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Walpurgis-Hexe in Chiapas

Über zwei Jahre arbeitete Heike Jehnichen als Entwicklungshelferin in der mexikanischen Provinz

Von Uwe Kraus *

Die Stiefel noch voller Staub aus Chiapas und auf dem Kopf den Hut aus Mexiko -- so stehen Heike Jehnichen und ihr Mann Peter übermüdet in der Halberstädter Ar-beitsagentur. Eben noch in Lateinamerika, nun die Rückkehr in die Welt der deutschen Gründlichkeit.

Der Ausstieg auf Zeit dauerte länger. 2003 hat sich die ehemalige sachsen-anhaltische PDS-Landtagsabgeordnete, die mit ihrem Mann und Freunden 1999 den Verein »Corazón« gründete, für den Einsatz in Lateinamerika beworben. Die Liebe zu diesem Kontinent währt bereits über drei Jahrzehnte. Als Autodidaktin lernte sie Spanisch, betreute in Betrieben in Leipzig und Böhlen insgesamt 800 Kubaner. Reisen nach Lateinamerika waren für Jehnichen bis zur Wende passé. Dann gab es für sie keine Arbeit mehr.

1991 reiste sie nach Kuba. Später unterstützte sie soziale Projekte in Kuba, setzte sich für Straßenkinder in Venezuela und ein Frauenprojekt in Chiapas in Mexiko ein und besuchte 2000 zusammen mit ihrem Mann zapatistische Dörfer im Hochland von Chiapas.

»Nach zwei Monaten ändert sich der Blick«

Heike Jehnichen bewarb sich beim Evangelischen Entwicklungsdienst (EED). Sie wollte Entwicklungshelferin werden -- Fachkraft für die Internationale Entwicklungszusammenarbeit. Eine Linkspolitikerin unter den bis zu 7000 Bewerbern für jährlich rund 50 Stellen. »Ich wusste, dass es schwer sein würde. Man musste ja nicht nur nachweisen, schon ausländische soziale Projekte solidarisch unterstützt zu haben, sondern mit der Lebens- und Berufserfahrung zu einem ausländischen Projekt passen.« Jehnichen hatte beispielsweise eine evangelische Jugendgruppe sprachlich und mit vielen Informationen für den Kuba-Austausch fit gemacht.

Relativ schnell erhielt sie ihre Bestätigung und gehörten zum Pool derer, die auf ein passendes Projekt in Lateinamerika warteten. Über ein Jahr kreisten sie in der Warteschleife, besuchten Seminare. Ende Juni 2005 kam grünes Licht für den Einsatz in Chiapas, Mexiko. Auf sie wartete ein Projekt in San Cristóbal de las Casas, das sich dem Kampf gegen Gewalt gegenüber Frauen widmet. Eine Woche blieb Zeit, einen vorläufigen Strich unter das Leben in Deutschland zu ziehen: Einfamilienhaus ausräumen, Möbel verhökern, Berufstätigkeit beenden. Es folgten vier Wochen Ausreisekurs, vier Monate weitere Fachkurse. »Das ging hin bis zum Verhalten in Gefahrensituationen. Chiapas ist ja nicht gerade eine ruhige Ecke.«

Im November 2005 trafen die Jehnichens in Mexiko ein. »Die ersten Wochen sieht man das Leben im Ausland noch mit den Augen eines Touristen. Nach etwa zwei Monaten beginnt man, alles aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Es geht ja nicht darum, dass man seine eigenen Träume verwirklicht, sondern sich auf die Kultur und die Menschen vor Ort einzulassen. Da kann man nicht mit unseren kulturellen Vorstellungen kommen und glauben, die Welt drehe sich um die Achse Deutschland und Europa.«

Längst gehe es in Lateinamerika nicht mehr wie vor 20 Jahren darum, hinzugehen, die Ärmel hochzukrempeln und helfen zu wollen, weiß Jehnichen. »Gerade in Mexiko trifft man heute auf hochqualifizierte Leute. Als Entwicklungshelfer muss man genau in ein Projekt passen, um etwas Spezifisches geben zu können, was wirklich Unterstützung bringt, ohne dass etwas Gleichwertiges auch von Einheimischen erbracht werden könnte.«

Heike Jehnichen hat erlebt, dass der Nutzen der Entwicklungshelfer oft vor allem an der Geldsumme gemessen wird, die sie beschaffen. »Manchmal schluckt man schon, wenn man nicht als Freund oder Freundin betrachtet wird, sondern als privilegierte Person, die Geld rüberreicht.« Ihr Projekt COFEMO, das Feministische Kollektiv Mercedes Olivera, schien am Ende. Die finanzielle Unterstützung von Stiftungen in Deutschland und Kanada lief aus. Neue Geldgeber konnten kaum gefunden werden, da die Projektmitarbeiterinnen in mehrfacher Hinsicht nicht mehr das Vertrauen der Stiftungen besaßen.

»Wir mussten erst einmal einfühlsam deutlich machen, dass bei Spendern pünktlich und korrekt abgerechnet werden muss, auch, wenn das bürokratisch erscheint. Einige Projekte nehmen Geld zwar freudig entgegen, brechen dann aber den Kontakt zu den Spendern ab.« Deshalb hat Jehnichen mit den Frauen in ihrem Projekt viel über eine teilweise Selbstfinanzierung diskutiert und Vorschläge dazu gemacht. Nach fast zwei Jahrzehnten Finanzierung glaubten die Frauen, dass das so weitergehen müsse und sie Anspruch auf Finanzhilfe aus Europa hätten. Heike Jehnichen sprach mit ihnen über eine zumindest teilweise wirtschaftliche Selbstständigkeit, beispielsweise im Tourismus.

Viele Frauen kennen ihre Rechte nicht

Mit deutscher Logik kam sie nicht ohne weiteres ans Ziel. »In Mexiko wird mehr intuitiv gearbeitet. Wir haben eine Kampagne zur Umsetzung von Frauenrechten gemacht. Dafür habe ich einen parlamentarischen Vorschlag erarbeitet und mit ihnen zusammen Aktionen organisiert, Öffentlichkeitsarbeit betrieben, Finanzen besorgt, womit sie einverstanden waren. Aber als ich unsere Foren und Umfragen auswerten wollte, hatten sie anfangs kein besonderes Interesse daran.« Als sie jedoch mit meinem Mann und einer deutschen Freundin für die Frauen eine Walpurgisnacht organisierte, traf sie genau ihren Nerv. Auch in Mexiko ist die weise Hexe ein Frauensymbol.

Zur häuslichen Gewalt gegen Frauen kommt in Chiapas militärische, institutionelle und strukturelle Gewalt. »In Chiapas sind etwa 40 Prozent der Bevölkerung indianisch. Indianische Frauen sind dort mehrfach diskriminiert, vor allem aufgrund ihrer Armut, fehlender Bildung und ethnischer Abstammung. Die Gewalt gegen sie ist besonders hoch. Anzeigen von Frauen gegen Gewaltdelikte werden häufig verschleppt, meist als Kavaliersdelikte betrachtet, die Sachlage nach dem Motto umgedreht, dass Frauen ohne Gewalt nicht funktionieren würden.«

In Chiapas spricht man von «Feminicidios« - Morde an Frauen, deren Opfer vor der Tötung furchtbar gefoltert wurden. Diese Form der Gewalt hat zugenommen, bleibt in Chiapas oftmals straflos. Die Opfer leben zum Teil in Gemeinden weit entfernt von den Städten, sprechen ihre indigene Sprache, beherrschen aber nicht immer Spanisch, um überhaupt mit einem Amt kommunizieren zu können. Frauenprojekte schätzen, dass nur etwa sieben Prozent der Gewalttaten angezeigt, drei Prozent verhandelt werden und nur etwa ein Prozent erfolgreich für die Frauen ausgeht. Viele Frauen kennen ihre Rechte nicht.

Beispielsweise ist im Bundesstaat Chiapas der Schwangerschaftsabbruch unter drei Bedingungen nicht strafbar. Doch bisher wird ein Schwangerschaftsabbruch legal so gut wie nicht praktiziert - aufgrund fehlender Durchführungsbestimmungen und wegen des großen Einflusses der katholischen Kirche. Dennoch werden jede Menge »Abortos« durchgeführt - illegal, unter prekären Bedingungen. Viele Frauen sterben daran.

»Um dem ein Ende zu bereiten, sind wir im Frauenprojekt zu dem Schluss gekommen, dass das Gesetz unbedingt Durchführungsbestimmungen braucht«, erzählt Heike Jehnichen. »Diese habe ich nach Recherchen im In-und Ausland zusammen mit den Leitlinien für das medizinische Personal für Chiapas passend erarbeitet.«

Aber eine Zusammenarbeit mit Fachleuten oder Betroffenen sei kaum möglich gewesen. So gebe es eine Reihe von Ärzten, die aus Angst oder weil sie an illegalen Abortos viel Geld verdienen, nicht bereit sind, bei solchen Themen zu helfen. Und der katholische Bischof von San Cristóbal beschimpfte Parlamentarier oder andere, die legale Schwangerschaftsabbrüche und das Recht der Frau, selbst über ihren Körper und die Anzahl ihrer Kinder zu entscheiden, befürworten, als »Hitlerianos und Mörder«.

In Chiapas gibt es zahlreiche Militärbasen, von denen aus seit dem Aufstand der Zapatisten im Jahre 1994 noch immer Gewalt vor allem auf die Gemeinden der indianischen Bevölkerung ausgeübt wird. Seit September vergangenen Jahres bedrohen auch Paramilitärs insbesondere die zapatistischen indianischen Gemeinden in der Region um den »Agua Azul«. Das »Blaue Wasser« ist ein Touristenort im Urwald mit einem riesigen Wasserfall, der für umstrittene touristische Attraktionen erweitert werden soll. Dazu wird indigenes Land benötigt. Mit Hilfe von Paramilitärs, die mit Mord, Folter und Vergewaltigung drohen, sollen die Bewohner vertrieben werden.

Lernen auf Augenhöhe

Heike und Peter Jehnichen mussten bei ihren Kontakten zu politischen Akteuren vorsichtig sein, da sonst ihre Ausweisung gedroht hätte; ihre Arbeit wäre damit beendet worden. Unterstützt durch den Evangelischen Entwicklungsdienst, reiste Heike Jehnichen mit zwei Kolleginnen aus dem Frauenprojekt zum Erfahrungsaustausch nach Nicaragua und Honduras. In Managua begegneten sie der Frauenrechtlerin Sandra Ramos. Es sei gut gewesen, an einem Tisch zu sitzen, sagt Heike Jehnichen, auch wenn manche ihrer Auffassungen auseinander gingen. In dieser Zeit schrieb sie ein 90seitiges »Handbuch für politische Aktivisten in den Nichtregierungsorganisationen in Chiapas« in spanischer Sprache.

Für eine künftige Entwicklungspolitik stellt sie sich auch vor, dass »nicht nur immer wir aus dem Norden etwas bringen«. Sie wünscht sich, »dass viel mehr Fachleute aus dem Süden in die Länder des Nordens kämen, um hier in sozialen und ökologischen Projekten ihr Wissen einzubringen und um dabei die Arbeits- und Denkweise bei uns kennenzulernen. Erst wenn wir auf Augenhöhe voneinander lernen und einander unterstützen, kommt es zu einer wirklichen Kooperation.«

Heike Jehnichen lebt inzwischen wieder in Deutschland, besucht Seminare und hält Vorträge. Manchmal überkommt sie die Sehnsucht nach ihrer zweiten Heimat in Lateinamerika. »Dann wandern wir vor dem Einschlafen in Gedanken durch die Straßen von San Cristóbal.«

* Aus: Neues Deutschland, 29. April 2008


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