Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Ohne den König geht nichts"

Viele Marokkaner halten die neue Verfassung trotz deren Möglichkeiten für unzureichend

Von Alfred Hackensberger, Tanger *

Trotz neuer Verfassung gehen viele Marokkaner weiter auf die Straße, protestieren gegen Korruption, Ungleichheit und für mehr Demokratie.

»Wir geben keine Ruhe«, sagt Mohammed, ein Jurastudent, »Wir lassen uns mit Reformen, die von oben diktiert wurden, nicht abspeisen.« Mit Reformen meint der angehende Anwalt die neue Verfassung, die am 1. Juli in einem Referendum mit 98 Prozent der Stimmen angenommen wurde. Die Verfassung war von einer von König Mohammed VI. eingesetzten Kommission aus Vertretern von Parteien, Gewerkschaften und Organisationen erarbeitet worden.

»Sie ist weder demokratisch noch kommt sie vom Volk«, wirft Adibah, eine andere Demonstrantin, ein und fügt hinzu: »Unsere Forderungen nach einer parlamentarischen Monarchie wurden nicht erfüllt. Wir leben weiter in einer absoluten Monarchie.«

Durch die Verfassungsänderung bekommen Parlament und Regierung größere Machtbefugnisse als bisher. Der Premierminister kann sein Kabinett nach Gutdünken benennen und auflösen, was vorher dem König vorbehalten war, der im Übrigen auch nicht mehr als »heilig« bezeichnet wird. In Zukunft sollen Frauen zu ihrer bisherigen »politischen Gleichheit« auch die zivile und soziale garantiert bekommen. Amazigh wird neben Arabisch die zweite offizielle Sprache. Amazigh sprechen die Berber, die 8,4 Millionen der 31,5 Millionen Marokkaner ausmachen.

Gegen diese Neuerungen haben die jungen Menschen, die zur Bewegung des 20. Februar gehören und seit Monaten jeden Sonntag demonstrieren, grundsätzlich nichts einzuwenden. Was ihren Argwohn und Zorn erregt, ist die Tatsache, dass der König weiterhin oberster religiöser Führer und Befehlshaber der Truppen bleibt, den Regierungschef ernennt sowie als »entscheidender Schlichter zwischen politischen und gesellschaftlichen Gruppen« fungiert. »Damit bleibt alles beim Alten«, meint Adibah, die als Ingenieurin seit zwei Jahren einen Job sucht. »Ohne den König geht nichts.« Dabei übersieht die 27-Jährige, dass ein Teil der Verfassungsreformen aus Spanien entlehnt sind, das sicher nicht unter dem Verdacht einer absoluten Monarchie steht. Die Rechte Mohammeds VI. unterscheiden sich nicht wesentlich von denen des Königs von Spanien. Letzterer ist Staatsoberhaupt, oberster Chef der Armee, Berater der Regierung, ratifiziert alle Gesetze, nominiert und ernennt den Premier. Regent Juan Carlos gilt seit vielen Jahren als väterlicher Mentor Mohammeds VI. Der hatte ihn erst im Mai dieses Jahres für einige Tage zu einem Privatbesuch nach Marrakesch eingeladen.

Die neue Verfassung könnte für Marokko tatsächlich einen signifikanten Wechsel bedeuten. »Es kommt darauf an, wie sie durchgesetzt wird«, meint Marina Ottaway vom Carnegie Endowment Institut. »Das Parlament muss Gesetze beschließen, die den politischen Kräften möglichst großen Spielraum geben.« Das sei aber kein Problem der neuen Verfassung, sondern vielmehr eines der politischen Parteien Marokkos. »Sie sind schwerfällig, intern undemokratisch, mit mangelnder Erneuerung in der Führungsschicht.«

Seit dem Referendum kann die Bewegung des 20. Februar nicht mehr so viele Anhänger für ihre Demonstrationen mobilisieren. Am Sonntag waren es knapp 10 000 in Rabat und Casablanca. In den Monaten zuvor gingen landesweit mitunter Hunderttausende auf die Straße. »Wer heute noch protestiert, das sind die Gruppen, die zum Boykott des Referendums aufgerufen haben«, erklärt Nabil Laroussi, ein Anwalt aus Tanger, der sich für Menschenrechte einsetzt. »Das sind die jungen Leute des 20. Februar, meist Kinder der Mittel- und Oberschicht, die die Unterstützung ihrer Eltern haben. Dazu kommt die Linke, meist kleinere Gruppen, aber auch die Vereinigte Sozialistische Partei sowie verschiedene Menschenrechtsorganisationen. Und nicht zu vergessen die Islamisten, über die man sich berechtigte Sorgen machen kann, was die Zukunft der Demokratie betrifft.«

Der Anwalt meint mit »Islamisten« in erster Linie »Al Adl Wal Ihsan«, die Bewegung für Gerechtigkeit und Spiritualität, die in Marokko offiziell verboten, aber geduldet ist. Sie will ein Kalifat errichten, Alkohol und ausländische Sprachinstitute verbieten.

»Die Verfassung ist beschlossene Sache«, führt Laroussi weiter aus. »Da kann man nichts mehr machen. Die Opposition muss sich in Zukunft auf die akuten Probleme Marokkos, wie Korruption und soziale Ungerechtigkeit, konzentrieren. Das kann der gemeinsame Nenner dieser heterogenen Protestbewegung sein. Ihre Chance zu überleben, aber auch eine große Chance für die Demokratie.«

* Aus: Neues Deutschland, 13. Juli 2011


Zurück zur Marokko-Seite

Zurück zur Homepage