die in Nordamerika auf eine bessere Zukunft hoffen, und einen Schutz vor linken Bewegungen.

Mexiko erhält im Rahmen der »Initiative Mérida« massive finanzielle Unterstützung durch die USA, die damit gleichzeitig den nordamerikanischen militärisch-industriellen Komplex subventionieren, da der südliche Nachbar als Gegenleistung große Mengen seiner Waffen und weiterer Ausrüstung in den USA erwirbt. Subcomandante Marcos rechnete 2011 in einem öffentlichen Brief vor, daß die mexikanischen Sicherheitskräfte zwischen 2007 und 2010 rund 30 Milliarden US-Dollar erhalten haben. Die USA bezeichnete er als Hauptprofiteur des Krieges: »Abgesehen von wirtschaftlichen Gewinnen und finanziellen Investitionen in Waffen, Munition und Ausrüstung – vergessen wir nicht, daß die USA Hauptlieferant beider Kampfparteien sind, der Behörden und des ›Verbrechens‹ –, hat dieser Krieg auch Zerstörung, Entvölkerung, Wiederaufbau und geopolitische Neuordnung zur Folge, von der sie profitieren.« Auch deutsche Unternehmen profitieren durch den Verkauf von Waffen, Fahrzeugen und Chemikalien vom Krieg im Land.

Eine rasche Lösung des vielschichtigen Konflikt ist derzeit nicht absehbar. Der zukünftige Präsident Mexikos, Enrique Peña Nieto von der autoritären Institutionellen Revolutionären Partei PRI, hat angekündigt, die Politik seines Vorgängers Calderón ab Ende 2012 fortzusetzen.

* Luz Kerkeling ist Soziologe und arbeitet als Bildungsreferent, Journalist und Filmemacher

Aus: junge Welt, Mittwoch, 24. Oktober 2012


Zurück zur Mexiko-Seite

Zur Drogen-Seite

Zurück zur Homepage