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98,5 Prozent für Marokkos Verfassung

Befugnisse des Königs werden eingeschränkt

Mit einer Zustimmung von 98,5 Prozent ist am Freitag (1. Juli) in Marokko eine neue Verfassung gebilligt worden.

Die neue Verfassung soll die Macht des seit 1999 regierenden Königs Mohammed VI. einschränken. Der Monarch hatte das Referendum im März mit der Absicht angekündigt, die von den Revolten in anderen arabischen Ländern inspirierte Protestbewegung im eigenen Land einzudämmen. Die Annahme des neuen Grundgesetzes fand international breite Zustimmung. Kritiker im Lande zeigten sich dagegen enttäuscht, dass der König die wichtigsten Fäden der Macht weiterhin fest in der Hand halten werde.

US-Außenministerin Hillary Clinton, Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy, Spaniens Ministerpräsident José Luis Rodríguez Zapatero und die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton äußerten sich erfreut über den Ausgang des Referendums. Man unterstütze die Anstrengungen des marokkanischen Volkes und der politischen Führung, den Rechtsstaat und Menschenrechtsstandards zu stärken, sagte Clinton in einer Erklärung am Wochenende.

Die nach einem neuntägigen Wahlkampagne angenommene Verfassung ersetzt das 1996 verabschiedete Grundgesetz. Die Reform sieht vor, dass der Monarch künftig nicht mehr den Ministerpräsidenten auswählen darf, sondern den Kandidaten der stärksten Partei zum Regierungschef ernennen muss. Außerdem darf er den Verteidigungsminister, den Innenminister, den Außenminister und den Kultusminister nicht mehr ohne Rücksprache mit dem Ministerpräsidenten bestimmen. Zudem wird er keine Minister mehr ohne Zustimmung des Premiers entlassen können. Der König behält aber die Macht über die Armee, das Justizsystem und die muslimischen Einrichtungen. Auch darf er weiterhin das Parlament auflösen.

Die Regierungsallianz und die gemäßigten Islamisten der Opposition begrüßten das Ergebnis der Volksabstimmung. »Heute haben wir das Kapitel einer partizipativen Demokratie aufgeschlagen«, sagte Regierungssprecher Dschalid Naciri.

* Aus: Neues Deutschland, 4. Juli 2011


Konstitutionelle Kosmetik

Von Mattes Dellbrück **

Man möge sich die Reaktionen vorstellen, wäre dieses Abstimmungsergebnis aus, sagen wir, Belorussland vermeldet worden. 98,49 Prozent der Wähler votierten jetzt in Marokko angeblich für eine Verfassungsreform, die zwar die Befugnisse von Ministerpräsident, Parlament und Justiz etwas erweitert, König Mohammed VI. aber weiterhin die zentrale Rolle im politischen System des Landes einräumt. Er bleibt Oberbefehlshaber der Armee, kann das Parlament auflösen und hat das letzte Wort in rechtlichen wie religiösen Fragen. Er allein bleibt zuständig für die innere und äußere Sicherheit. Doch der Westen ist nach dem Referendum voll des Lobes, von Hillary Clinton bis Guido Westerwelle. Hofft man doch, dass es der Monarchie auf diesem Wege gelinge, ein massiveres Übergreifen der prodemokratischen Protestwelle in der arabischen Welt auf Marokko und damit einen weiteren Brandherd zu verhindern.

So kam die lauteste Kritik aus dem Lande selbst, obgleich dort versucht wurde, unliebsame Diskussionen zu unterbinden. Die Demokratiebewegung »20. Februar« hat die Volksabstimmung, die sie maßgeblich mit erzwungen hat, boykottiert, weil die zugebilligte Abtretung königlicher Machtbefugnisse lediglich konstitutionelle Kosmetik sei. Fraglos agiert der Monarch moderater als so mancher Despot in der Region, die Menschenrechts- wie die soziale Lage sind andernorts durchaus schlimmer. Und nach wie vor ist Mohammed VI. für viele das Symbol des Glaubens und des Staates – selbst wenn er mit der neuen Verfassung nicht mehr als »heilig« gilt. »Unantastbar« aber bleibt er. Wirkliche Reformen sehen anders aus. In Marokko herrscht letztlich weiter der Absolutismus.

** Aus: Neues Deutschland, 4. Juli 2011 (Kommentar)


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