Sozialstrukturen und politische Macht in Mauretanien (1978-2005)
von Abdel Wedoud Ould Cheikh
Obwohl Elemente des modernen Staates bereits mit der Kolonialzeit nach Mauretanien kamen, konstatiert Mohamed Ould Cheikh, dass die Akzeptanz moderner staatlicher Werte in der Geschichte des unabhängigen Mauretaniens bisher marginal und widersprüchlich blieb. Sie sind kaum verwurzelt in einer Gesellschaft, in der die traditionelle soziale Organisation und der Islam nach wie ein großes Gewicht besitzen. Die komplexe Sozialstruktur, mit ihren Ethnien, Stämmen, Kasten und regionalen Besonderheiten, hat den Boden bereitet für einen andauernden staatlichen Autoritarismus, der für Ould Cheikh zudem Züge der arabisch-islamischen Sultanstradition aufweist.
Mauretanien hat heute etwa drei Millionen Einwohner, die sich über ein zu zwei Dritteln aus Wüstengebieten bestehendes Territorium von 2 Millionen Quadratkilometern verteilen. Obwohl die Altersangaben oft fragwürdig sind, handelt es sich dabei, der letzten Volkszählung [1] nach zu urteilen, um eine sehr junge Bevölkerung – ca. 45 % der Einwohner sind jünger als 15 Jahre. Die überwiegende Zahl der Einwohner lebt gegenwärtig entlang und südlich der Verkehrsader Nouakchot-Néma sowie an der Atlantikküste und im Minengebiet von Tiris; allein in den beiden Städten Nouadhibou und Noukchott lebt ein Drittel der mauretanischen Bevölkerung. Nahezu die Hälfte der Mauretanier lebt heute in einer Siedlung mit mehr als 5000 Einwohnern; noch zu Beginn der 1950er Jahre waren es kaum 3 %. Während die Bewohner früher ganz überwiegend von Ackerbau und Viehzucht lebten, hängen die meisten heute von Erwerbsquellen in den Städten ab. Stellten zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit (1960) die Nomaden noch etwa zwei Drittel der Bevölkerung dar, so wird ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung heute auf weniger als 5 % geschätzt. Aus den makroökonomischen und sozialen Indikatoren ergibt sich, dass Mauretanien zu den ärmsten Ländern gehört: Im Index der menschlichen Entwicklung des UN-Entwicklungsprogramms von 2006 rangierte Mauretanien auf Rang 140 von 179 aufgeführten Ländern, mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 63,3 Jahren (Platz 129), einem Alphabetisierungsgrad der Erwachsenen (über 15 Jahre) von 55,2 % (Platz 128), einer Einschulungsquote von 56,6 (Platz 157) und einem Pro-Kopf-Einkommen von 1890 US-Dollar (Platz 137).[2] Die Hauptexporteinnahmen stammen aus dem Verkauf von Roherz (vor allem Eisenerz) und aus dem Fischfang. Die 2006 begonnene Ausbeutung eines bescheidenen Offshore-Erdölvorkommens hat die Erwartungen nicht erfüllt: anstelle der erhofften 40 000 Barrel wurden 2008 kaum mehr als 10 000 gefördert.
Ethnisch-sprachliche Bevölkerungsgruppen
Das Staatsgebiet Mauretaniens ist das Ergebnis einer kolonialen Grenzziehung, das seither einige Veränderungen erfahren hat (u.a. durch die Annexion und die spätere Aufgabe des südlichen Teils der ehemaligen Spanisch-Sahara). Auf ihm leben verschiedene ethnisch-sprachliche Bevölkerungsgruppen: Mauren, Pulaar, Soninke, Wolof. Das jeweilige demographische Gewicht dieser Gruppen ist schwer zu bestimmen, da es zum einen seit der Unabhängigkeit Gegenstand einer mehr oder minder ausgeprägten offiziellen Zensur (im Namen der „nationalen Einheit“) ist und zum anderen im Zentrum einer demographisch-politischen Auseinandersetzung steht. Die aus der Kolonialzeit überkommenen informellen Praktiken vor allem im Hinblick auf die Besetzung der höheren Ämter im Staatsapparat und die von der Kolonialverwaltung hinterlassenen Zahlen [3] ergaben ein Bild, demzufolge in den 1960er Jahren ungefähr 80 % der mauretanischen Bevölkerung zu den Hassaniyya sprechenden Mauren, etwa 14 % zu den Pulaar-Sprechenden, 4 % zu den Soninke und zwischen 1 und 2 % zu den Wolof gehörten. Die am Ende der Kolonialzeit vorgelegten Zahlen zur „ethnischen“ Verteilung ließen ebenfalls ein größeres demographisches Wachstum der „schwarzafrikanischen“ Bevölkerungsgruppen im Vergleich mit der Gruppe der Mauren erkennen. Dieser Aspekt der demographischen Entwicklung sollte in seiner Wahrnehmung als „ethnische“ Konkurrenz – vor dem Hintergrund weiterer Motive politischer, wirtschaftlicher, „identitärer“ usw. Frustration – im nachkolonialen Mauretanien zu Über- und Unterschätzungen der demographischen (Selbst-)Bewertungen der konkurrierenden Gemeinschaften führen, bisweilen in einer spannungsgeladenen Atmosphäre. Die „schwarzafrikanischen“ Gemeinschaften, die traditionell überwiegend aus Ackerbauern bestehen, bewohnen die südlichen Regionen (Trarza, Brakna, Gorgol, Guidimakha), während die Mauren, die früher überwiegend als nomadische Viehzüchter lebten, die mittleren und nördlichen Teile Mauretaniens besiedelten.
Die seit Ende der 1960er Jahren aufeinander folgenden Klimakrisen hatten zur Folge, dass viele Menschen in die Gebiete an den Südgrenzen Mauretaniens zogen, wo sich die letzten nutzbaren ökologischen Nischen (Wasser, Weiden, Ackerflächen) befanden. Diese Verschiebung blieb nicht ohne Auswirkungen auf das von der Kolonialzeit ererbte, labile „ethnische“ Gleichgewicht. Insbesondere der Zustrom von maurischen Viehzüchtern und weiteren nach landwirtschaftlicher Erschließung der Region strebender Mauren hat zweifellos Ressentiments hervorgerufen, aus denen der „schwarzafrikanische“ Nationalismus im Verlaufe der sich seit Mitte der 1960er Jahre abzeichnenden und wachsenden „Rassenspannungen“ Kapitel geschlagen hat.
(Un-)Gleichheiten und Hierarchien
Die erwähnte „ethnische“ Diversität geht gleichwohl mit starken Ähnlichkeiten zwischen den verschiedenen „Ethnien“ einher. Dazu zählt zunächst und vor allem das gemeinsame Bekenntnis zu einem malikitisch-ash’aritischen, bruderschaftlich verfassten Islam und zu den von ihm getragenen Werten und pädagogischen Methoden.[4] Hinzu kommt eine weitgehend ähnliche traditionelle hierarchische Struktur, die zuweilen mit dem indischen Kastensystem verglichen wurde. Die Hierarchie und die soziale Abgrenzung der die ethnisch-sprachlichen Gemeinschaften Mauretaniens konstituierenden Gruppen wies traditionell eine klare Trennung zwischen unterschiedlichen Statusgruppen auf – von „Sklaven“ über aristokratische „Krieger“ und „Marabuts“ bis hin zu den verschiedenen unteren „Kasten“ der „Tributpflichtigen“, „Sänger und Magier“ (frz. griots), „Handwerker“, „ehemalige Sklaven“. Die französischen Kolonisierung und die gesellschaftlichen Veränderungen nach der Unabhängigkeit haben diese Strukturen natürlich stark erschüttert, und doch bestehen sie weiter. Das Kastendenken und die Verwurzelung der sozialen Hierarchien, die vor allem einhergehen mit klassifizierenden Beschränkungen der ehelichen Beziehungen und der nur mäßig positiven Wertschätzung von körperlicher Arbeit (oder zumindest bestimmter Kategorien von manueller Arbeit insbesondere unter den höheren Schichten der maurischen Gesellschaft) wirken fort.
In der maurischen Gesellschaft, zu der die Mehrheit der Bewohner Mauretaniens gehört, verbindet sich die vertikale Struktur der Statusgruppen mit einer horizontalen Unterteilung der Gesamtgesellschaft in „Stämme“ (qabîla, Pl. qabâ’il). Bei einem „Stamm“ handelt es sich, grob gesagt, um eine mehr oder minder große Gruppe von Menschen, deren Mitglieder sich untereinander durch Bande der Verwandtschaft, der Solidarität oder der Unterwerfung verbunden sehen, die – zumindest was den Kern (samîm) der Gemeinschaft angeht, auf einen gemeinsamen Vorfahren hinweisen, der dem „Stamm“ seinen Namen gegeben hat. Der Stamm ist auch eine hierarchische Struktur, in der die „Abhängigen“ (Sklaven, ehemalige Sklaven, Handwerker) an ihre tribalen „Herren“ gebunden waren, mit denen sie nolens volens auch solidarisch waren, zumindest in den Beziehungen nach Außen und insbesondere bei der Verteidigung des gemeinsamen Grundbesitzes des Stammes. Die Einheit des Stammes fand ihren Ausdruck in einer Reihe von gemeinsamen Vorrechten: der Anspruch auf Aneignung oder Kontrolle eines bestimmten Gebietes, Teilnahme der männlichen Erwachsenen an den kollektiven Pflichten des Stammes und an der Versammlung (jamâ’a), bei der die ganze Gemeinschaft betreffende Angelegenheiten beraten wurden. Das tribale System schien in aller Regel wenig geeignet, über eine stabile Führerschaft zu verfügen. Es offenbarte vielmehr einen deutlichen Hang zur Spaltung und zur Bildung autonomer Einheiten, die im Allgemeinen ihren Unabhängigkeitswillen unter Berufung auf eine besondere genealogische, mehr oder minder über die Konkurrenz zwischen „Cousins“ vermittelte Nähe äußerten.
Ethnien, Kasten, Stämme und weitere Einheiten
Obgleich sie heute weitestgehend von ihren regionalen Grundlagen und vom – sie zweifellos begünstigenden – Nomadenleben abgekoppelt sind, prägen die tribalen Identitäten weiterhin in mehr oder minder neu erfundener Form das kollektive Gedächtnis, bestimmen Feindschaften und Verbundenheiten und strukturieren Loyalitäten und Allianzen, die aus den Stämmen vor allem politische Einheiten machen. Der tribale Zusammenhalt dient nach wie vor dazu, den schwachen Staat zu ersetzen und hier und da gleichzeitig die Rollen der Polizei, der Versicherung, der sozialen Sicherung oder gar der Bank wahrzunehmen. Der tribale Zusammenhalt wird sogar reichlich mobilisiert, um das Handeln des Staates selbst zu ändern oder zu steuern: So wird der Stamm zur Lobby, zum Arbeitsvermittler, zum Makler etc. einer Gemeinschaft, die sich als solche zeigt.
Die „Ethnie“, die „Kaste“, der „Stamm“, mitunter erweitert um noch größere und unscharf bestimmte Einheiten auf geographischer Grundlage (die „Region“: „die Leute aus dem Westen“, ahl al-Gibla, im Gegensatz zu denen aus dem Osten, ahl ash-Sharg etc.) oder auf der Grundlage von Hautfarben (die „Schwarzafrikaner“ oder „Schwarzmauretanier“ gegen die „Mauren“; die „Schwarzen“ gegen die „Weißen“) – sie alle erscheinen als die wesentlichen Träger der Rangordnungskämpfe in der gegenwärtigen soziologischen Landschaft Mauretaniens.
Die „Ladenstruktur“ und die fromme Bourgeoisie
Die verfügbaren Angaben zur Beschäftigungslage in Mauretanien sind lückenhaft. Laut der Bevölkerungszählung von 2000 sind etwa 20 % der arbeitsfähigen Bevölkerung ohne Beschäftigung. Der überwiegende Teil der „modernen“ Arbeitsplätze gehört zur Verwaltung (ca. 90 000 Beschäftigte) und zum informellen Sektor (darunter insbesondere ein Teil des Bau- und Transportwesens). Bergbau, Fischereiindustrie und Kleinindustrie beschäftigten nach den Schätzungen vom Jahr 2000 etwa 25 000 Menschen. Im Verhältnis zur Gesamtzahl der „Beschäftigten“ (626 705), die überwiegend von Ackerbau und Viehzucht leben, stellt der „moderne“ Beschäftigungssektor nur einen kleinen Anteil dar, ohne entscheidendes Gewicht in der Gesamtgesellschaft. Doch auf Grund der zentralen wirtschaftlichen Bedeutung des „modernen“ Beschäftigungssektors und der vorherrschenden Position, die er im Hinblick auf die politische Macht und die städtische Welt besitzt, hat er gleichwohl für alle Bereiche der Gesellschaft eine Bedeutung erlangt, die über sein demographisches Gewicht hinausgeht.
Besonders verhängnisvoll in diesem Zusammenhang waren dennoch die Klimakrise der 1970er Jahre und der Saharakonflikt: Die Gesamtheit der „modernen“ Sektoren in Wirtschaft und Gesellschaft, die urbane Welt, wurden buchstäblich durch die Wellen der Opfer der Trockenheit verschlungen. Eine riesige Nachfrage nach Ressourcen, Infrastruktur, Arbeitsplätzen, Bildung, Gesundheitsfürsorge, Verwaltungs- und Justizleistungen lähmte schnell die kleine, durch die Kolonisierung hinterlassene Verwaltung. Die schnelle Arabisierung des Schulwesens seit 1973 hatte zur Folge, dass die öffentlichen Bildungsanstalten praktisch in das traditionelle Bildungswesen mit seinem hauptsächlich religiösen Inhalt und den entsprechenden Methoden zurückgeführt wurden. Der darauf folgende Prestigeverlust der bürokratischen Bourgeoisie sowie der zugleich erfolgende Fall ihrer Einkommen trugen zur schnellen Ausbreitung der Korruption bei. Zugleich kam es zu einem schleichenden Zusammengehen der Staatsbourgeoisie und der Welt der Händler, die vorher nur die Lieferanten einer allmächtigen Verwaltung waren. In der Folge wurde ganz Mauretanien zu einer Art großem Basar, der von allerlei Händlern veranstaltet wird, eine immense „Ladenstruktur“.
Aus diesem Zusammengehen ist eine neue, neotraditionelle und „fromme“ Bourgeoisie entstanden, die sich weniger der Modernisierung als vielmehr der Verwestlichung widersetzt. Eine konservative Modernisierung vollzieht sich also, die sich stark an islamischen Werten orientiert, wie sie vom nahöstlichen Salafismus propagiert werden: Es wird sich begnügt mit einer Rationalität, die zum (zuweilen übermäßigen) Gebrauch von technischen Gegenständen der Moderne (Wohnverhältnisse, Fahrzeuge, Elektronik, Lebensmittel, Kleidung, Kleingeräte etc.) passt. Entschieden abgelehnt wird dagegen alles, was hinsichtlich der Stellung der Menschen und ihrer sozialen und religiösen Verhaltensweise als „die Tradition“ gefährdend wahrgenommen werden kann: Autonomie des Denkens und Handelns, Stellung der herrschenden Gruppen, Lage der Frau usw. Die wachsenden Einkommen dieser neuen Bourgeoisie im Vergleich zum Rest der Bevölkerung dienen auch dazu, mehr oder minder großzügig Klientelgruppen „ethnischer“, „tribaler“ oder statusbezogener Art zu „schmieren“ und damit den Eindruck zu verstärken, diese Strukturen wären viel wirksamer als die „modernen“ Quellen von Reichtum und Prestige. Diese Umverteilung bildet eine der Grundlagen für die Retribalisierung der maurischen Gesellschaft in den letzten zwei Jahrzehnten. Für die Mehrheit sind die sozialen Gegensätze nicht mit Klassenwidersprüchen verbunden, sondern offenbar jene, die „Reiche“ und „Arme“ unterscheiden und nach den Schemata der „ethnischen“, „tribalen“ und statusbezogenen Zugehörigkeiten interpretiert werden. Im Prinzip müsste der Staat die enormen Einkommensunterschiede korrigieren; eine seiner offiziellen Aufgaben besteht ausdrücklich darin, die Folgen der Ungleichheiten zu begrenzen. Doch gerade der Staat ist zum Gegenstand von Raub und Inanspruchnahme geworden, und so trägt er offensichtlich dazu bei, Ungleichheiten entstehen und bestehen zu lassen.
Staat und Autoritarismus
Die Geschichte des Staates in Mauretanien ist nicht viel älter als die französische Kolonisierung. Das Territorium des gegenwärtigen Mauretanien war zwar für mehr oder weniger lange Zeiträume Teil größerer staatlicher Gebilde des mittelalterlichen Afrika (Ghana, Almoraviden, Mali), doch die Erinnerung daran war bereits vor der Ankunft der Franzosen verblasst. Mit der Kolonisierung kam an die Stelle der „geordneten Anarchie“ der vorkolonialen Gesellschaft ein mächtiges Monopol der „legitimen“ Gewaltanwendung im Dienste der Eroberer. 1920 wurde Mauretanien als Kolonie eingerichtet und vom Senegal aus verwaltet. Im Unterschied zu den schwarzen sesshaften Gemeinschaften im Süden des Landes, die einer „engeren“ Kontrolle durch die Verwaltung (Schaffung von Schulen, Konskription, Einkommenssteuer usw.) unterworfen wurden, wurde den maurischen Nomadenstämmen eine Art indirect rule à la française angetragen: den Stammesführern wurde die Zusammenarbeit mit den Behörden schmackhaft gemacht (vor allem durch eine Rückvergütung aus den Steuern, die sie einnehmen sollten), und die Stämme konnten ihre inneren Angelegenheiten relativ autonom regeln.
Dieses System blieb im Wesentlichen unverändert bis 1946, als bei den ersten Wahlen die „Einheimischen“ oder zumindest eine sehr kleine Minderheit von ihnen (weniger als 10 000 von den damals etwa 700 000 erfassten) einen Abgeordneten in die französische Nationalversammlung wählen sollten. Der Wahlgang vom 10. November 1946 (so auch die folgenden) war durch starke Einmischung von Seiten der Verwaltung gekennzeichnet und leitete eine Tradition der Manipulation ein, in der ethnische und tribale Zugehörigkeiten eine größere Rolle spielten als das Bekenntnis zu klar zuordenbaren politischen Doktrinen oder Ideologien. Gegen Ende er Kolonialzeit zeichnete sich gleichwohl eine Polarisierung zwischen der Regierungspartei (UPM/PRM) und Oppositionsbewegungen (Nahda, AJM) ab. Im Namen von Nationalismus und Kampf gegen die Unterentwicklung brachte die erste Regierung des unabhängigen Mauretaniens bereits im dritten Jahr der Unabhängigkeit eine Institutionalisierung der Einheitspartei (PPM) auf den Weg. Die Einrichtung der vertikalen Machtstrukturen dieser Staatspartei verlieh dem Generalsekretär / Präsidenten praktisch unbeschränkte Befugnisse, und sie sollte auch jene („ethnischen“ und „tribalen“) Kräfte zügeln, die die mauretanische Gesellschaft hätten auseinanderbrechen lassen können.
Die ersten Risse in dieser Gesellschaft brachen sehr bald auf eben diesem Hintergrund auf. Im Jahre 1966, nach dem die arabische Sprache im staatlichen Bildungswesen als obligatorisch eingeführt werden sollte, unterzeichneten Intellektuelle aus den schwarzen Gemeinschaften im Süden des Landes ein Manifest (das sog. „Manifest der 19“), in dem sie die Beibehaltung allein des Französischen forderten und den Hegemonieanspruch der „bidhân“ (d.h. der „weißen“ Mauren) anprangerten, die sehr viel weniger in Französisch gebildet und weniger „kompetent“ wären als die „Schwarzafrikaner“. Kurz darauf folgten „Rassen“-Unruhen mit mehreren Opfern.
Nach diesen Ereignissen sollten die gegensätzlichen Ethno-Nationalismen – der „schwarzafrikanische“ und der „arabische“ – zu Hauptthemen der politischen Mobilisierung und Zugehörigkeit in der mauretanischen Gesellschaft werden. Der Krieg um die Westsahara verstärkte die Verankerung Mauretaniens im Maghreb und machte damit die „Brücken“-Funktion zwischen Maghreb und subsaharischem Afrika, so wie sie seit der Unabhängigkeit vom ersten Präsidenten des Landes, Mokhtar Ould Daddah verkündet worden war, noch schwieriger. Der Krieg trug auch maßgeblich zum Sturz der von ihm seit 1960 geführten Zivilregierung bei, die im Juli 1978 durch eine Militärjunta ersetzt wurde. Der Putsch vom 10. Juli 1978 wurde wiederum durch einen Putsch am 12. Dezember 1984 beendet. Der damit an die Macht gekommene Oberst Moawiyya Ould Sid Ahmed Ould Taya übte seine ungeteilte Herrschaft aus, bis er seinerseits auf dieselbe Weise am 3. August 2005 abgesetzt wurde.
Das Militärregime, unter dem sich kaum dafür vorbereitete Offiziere an den Schaltstellen der Verwaltung abwechselten, gab auch der Korruption und dem immer augenscheinlicheren Zusammengehen von „Händlern“ und Bürokratie einen deutlichen Auftrieb. Die kurzen Amtszeiten im politisch-administrativen Apparat beförderten eine Skrupellosigkeit, die von der vox populi weitgehend „toleriert“ wurde, da sie darin eher ein positives, „männliches“ (at-tafagrîsh) Verhalten sah, im Gegensatz zur Schwäche, oder gar der „Torheit“ (vsayyid), die darin bestünde zu glauben, es gäbe tatsächlich so etwas wie ein „Gemeinwohl“.
Der Staatsstreich von 1978 setzte der Zeit der Einheitspartei ein Ende. Die Konkurrenz auf „tribalen“ und „ethnischen“ Grundlagen wurde zunehmend offener wiederhergestellt, nachdem sie das vorhergehende zivile Regime zügeln wollte. Jedoch hat diese Konkurrenz, die sich um die Beute des Staatsapparats und der über ihn zugänglichen Ressourcen dreht, nur zu Zwistigkeiten geführt, zu deren schwerwiegendsten Folgen die „ethnischen“ Massaker von 1989-90 und die Ausweisung mehrerer Tausend schwarzafrikanischer Bürger Mauretaniens in die Nachbarländer Senegal und Mali gehören.
Eine Institutionalisierung von politischem Pluralismus und Wahlen – die allerdings kaum die autoritäre und stark personalisierte Machtausübung antastete – erfolgte erst seit 1991. Im Zeitraum von neun Monaten, zwischen Juli 1991 und April 1992, erlebte Mauretanien den Übergang von einem Militärregime, zu einem Komplex von institutionellen Rahmen und Mechanismen nach europäisch-amerikanischen demokratischen Vorbildern. Die Schnelligkeit dieses Übergangs, mit seinen beschränkten Auswirkungen auf das politische Führungspersonal und dessen Verhalten, legen die Vermutung nahe, dass es dabei eher um formale Zugeständnisse an die neue liberale Hegemonie in der Welt als an einen starken Druck zugunsten von Pluralismus auf lokaler Ebene ging.[5]
In Mauretanien gibt es, wie erwähnt, keine tief verwurzelte Tradition von Parteien. Die Parti du Peuple, die das Land fünfzehn Jahre lang (1963-1978) angeblich „im Griff“ hatte, ist nach dem Staatsstreich von Juli 1978 wie ein Kartenhaus zusammengefallen. Die PRDS, die im Dienst von Oberst Taya und den Interessen seiner Umgebung lange dieselbe Funktion erfüllte, erlebte nach dem Putsch vom 3. August 2005 das gleiche Schicksal. Der revolutionäre Marxismus hat in den 1970er Jahren einen Einfluss ausgeübt, von dem noch einige mehr oder weniger deutliche Spuren in bestimmten Parteien und Bewegungen erkennbar sind. Der Salafismus hat in den letzten 15 Jahren einen deutlichen Durchbruch in der politischen Landschaft Mauretaniens erzielt, auf den Überresten der Bindungen an Bruderschaften und der verschiedenen Ausprägungen des arabischen Nationalismus. Die politischen Parteien werden mehr mit ihren führenden Persönlichkeiten als mit den von ihnen vertretenen Anschauungen und „Programmen“ identifiziert. Sie erscheinen daher eher als mehr oder weniger breite und kurzlebige Zusammenschlüsse auf der Basis von persönlichen Interessen und Ambitionen oder von übereinstimmenden Verweigerungs- oder Protesthaltungen, die durch die wichtigsten Faktoren des wahrgenommenen und / oder imaginierten politischen Feldes bestimmt werden – „die Region“, „die Ethnie“, „der Stamm“.
Die sultanische Dimension
Gleichwohl sind die seit 1991 organisierten Wahlgänge keineswegs ohne Bedeutung. Auch wenn sie nicht zu einer deutlichen Veränderung der Machtverhältnisse geführt haben, so sind sie doch nicht als reine Inszenierung anzusehen. Die Wahlkampagnen wie auch die Provinzreisen des Präsidenten Oberst Ould Taya, die zu Mitteln der „direkten Autokratie“ geworden waren, offenbarten etwas sehr Wesentliches in der Beschaffenheit des mauretanischen Staates. Sie verbanden gewissermaßen etwas, was ich fast als seine sultanische Dimension bezeichnen möchte, und seiner Suche nach einer rechtlich-rationalen Legitimität.
Der mauretanische Staat ist letztlich das Ergebnis einer Verpflanzung, die vor nicht langer Zeit erfolgte und noch immer Schwierigkeiten mit ihrer Verwurzelung hat. Ein wesentlicher Teil der Vorbilder und Vorstellungen, die seine Praktiken und Fehlleistungen bestimmen, erinnert in der Tat auch an bestimmte Züge der arabisch-islamischen Sultanstradition, so problematisch der Verweis auf diese auch ist. In dieser Tradition konzentriert der Souverän alle Befugnisse und ihrer Symbole in seiner Hand. Er allein personifiziert den Staatsapparat. Wenn der Sultan auch auf unzählige Untergebene zurückgreift, um das Getriebe seines Polizeiapparates und seiner Steuerbehörde am Laufen zu halten, so sind jene kaum in einer wirklichen Bürokratie organisiert. Das Land und all seine Ressourcen gehören allein dem Souverän oder jemandem, dem er davon etwas zu verpachten beliebte. Die Wirtschaft ist überwiegend eine Raubwirtschaft. In diesem Staat, der stärker als die Gesellschaft ist und der in erster Linie auf der Furcht beruht, wird keinerlei Ausdruck politischer Autonomie toleriert.
Es wäre natürlich ungerechtfertigt zu behaupten, dass all diese Züge in den mauretanischen Regierungen der letzten dreißig Jahre wiederzufinden wären. Betonen möchte ich aber, wie marginal und widersprüchlich die Aufnahme und Einbeziehung moderner staatlicher Werte in die Führung des mauretanischen Staates gewesen ist. Zwar gibt es ein vermutlich universelles Streben nach Gerechtigkeit unter den Mauretaniern, doch das Gewicht der traditionellen sozialen Organisation und des Islams, die sehr geringe Wirkung von mit dem Kapitalismus verbundenen Formen der Arbeitsteilung und die Entwicklung und der gegenwärtige Zustand des Bildungssystems bringen sie kaum dazu, eine liberale Demokratie nach europäischem Vorbild zu fordern und anzunehmen. Die Verbindung von Tradition und Religion ist wenig geeignet, eine Meinungsvielfalt hervorzubringen. Sie stellt hingegen ein ausgezeichnetes Betätigungsfeld für jegliches autokratischen Unternehmen dar, das sich auf die „gute Werte“ beruft.
Die vorangegangenen Bemerkungen bezogen sich im Wesentlichen auf die lange, 21 Jahre währende Präsidentschaft von Oberst Moawiyya Ouild Sid Ahmed Ould Taya, die mit dem Staatsstreich vom 3. August 2005 ein Ende gefunden hat. Nach einer zweijährigen Übergangszeit, die direkt von den Militärs verwaltet wurde und in deren Verlauf eine neue Verfassung angenommen und neue Repräsentativorgane (Parlament und Senat) gewählt wurden, hat dieser Putsch letztlich zur Wahl eines zivilen Präsidenten geführt. Der neue Präsident war gleichwohl nur der Vasall einer Gruppe von Militärs, die entschlossen war, seinem wichtigsten und als weniger lenkbar geltenden Herausforderer den Weg zum obersten Staatsamt zu versperren. Der neue zivile Präsident, Sidi Ould Sheikh Abdallahi, wurde am 6. August 2008 schließlich von jenen Militärs wieder abgesetzt, die seine Kandidatur organisiert hatten. Der Anführer dieser Putschisten, General Mohamed Ould Abdel Aziz, hat sich im Juli 2009 selbst an die Spitze des mauretanischen Staates „wählen“ lassen – nach einem reichlich chaotischen Jahr, in dem er die Grundlagen einer autoritären Macht gelegt hat, die wohl nicht aufzugeben bereit ist. Alles deutet darauf hin, dass er eine neue „sultanische“ Ära einleitet.
Anmerkungen-
Ich beziehe mich hier wie bei den folgende Angaben auf die Ergebnisse des Recensement Général de la Population, Nouakchott: ONS, 2004.
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http://hdrstats.undp.org/2008/countries/country_fact_sheets/cty_fs_MRT.html
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Siehe vor allem: Francis de Chassey, Contribution à une sociologie du sous-développement. L’exemple de la République Islamique de Mauritanie. Diss., Université de Paris V.
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Siehe dazu: Abdel Wedoud Ould Cheikh, Nomadisme, islam et pouvoir politique dans la société maure précoloniale. Diss., Université de Paris V.
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Siehe ausführlicher dazu: A. W. Ould Cheikh, „Des voix dans le désert. Sur les élections de l’ère ‚pluraliste’“, in: Politique africaine 55 (Oktober 1994), S. 31-39.
* Abdel Wedoud Ould Cheikh, Professor für Anthropologie, Universität Paul Verlaine Metz. Aus dem Französischen (und Kürzungen) von Lutz Rogler.
Dieser Beitrag erschien in: INAMO (Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten e.V.), Heft Nr. 61/Frühjahr 2010, 16. Jahrg., Seiten 4-8
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